07.09.2018
Die Leere der Vergangenheit
Von Martin Bartholmy
Historiker nutzen zunehmend naturwissenschaftliche Methoden, Menschheits- und Erdgeschichte werden vermengt. So wird der Mensch als Subjekt der Geschichte abgewertet.
Gebranntes Kind scheut das Feuer, und, einmal gemeistert, verlernt man das Radfahren nie. Das Lernen: Zusammenhänge erkennen, Muster begreifen, sie übend nachahmen – und schließlich hat man’s verinnerlicht und hat es drauf, und alles geht besser, hoffentlich. So die Idee. So lernt man Schwimmen, Rechnen, Rechtschreibung und Grammatik, lernt, dass Gravitation humorlos ist und Masse träge. Wie aber verhält es sich mit, gewissermaßen, zwischenmenschlichen Angelegenheiten, soll heißen, mit jenem Feld, wo sich unser Gewurschtl mit der vierten Dimension kreuzt – mit der Geschichte?
Was war früher? Und was sagt uns das heute noch?
Früher sah die Welt z.B. so aus – beziehungsweise früher wurde die Welt z.B. so gesehen: Von außen drohte die gelbe Gefahr, die rote Gefahr – Barbaren, die tsunamihaft von Osten auf das Abendland zurollten –, und im Westen räkelte sich faul die Dekadenz: Völlerei, Schweinkram, Überfeinerung, Rassenvermischung und Abfall vom Glauben, wodurch Volk bzw. Hochkultur (bevorzugten Begriff ankreuzen) von innen verrottete. So ungefähr malten es einst angesagte Theorien aus, welche verklickern wollten, warum das attische Griechenland, das Römische Reich untergingen, und, war dieser Lehrstoff vermittelt, stellte man qua Analogie der eigenen Zeit und Gesellschaft eine ganz ähnliche Diagnose: Früher hatten wir Shakespeare und Goethe – heute Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal; früher bauten wir Kathedralen – heute Konsumtempel. Wehe, wehe …
Hier wird Geschichte ausgerollt wie ein Ballen Stoff. Man will die Webart sehen, das Muster, und man hofft, durch solche Aufsicht eine Übersicht zu bekommen, und dass man Gesetzmäßigkeiten erkennt – seien es mehr oder weniger zyklische Weltalter (von einer Goldenen Zeit bergab durch die weniger edlen Metalle – und evtl. retour), seien es Kondratjew-Wellen, die das wirre Auf und Ab der Konjunkturen ordnen und kommende Wechselfälle vorhersagen, wie der Astronom eine Sonnenfinsternis.
Interferenzen zwischen Geschichte und Mathematik gibt es, wenn auch nur bei der Chronologie – und selbst da bereiten sie Bauchschmerzen: Die zeitlichen Abfolgen, beispielsweise, im Alten Reich Ägyptens sind immer noch alles andere als klar, und auch naturwissenschaftliche Methoden schaffen nicht immer Abhilfe. Mit der Radiokarbondatierung, zum Beispiel, erhält man Werte wie X ± 30 Jahre (von möglichen Verunreinigungen und anderen Fehlerquellen ganz abgesehen).
„Geschichte ist, jene Zeit, für die wir schriftliche Quellen haben.“
Geschichte ist, worauf der Begriff verweist, jene Zeit, für die wir schriftliche Quellen haben, beziehungsweise, sie beginnt, wenn sich Staaten bilden, was jedoch, da ein staatlicher Apparat der Schrift bedarf, auf dasselbe hinausläuft, denn „Wer schreibt, bleibt. Wer spricht, nicht“ – was, wie Robert Gernhardt anmerkt, sich nicht aufs Selberschreiben beschränkt, beziehungsweise verhält es sich, wie es bei Eichendorff heißt, oft so: „Die handeln und die dichten, / das ist der Lebenslauf, / der eine macht Geschichten, / der andre schreibt sie auf.“
Schrift und andere auf Ewigkeit angelegte Zeugnisse – Monumente, Wandmalerei, Münzen – sind allerdings, wie wir’s auch drehen, von endlicher Dauer, und nicht leicht ist es, dem Flickenteppich dessen, was bleibt, einen Sinn zu entlocken.
