25.08.2017

Die Macht der EZB und die Abwicklung der Demokratie

Analyse von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Kiefer via Flickr / CC BY-SA 2.0

Das Bundesverfassungsgericht kritisiert die Rolle der Europäischen Zentralbank. Aber die Regierung hat kein Interesse an einer Debatte über deren undemokratische Rolle.

Auf Grundlage des im Januar 2015 beschlossenen und im folgenden März begonnenen Extended Asset Durchrase Programm (APP) hat die EZB inzwischen mehr als 2 Billionen EUR in die Finanzmärkte gepumpt. Den Löwenanteil dieses Anleihenkaufprogramms bilden Staatsanleihen der Eurostaaten mit immerhin mehr als 1,6 Billionen EUR. Es wird damit gerechnet, dass dieses bis zum Ende des Jahres mit einem monatlichen Volumen von 60 Mrd. EUR laufende Programm darüber hinaus verlängert wird. Beim Start vor mehr als zwei Jahren begründete die EZB das Programm mit dem Ziel, einer Deflation entgegenzutreten. Damals befand sich die Wirtschaft der Eurozone in einer kritischen Lage, denn nach zwei Jahren rückläufigem Wirtschaftswachstum hatte sich 2014 nur eine langsame wirtschaftliche Erholung eingestellt. Nun wird das geldpolitische Ziel verfolgt, die Inflation auf eine Marke von 2 Prozent zu heben.

Das Programm ist seit Beginn aus rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Sicht äußerst umstritten. Aufgrund der Verfassungsklagen des Finanzprofessors Markus Kerber, des CSU-Politikers Peter Gauweiler und des ehemaligen AfD-Vorsitzenden und heutigen Europaparlamentariers der Liberal-Konservativen Reformer (LKR) Bernd Lucke, hat sich nun auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in die Diskussion eingeschaltet. In seinem am 15.8. veröffentlichten Beschluss hat das BVerfG zwar keine Entscheidung gefällt, sondern die Beschwerden zur Prüfung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergeleitet, dennoch aber erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Anleihenkaufprogramms genährt. Konkret hat das BVerfG „Zweifel“ geäußert, ob der Ankauf öffentlicher Anleihen mit dem gesetzlichen „Verbot der monetären Staatsfinanzierung vereinbar“ sei. Zudem könnte der Ankauf „vom Mandat der EZB nicht gedeckt“ sein, da es möglicherweise als eine „überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme“ einzustufen sei. Die Wirtschaftspolitik sei aber eine „primär den Mitgliedsstaaten zustehende“ Aufgabe, also eine Aufgabe demokratisch legitimierter Politik.

In seiner Begründung macht das BVerfG unmissverständlich klar, dass bereits die Übertragung der geldpolitischen Verantwortung an eine von der Politik unabhängige Institution vom demokratischen Prinzip nicht gedeckt ist. Dabei verweist es auf Artikel 20 des Grundgesetzes, wonach „alle Staatsgewalt vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen ausgeht“ und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Unabhängige Zentralbanken bedeuten daher „eine Durchbrechung der Anforderungen an die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen“, denn dem Volk wird die Möglichkeit einer souveränen Entscheidung genommen, erinnert das BVerfG unter Bezugnahme auf seinen Vorlagenbeschluss zu geldpolitischen Outright-Geschäften aus dem Jahr 2014. Die Verfassungsrichter begründen daraus die Notwendigkeit „restriktiver Auslegung des Mandats“ der EZB und betonen, dieses sei „auf den Bereich einer vorrangig stabilitätsorientierten Geldpolitik beschränkt und lässt sich nicht auf andere Politikbereiche übertragen.“ 1

„Der Einfluss der EZB untergräbt die Demokratie.“

Das BVerfG führt weiter aus, dass das Anleihenkaufprogramm „über die erklärte währungspolitische Zielsetzung hinaus“ gehe „und unabhängig vom Grad seiner Zielerreichung erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen“ habe. 2 Dies verschärft aber das Legitimationsproblem der EZB, da damit eine politisch unabhängige Institution nicht nur die Geldpolitik verantwortet, sondern erhebliche wirtschaftspolitische Effekte von ihr ausgehen. Die Verfassungsrichter verweisen in diesem Zusammenhang auf den Eingriff in die Bilanzstrukturen der Geschäftsbanken durch das Anleihenkaufprogramm. So würden auch risikobehaftete Anleihen von Mitgliedstaaten in großem Umfang aus deren Bilanzen in die Bilanzen von EZB und nationalen Zentralbanken übertragen. Dies verbessere die wirtschaftliche Situation der Banken erheblich und erhöhe ihre Bonität. Außerdem verbessere das Anleihenkaufprogramm die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, wodurch diese sich zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können, als dies ohne das Programm der Fall wäre. 3

Wie enorm diese Effekte sind, analysierte die Bundesbank kürzlich in ihrem Monatsbericht. Seit 2008 haben die Euroländer mit Hilfe der Zentralbankpolitik eine Zinsersparnis von einer Billion Euro erreicht. Die Verfassungsrichter bemängeln nicht etwa die naturgemäß wirtschaftspolitischen Effekte geldpolitischer Maßnahmen. Sie sehen vielmehr so erhebliche wirtschaftspolitische Effekte, dass der Einfluss der EZB möglicherweise in keinem hinnehmbaren Verhältnis zu dem engen geldpolitischen Mandat steht und dadurch die Demokratie untergräbt.