„Weil die Weltgeschichte von dem Reichthum und der Armuth an Quellen abhängig ist, so müssen eben so viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Überlieferung gibt. So gleichförmig, nothwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und zufällig werden sie in der Geschichte in einander gefügt sein. Es ist daher zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches Mißverhältnis sichtbar. Jenen möchte man mit einem ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hier und da eine Welle beleuchtet wird.“
(Friedrich Schiller: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, 1789)
Drum, ist auch die Datenlage mau, die Theorien hindert’s nicht, ins Kraut zu schießen, ganz im Gegenteil. Aus Kaffeesatz lässt sich besser das herauslesen, was einem zupasskommt, als aus einem offenen Buch, in welchem haarklein alles geschrieben steht.
„Laut historischen Quellen und laut Shakespeare sah Richard III. aus wie der Glöckner von Notre Dame.“
Was aber, wenn keine Handschrift, kein Palimpsest, wenn nicht einmal eine einzelne Rune zu finden ist? Die Früh-, Ur- und Vorgeschichte sind das Reich der Archäologie, und hier haben die Naturwissenschaften das Sagen – die Stratigraphie, die Dendrochronologie, die Isotopenanalyse, Thermolumineszenz sowie, was menschliche Überreste betrifft, die Osteoarchäologie, die Analyse von Zahnschmelz, die Paläogenetik etc. pp. Ohne all jene Verfahren und Hilfswissenschaften gäbe es die Vorgeschichte nicht, und auch in der Geschichte gelingt es auf diesem Wege, bedeutende Lücken zu schließen und ältere Hypothesen ins Wanken zu bringen oder auch zu bestätigen. Laut historischen Quellen und laut Shakespeare sah Richard III. aus wie der Glöckner von Notre Dame. Stimmt das? Seit wir sein Skelett gefunden haben, wissen wir, der Mann litt an einer Verkrümmung der Wirbelsäule.
Die „exakten“ Naturwissenschaften haben auch Nachteile. In praktischer Hinsicht sind sie nicht immer so exakt wie gedacht. Vor allem aber sprechen sie nicht für sich. Mancher Historiker und Technik-Laie lässt sich von den Apparaten blenden, die beispielsweise aus einem Stückchen Zahnschmelz einer unbekannten Toten die Nachricht hervorzaubern, die Betreffende sei vor 4750 Jahren in den Karpaten aufgewachsen. Zauberei! Derartige Befunde – und die Forschung hat auf diesem Weg sehr bedeutende Fortschritte gemacht, keine Frage – derartige Befunde müssen stets gedeutet werden, denn für sich genommen sind sie bedeutungslos.
Beispiel: Ein Baum wurde um das Jahr 1150 im Ostseeraum gefällt. Schön und gut. Aber was sagt uns dies über das Boot, zu dem das Holz gehörte und dessen Überreste am Unterrhein gefunden wurden? Und was sagt es uns über die Menschen, die dieses Boot bauten und nutzen? Erst einmal nichts. Hinzukommen, zweitens, Fehler, beispielsweise, weil ein Fundstück, welches man analysiert, mit anderem Material kontaminiert ist, oder aber, drittens, auch dadurch, dass bestimmte Gegenstände und Spuren sich viel eher erhalten als andere, weshalb Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Verbreitung und Nutzung entsprechend schwierig sind. Für sich ergibt ein Fund keinen Sinn; der Sinn entsteht erst im Zusammenhang. Fehlen aber große Teile des Zusammenhangs, wird es schwierig. Und schließlich besteht auch die große Gefahr, Korrelation zu verwechseln mit Ursache und Wirkung.
„Wenn Ereignis X zu einer Katastrophe führte, warum war das beim sehr ähnlichen Ereignis Y nicht auch der Fall?“
Die Sedimente eines verlandeten Sees in Mittelamerika zeigen, dass dort um das Jahr 900 eine große Dürre herrschte; Baumringe aus derselben Gegend bestätigen dies. Ist dann nicht glasklar, dass es durch die Trockenheit bei den Maya erst zu Hungersnöten kam, dann zu Kriegen und Bürgerkriegen – und am Ende brach diese Zivilisation in sich zusammen?