Trotz des Versuchs einer Abgrenzung zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik zeigen die Ausführungen der Verfassungsrichter, dass Geldpolitik und Wirtschaftspolitik kaum voneinander zu trennen sind. Beide sind eng miteinander verwoben und nicht zufällig ist die Geldpolitik definitionsgemäß nur ein Teilbereich der Wirtschaftspolitik. Die Frage nach Bewertung der Verhältnismäßigkeit ist eher belanglos. Vielmehr weisen die Ausführungen der Verfassungsrichter darauf hin, dass das Anleihenkaufprogramm die Illusion einer Trennung von Geld- und Wirtschaftspolitik zerstört hat. Die wirtschaftspolitischen Effekte der geldpolitischen Aktivitäten wirken sich so massiv auf Wirtschaft und Gesellschaft aus, dass die Macht der unabhängigen EZB zu einer zunehmenden Belastung für die Demokratie wird.

„Die Zentralbanken sind seit Ausbruch der Finanzkrise zu einem immer bedeutenderen wirtschaftspolitischen Akteur geworden.“

Mit ihrem Beschluss haben die Verfassungsrichter die brisante Frage der demokratischen Legitimation wirtschafts- und geldpolitischer Entscheidungen ins Schaufenster gestellt. Die Übertragung des geldpolitischen Mandats an eine unabhängige Zentralbank gibt dieser einen kaum zu unterschätzenden wirtschaftspolitischen Einfluss. Dieser zeigt sich nicht nur im Anleihenkaufprogramm, sondern zieht wie ein roter Faden durch das gesamte Krisenmanagement der EZB seit 2008. So war es an vielen kritischen Wegmarken der Eurokrise die EZB, die durch geldpolitische Entscheidungen die Eurozone gerettet hat, während die Regierungen die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente nicht eingesetzt haben.

Die aktuelle Geldpolitik der EZB mitsamt dem Anleihenkaufprogramm entfaltet wirtschaftspolitische Wirkungen in ganz unterschiedliche Richtungen, die sogar noch weit über das hinausgehen, was die Verfassungsrichter thematisieren. Das Anleihenkaufprogramm hat den Euro-Kurs gedrückt und dadurch die Exporte aus der Eurozone begünstigt. Dies hat vor allem die deutsche Wirtschaft angekurbelt, die innerhalb der Eurozone den größten Anteil der Wirtschaftsleistung in Länder außerhalb der Eurozone exportiert. Hinzu kommen die fiskalischen Effekte durch die Zinseinsparungen in den Eurostaaten. Neben den Staaten verschaffen die niedrigen Zinsen auch den von Krediten abhängigen Unternehmen und privaten Haushalten finanzielle Erleichterungen. Dann kommen noch gesellschaftliche Verteilungseffekte, etwa durch das Aufblasen der Finanzmärkte und die Entwicklung der Vermögenspreise, hinzu, die die Wohlhabenden begünstigen. Für die Erwerbstätigen hingegen ergeben sich auch in Deutschland aufgrund des finanzmarktgetriebenen Wachstums mit rückläufigen Produktivitätssteigerungen nur geringe Reallohnerhöhungen und entsprechend geringe Wohlstandseffekte. Ganz und gar negative Verteilungseffekte ergeben sich für Sparer und Lebensversicherte.

Eigentlich sind die Zentralbanken bereits mit Ausbruch der Finanzkrise 2008, wohl aber schon in den Jahrzehnten davor zu einem immer bedeutenderen wirtschaftspolitischen Akteur geworden. Der Grund dafür ist Folgender: Da expandierende Finanzmärkte eine immer größere Rolle dabei spielen, die Schwäche der wertschöpfenden Wirtschaft in den westlichen Industriestaaten zu kompensieren und Wachstumsimpulse zu setzen, haben sich die früher typischen Konjunkturkrisen von der Wertschöpfungsebene auf die Ebene der Finanzwirtschaft verlagert. Hier kommt den Instrumenten der Zentralbanken zur Krisenvermeidung und -beherrschung große Bedeutung zu.