Eine derartige Schlussfolgerung ist keine, es ist bestenfalls eine Hypothese, und belegen ließe sich diese erst, wenn zahlreiche weitere Funde (und/oder Schriftquellen) einen derartigen Befund untermauerten. Bei solchen Korrelationen ist zudem stets auch der Umkehrschluss zu bedenken: In Sedimenten, Eisbohrkernen oder Baumringen wird man viele Belege für extreme Naturereignisse finden. Bei der Interpretation muss es entsprechend darum gehen, nicht einfach jene Ereignisse herauszupicken, mit denen sich bestehende Thesen untermauern lassen; vielmehr muss die Frage beantwortet werden: Wenn Ereignis X zu einer Katastrophe führte, warum war das beim sehr ähnlichen Ereignis Y nicht auch der Fall? Bei einem Reim besteht zwischen den Reimwörtern eine Beziehung, nur muss diese, wie bei Morgensterns Wiesel, das auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel sitzt, weder kausal noch muss sie zwingend logisch sein.
Neben solchen Problemen mit Verfahren und Methoden wirft die naturwissenschaftliche Sicht auf die Geschichte auch grundsätzliche Fragen auf. Nehmen wir eine andere Geisteswissenschaft, die Literaturwissenschaft, und stellen wir uns vor, das Studium literarischer Formen, ihres Entstehens und ihrer Entwicklung würde revolutioniert durch einen Ansatz, der die chemische und physikalische Untersuchung von Schreibmaterialien und -geräten in den Vordergrund rückt und dabei Fragen stellt wie, welche Tinte, welcher Typ Feder und welche Art Schreibmedium und Schreibunterlage und Schreibort welche Art von Literatur hervorbringt. Wer weiß, vielleicht gelangten wir so zu der Einsicht, das Sonett verdanke sich der Erfindung einer neuartigen Tinte, und das elisabethanische Theater sei entstanden, weil anders hergestellte Papiersorten ein flüssigeres Schreiben möglich machten. So interessant und vor allem unterhaltend solche Ansätze sein mögen, haben sie doch den Nachteil, dass, verfolgt man sie nur konsequent genug, am Ende die Einsicht steht, Galläpfel (nicht Petrarca) hätten den Canzoniere hervorgebracht und Glätthämmer (nicht Shakespeare) den Hamlet geschrieben.
Auf die Geschichtsschreibung übertragen heißt das, in dem Maße, in dem die Archäologie in die historischen Epochen vordringt und beginnt, unsere Sicht von ihnen zu beherrschen, während gleichzeitig Geschichte auf die Jahrzehnt- und Jahrhunderttausende, ja, Jahrmillionen der Vor-, Natur- und Erdgeschichte ausgeweitet wird, in dem Maße verschwindet auch der Mensch aus der Geschichte, soll heißen, der Mensch als jenes Wesen, welches Geschichte erst macht, indem es sich selbst, seine Gemeinwesen und die Welt um sich herum beherrscht und gestaltet. Eine Form von Geschichte, die mit naturwissenschaftlichen Methoden auf die Zeit vor der Geschichte ausgeweitet wird, und die gleichzeitig Schriftquellen, Kunstwerke, Bauten und Bilder, die wir aus den historischen Epochen haben, als wissenschaftlich fragwürdig, weil subjektiv, abwertet und stattdessen geologische, chemische und physikalische „Fakten“ zu objektiven Determinanten erhebt, verstößt den Menschen an den Rand der Bühne, wo er (als ginge das zusammen) entweder Statist, das heißt, Spielball der Elemente, ist oder aber ein das natürliche Gleichgewicht störender Quertreiber, der sich dreist weigert, Publikum zu sein, und auf die Bühne drängt.