„Dem Volk wird die Chance genommen, wirtschaftliche Entwicklungen über gewählte Repräsentanten zu beeinflussen.“

Die vom BVerfG bemängelte „Durchbrechung der Anforderungen an die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen“ durch die Geldpolitik hat offenbar eine weit größere Dimension, wenn man deren enorme Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse berücksichtigt. Dem Volk wird im Gegensatz zu den Formulierungen im Grundgesetz die Chance genommen, einen relevanten Teil der wirtschaftlichen Entwicklung, die auf die eigenen Lebensumstände erhebliche Auswirkungen hat, über gewählte Repräsentanten zu beeinflussen. Die EZB ist von politischer Einflussnahme weitgehend abgeschirmt, dem Wahlvolk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und nicht abwählbar.

Über die Geldpolitik erfolgt demnach eine schleichende Herauslösung von Entscheidungskompetenzen aus dem demokratischen Entscheidungsprozess auf die politisch unabhängige und von Technokraten geführte EZB. Dieser Verantwortungstransfer auf EU-Institutionen wird auf wirtschaftspolitischer Ebene aktiv von der europäischen Politik vorangetrieben, beispielsweise durch den inzwischen erfolgten Aufbau der ersten Säulen der Bankenunion. Die Bankenunion führt zu einer Verschiebung der politischen Verantwortung für Bankenliquidationen und -restrukturierungen sowie deren Folgen von den nationalen Regierungen zur EZB beziehungsweise EU-Institutionen, was vielen nationalen Politikern nicht ungelegen sein dürfte. Überall in Europa steckt die Politik heute in einer Legitimationskrise. So ist vor allem in Krisenzeiten verlockend, politische Verantwortung von sich zu schieben und schwierige Entscheidungen lieber auf entrückte und schwer durchschaubare EU-Institutionen zu verlagern, anstatt dem Wähler für im Zweifel unpopuläre Maßnahmen Rechenschaft abzulegen.

So kommt es den europäischen Regierungen unter dem Strich sehr zu pass, dass die EZB die geldpolitische Verantwortung und ein zunehmendes Maß an wirtschaftspolitischer Verantwortung übernimmt. Die Bundesregierung hält sich aus der Kommentierung der EZB-Maßnahmen mit dem Argument der Rücksichtnahme auf die Unabhängigkeit der EZB zurück und überlässt es einzelnen Parlamentariern, der Opposition und Ökonomen über deren negative Effekte wie die Konsequenzen der Niedrigzinsen für Sparer und Lebensversicherte zu schimpfen. So immunisiert sie sich gegen Kritik oder Unmut der von dieser Politik Betroffenen, da sie jederzeit auf ihre fehlende Handlungskompetenz verweisen kann.

„Es ist alarmierend, dass führende Volksvertreter mit der sich vollziehenden Aushöhlung des demokratischen Prozesses zu haben scheinen.“

Die positiven Effekte der EZB-Geldpolitik, wie die konjunkturelle Wirkung durch die Stabilisierung verschuldeter Staaten, Unternehmen und privater Haushalte oder durch den niedrigen Eurokurs reklamiert die Regierung hingegen gerne für sich. Nicht zuletzt sorgen diese geldpolitischen Effekte auch dafür, dass die Bundesregierung infolge der über die Geldpolitik angekurbelten Konjunktur nicht selbst vor schwierigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen steht, wie es einst der Regierung Schröder mit der Agenda 2010 ergangen ist. Die geringe Bereitschaft und Fähigkeit der europäischen Regierungen, im Zuge der Finanz- und Eurokrise eine Führungsrolle einzunehmen und politische wie wirtschaftliche Lösungen auf nationaler wie auf EU-Ebene zu erarbeiten, hat die EZB in eine immer aktivere Rolle gedrängt. Die der EZB vorgeworfene „Mandatsüberschreitung“, ist daher in erster Linie einmal das Ergebnis des Versagens nationaler Politik, zum anderen aber auch ein explizit von nationalen Regierungen beabsichtigtes Resultat.

Es sollte daher nicht überraschen, dass hochrangige Regierungsvertreter, wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, die Zweifel des Bundesverfassungsgerichts an der Rechtmäßigkeit der EZB-Geldpolitik nicht teilen. Wie die F.A.Z. berichtete, vertrat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf einer Veranstaltung des Handelsblatts die Ansicht, wonach Anleihekäufer rechtskonform seien und es keine Mandatsüberschreitung der Zentralbank gäbe. 4 Es ist alarmierend, dass führende Volksvertreter kein Problem mit der sich vollziehenden Aushöhlung des demokratischen Prozesses und letztlich ihrer eigenen Handlungsbefugnisse zu haben scheinen. Ebenso alarmierend ist, dass dieser Sachverhalt in der medialen Öffentlichkeit kaum diskutiert wurde. Es fiel vor allem den Klägern und dem Bundesverfassungsgericht zu, auf die antidemokratischen Folgen dieser Politik hinzuweisen. Das ist immerhin ein kleiner Lichtblick in Anbetracht der übermächtigen Tendenz, immer mehr Macht auf technokratische Institutionen wie die EZB zu verlagern und den Einfluss des Wählers auf die Entscheidungen der Eliten zu schmälern.

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