„Der Urmensch und auch der historische Mensch waren lange weitgehend von der Natur abhängig – mehr Objekt der Evolution als Subjekt der Geschichte.“
In volkstümlichen Erzählungen klingt das so:
„Wie soll man sich die Schönheit eines ganzen Kontinents vorstellen, der sich über hunderte Millionen Jahre entwickeln konnte, ohne dass ihn je ein Mensch betreten hat? Wie soll man glauben, dass Abermillionen Vögel bei ihren Zügen den Himmel verdunkelt haben? […] Das ursprüngliche Amerika, ein Land mit gewaltigen Küsten, eine Welt aus Flussmündungen, Buchten und Meeren, in denen sich eine großartige Natur austobte. Wieviel Delphine, Wale und Schwertwale man damals an einem einzigen Tag auf See wohl zählen konnte? […] Die gewaltigen Kräfte der Natur beherrschten den Winzling Mensch. Über mehrere Generationen ließen diese ersten Pioniere sich von einer unerschütterlichen Motivation dazu leiten, dieses fantastische Epos fortzuschreiben.“
(„Die Channel Islands vor Kaliforniens Küste. Das Paradies“, Arte, 2016)
Wer, mag man sich fragen, hat wohl in den Jahrmillionen, bevor der Mensch die Bühne betrat, die Abermillionen Vögel am Himmel gezählt? – Aber, nicht jede Einzelheit dieses Bildes ist falsch. Der Urmensch und auch der historische Mensch waren lange weitgehend von der Natur abhängig – mehr Objekt der Evolution als Subjekt der Geschichte. In dem Maße aber, in dem der Mensch seine eigene Welt schuf, das heißt seine Kultur, seine Werkzeuge, seine Nutzpflanzen und Haustiere, seine Unterkunft, Arbeit und Freizeit, in eben jenem Maße verwandelte er die Kräfte der Natur zuerst in Götter, die er nach seinem eigenen Abbild gestaltete, und die er später, je mehr er die Natur verstand und beherrschte, ablegte und in den Theaterfundus gab.
Es ist eine besondere Ironie, dass heute gerade die avanciertesten technischen Mittel, die in den archäologischen Hilfsdisziplinen zum Einsatz kommen, nicht als Beleg für das immer souveränere Natur- und Weltverständnis des Menschen gelten, sondern im Gegenteil als Kronzeugen, welche belegen sollen, wie – noch ein Widerspruch – gleichzeitig ohnmächtig und ungeheuer destruktiv der Mensch ist.
Womit wir wieder bei den eingangs erwähnten historischen Mustern wären, den kloschüsselartigen wie den eiffelturmförmigen. Oder beides in Kombination, also zwei Schritte vor und einer zurück (oder umgekehrt). Gibt es solche Muster in der Geschichte? Oder ist es eher so, dass wir, mit unseren Sinnen und im Geiste auf das Erkennen von Mustern spezialisiert, auch dort Muster sehen, wo gar keine sind – so wie bei der Pareidolie, unserer Neigung, in allerlei Gegenständen und selbst in gegenstandslosen Formen Gesichter zu erkennen?
„Problematisch wird es, wenn das ersehnte Ergebnis die Suche leitet und die Erkenntnis überformt.“
Hinzu kommt, dass die Beschäftigung mit der Geschichte nicht selten von Fragen nach dem Sinn des Lebens herrührt oder von dem Versuch geleitet ist, dem eigenen Leben und der Gegenwart Sinn zu verleihen sowie Vorhersagen für die Zukunft zu treffen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen. Problematisch wird es, wenn das ersehnte Ergebnis die Suche leitet und die Erkenntnis überformt, und diese Gefahr ist groß, da wir dazu neigen, in unübersichtlichen Lagen, das heißt, in Situationen, in denen wir wenig oder keine Kontrolle haben, besonders viele Muster dort zu sehen, wo keine sind, gibt uns dies doch die Illusion, aus Unordnung Ordnung, aus Unsinn Sinn zu schaffen. Im Extremfall sind solche Muster Verschwörungstheorien. Öfter jedoch sind sie weniger verquer und näher am Mainstream (was für mehr positives Feedback und somit ein stärkeres Gefühl von Sicherheit sorgt). Diese „Sicherheit“ muss jedoch nicht zu einem hoffnungsvollen Bild der Welt führen, denn weniger als um eine positive Perspektive geht es darum, die Welt und ihre Abläufe zu begreifen und sich über das Wirrwarr des Lebens zu erheben, indem man die Deutungshoheit erringt.
Muster gibt es in der Geschichte keine, zumindest nicht im engeren Sinne, das heißt als wiederkehrende Wellenmuster oder zyklisch ablaufende Zeitalter. Der Geist der Geschichte ist kein Murmeltier, und er grüßt nicht täglich von Neuem, auf dass wir irgendwann, nach vielen Fehlversuchen, einmal endlich alles richtig machen.
Muster gibt es in der Geschichtsschreibung, und diese historischen Schnittmuster – genauer: diese historischen Rorschachtests haben eine sehr lange Tradition, eine Tradition, die manchmal Zuversicht ausdrückt, viel öfter aber Heulen und Wehklagen. Dieses Widerspiel von Widerspiegelungen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ungefähr so alt wie die Theorie, Geschichte verlaufe in Zyklen, was darauf hindeutet, zyklisch verlaufen hier nicht die zu interpretierenden Zeitalter, zyklisch verlaufen die Interpretationen (und gibt es solche Zyklentheorien erst einmal, was leichter, als sie zu recyceln?).
„Selige, dunkele Zeit, da der Stein dem Ewigen diente, Während die heutige Kunst nur die Caserne begreift! Menschen ja waren es doch, die diese Fragmente gegründet; Sind wir nicht ihres Geschlechts? Hat das Geschick uns enterbt?“
(Karl Immermann: „Clio“, 1823)
„Der Zuversicht angesichts bestimmter Fortschritte hielt meist ein sozialer Pessimismus die Waage.“
Hat es? Und meint „Geschick“ hier Schicksal oder meint es einen Mangel an Geschick, soll heißen, die Alten hatten es kunstmäßig voll drauf, heute dagegen Ungeschick, Pragmatismus und Pfusch am Bau. Syntaktisch Ersteres, jedoch scheint der Dichter beides im Sinn gehabt zu haben – und im weiteren Verlauf des Gedichts keimt die Hoffnung, auf den zitierten Niedergang könne ein neues Goldenes Zeitalter folgen, geht es in Immermanns Gedicht doch um den unvollendeten Kölner Dom … und siehe, gut 50 Jahre später war das Ding tatsächlich fertig und für kurze Zeit sogar das höchste Gebäude der Welt. Geht doch! Beziehungsweise: Ging doch!
Das 19. Jahrhundert, so eine kulturhistorische Binsenweisheit, war zuversichtlich oder, in heutiger Diktion, es war fortschrittsgläubig, und dieser unverfrorene Optimismus dauerte an, bis zwei Weltkriege ihm im Folgejahrhundert endgültig den Garaus machten. Aber stimmt das auch? Im Vergleich zum Heute trifft dies punktuell zu, im Großen und Ganzen aber nicht. Die herrschende Sicht im 19. Jahrhundert, das heißt jene des konservativen bis liberalen Bürgertums, war nicht ein schrankenloses Vertrauen in eine immer bessere Zukunft. Grob gesagt war das vorvergangene Jahrhundert in seiner ersten Hälfte geprägt von der Romantik, also von einer Sehnsucht nach einer einfacheren, älteren Welt – nämlich nach dem Mittelalter, als, so dachte man, die Welt noch eins war, mit sich im Reinen, weil zusammengehalten durch den einen festen Glauben und eine gottgegebene, unerschütterliche Ordnung, in welcher jeder in einen festen Stand geboren wurde und diesem sein Leben lang fraglos angehörte.
Hierzu traten im Verlauf des 19. Jahrhunderts Freuden und Ängste über die sehr spürbaren technischen, wissenschaftlichen und materiellen Neuerungen – Eisenbahn, Telegraph, Dampfschiff, Flussregulierung, wissenschaftlicher Landbau, Impfungen, Elektrizität etc. pp. Der Zuversicht angesichts bestimmter Fortschritte hielt meist ein sozialer Pessimismus die Waage, die Sorge nämlich um die Zerstörung von Tradition und Glauben und die Furcht vor Aufstieg und Vermehrung des Pöbels, der an die Stelle des vormals angeblich zufriedenen Landmanns trat und drohte, die politische Ordnung und ihre Werte über den Haufen zu werfen.
„Im 19. Jahrhundert entstand die Linke; heute gibt es Die Linke.“
Ist heute vom „fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert“ die Rede, ist damit vor allem der in der Tat rasante technische Fortschritt dieser Jahre gemeint, und die soziale Frage wird meist ausgeklammert. Typisch für diese Zeit sind jedoch mindestens ebenso sehr die dunklen, verzweifelten Töne – Verlust des festen Bodens unter den Füßen und Furcht vor dem drohenden Chaos. Wenn die Dichter dieser Zeit über den geistigen Strand ihrer Gegenwart wandelten, die feste Vergangenheit im Rücken, das unsichere Meer der Zukunft im Blick, dann fiel die Diagnose zwiespältig aus.
„Hier auf dem Strand erging ich mich und gab der edlen Jugend Kraft mit märchenhafter Wissenschaft und dem, was Zeit auf Dauer schafft.“ Die Epochen alt und müde lagen hinter mir als Krume und fest hing ich nur am Jetzt, an dem mir versprochnen Ruhme. Mein Auge in die Zukunft tauchte, so weit der Blick nur ging und sah ein Bild, sah eine Welt, die voll von Wundern hing.“ (Alfred Tennyson: „Locksley Hall“, 1835)
Wunder der Zukunft, schön und gut – aber wiegen sie die Verluste auf?
„Das Meer des Glaubens, einst war’s randvoll, zog sich um alle Lande gefältelt wie ein geschnürter Gurt und hell. Heut höre ich der Wellen Wippen nur fern und düster ebbend branden, Meer weicht zurück im Nachglanz, im Nachtwind und es rinnt über düstre Klippen, über die nackten Schindeln dieser Welt.“ (Matthew Arnold: „Strand von Dover“, um 1851)
Wie damals gibt es auch heute beachtliche Fortschritte in Technik, Medizin und Wissenschaft, und es ist auch nicht so, dass diese rundheraus ausgebuht würden. Die Linie, auf der wir uns bewegen, und entlang derer wir Vergangenheit und Zukunft miteinander vergleichen, ist jedoch eine ganz andere geworden – nicht zuletzt, weil es heute keine politische Kraft gibt, die eine Zukunft erkämpfen will, die ganz anders ist als die Gegenwart. Anders gesagt: Im 19. Jahrhundert entstand die Linke; heute gibt es Die Linke.
„Fehlt aber eine gesellschaftliche Kraft, die alles neu machen will, steht jede neue Errungenschaft unter Generalverdacht.“
Fehlt aber eine gesellschaftliche Kraft, die alles neu machen will, steht jede neue Errungenschaft unter Generalverdacht, und auf jede Erfolgsmeldung folgt, wie das Amen in der Kirche, ein Katalog von „Abers“. Die Elektronik wird schneller, kleiner und kann immer mehr – aber, das geht auf Kosten endlicher Ressourcen (deren Abbau zudem die Natur vergiftet) – aber die Herstellung führt zu Ausbeutung in der Dritten Welt – aber die Nutzung lullt uns ein und lenkt uns ab von den wirklich wichtigen Dingen – aber Elektrosmog macht Krebs – aber, ist das Gerät kaputt, verschmutzt der Müll auf Jahrtausende das Grundwasser. Die meisten Menschen benutzen dennoch gern die neueste Elektronik, wenn auch mit einem etwas schlechten Gewissen. So richtig stolz sein mag man auf die Geräte und Erfindungen nicht, das wäre peinlich, wäre nerdig – und wir aufgeklärten Europäer haben bei der Entstehung dieser Dinge die Hand sowieso nicht im Spiel, nicht wahr? … zuständig ist das Mooresche Gesetz (unter Mithilfe vieler Menschen im Fernen Osten).
Der Osten stürmt voran, in der Hand das Banner des Fortschritts; der Westen trägt schwer an nachhaltigen Bedenken und geht gebeugt. Woran erinnert dieses Bild? Zu Beginn sprachen wir von älteren Geschichtsbildern und Mustern, darunter dem vom dekadenten Westen, der dem Untergang geweiht ist, da ihm die Kraft fehlt, weshalb er den wilden Horden, die, von keinem Zweifel angekränkelt, aus dem Osten gegen ihn anbranden, nichts entgegenzusetzen hat. Solche Metaphern für schwächelnde Zivilisation und auftrumpfende Barbarei haben eine lange Geschichte. In Tacitus’ „Germania“ spielen unzivilisierte Sueben, Chatten & Co. die Rolle der unverderbten Naturburschen, deren tumbe Einfalt und reine Kraft dazu dient, den vom rechten Weg abgekommenen Römern den Spiegel vorzuhalten.
Selbst dort, wo alte Erzähl- und Erklärmuster wiederverwendet werden, bleiben sie nicht unverändert. In der Regel kommt es zu einer Art Upcycling, soll heißen: Muster gut – aber diese Farben! Das geht gar nicht, und außerdem soll aus dem Jäckchen bitteschön ein Backpack werden. Das Muster vom schwächelnden Abendland, vom anbrandenden Morgenland wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert gerne sozialdarwinistisch, das heißt mit Rassetheorien, unterfüttert – wobei man damals unter „Rasse“ nicht unbedingt das verstand, was heute über diese Zeit oft kolportiert wird. Es stimmt, man versuchte wissenschaftlich zu untermauern, dass beispielsweise Afrikaner oder Chinesen von Natur aus minderwertig und den Angelsachsen & Co. unterlegen seien. Das war aber nicht alles. Man ging außerdem davon aus, dass es auch in Europa zwei Rassen gebe, eine edle, Träger abendländischer Kultur, und eine minderwertige, die sich, je nach Autor, entweder durch Einwanderung gebildet habe (die Juden, Slawen, Zigeuner), oder die einen Überrest primitiver Völker darstelle (in England dachte man dabei z.B. via die Iren an die Kelten), oder die, durch degenerative Prozesse entstanden, sich nun, weil jenseits jeder Moral, als entartete Rasse besonders ungezügelt vermehre (der Pöbel mit seinen zahllosen Blagen).
Heute wissen wir es natürlich viel besser als früher (was überrascht, wird sonst die Vorstellung, die Dinge würden besser, meist verworfen) … heute also, da wir glauben, alles besser zu wissen als früher, hängen wir solchen abstrusen Rassetheorien selbstverständlich nicht mehr an und schütteln den Kopf: Also wirklich – wie leichtgläubig und böse die Menschen früher waren!
„Die Theorien vom Rassentod und vom Klimatod haben gemeinsame Nenner.“
Unsere Vorstellung vom Niedergang ist heute eine ganz andere. Sie setzt sich zusammen aus, erstens, der Überheblichkeit des Westens (Machbarkeitswahn + Fortschrittsgläubigkeit), die, zweitens, dazu führe, dass über Jahrhunderte natürliche Ressourcen sowie Menschen in aller Welt ausgebeutet wurden. Dafür erhalten wir nun die Rechnung, nämlich vom Rest der Welt und von den Gesetzen der Natur, als da sind: die Grenzen des Wachstums, die endliche Erde und das empfindliche Klima. Dieses Bild vom Untergang, in dem die Sanftmütigen das Erdreich besitzen und eine Sintflut alles Übel hinwegspülen wird, ist erstaunlich biblisch.
Die Theorien vom Rassentod und vom Klimatod haben, neben dem Exitus, einen zweiten gemeinsamen Nenner, postulieren sie doch beide, dass der Mensch den Urzustand, das heißt das ideale Gleichgewicht der Natur, stört und so einen naturgesetzlichen und kaum aufzuhaltenden Prozess anstößt, etwas, das bei den besonders eifrigen Anhängern dieser Weltsicht (wie meist handelt es sich um Konvertiten) zu einem vordergründig traurigen, eigentlich aber sehr selbstzufriedenen Kopfnicken führt, schlägt die Natur wieder einmal zurück. New Orleans wird durch einen Hurrikan überschwemmt – und Minister Trittin weiß mit klammheimlicher Freude sogleich, wer Schuld hat: Präsident Bush und seine verfehlte Klimapolitik (eben wurde das Stück neu aufgeführt, die Rollen neu besetzt mit Houston und Trump).
Aber was höre ich? Grummeln, meckern, maulen da einige Leserinnen und Leser? Ob ich etwa vorhätte, Klimaforschung mit Rassetheorie zu vergleichen?
Also … Luft hol … Zeit für einen …
Abschweif: Vom Vergleichen
Man sollte Äpfel mit Birnen vergleichen, unbedingt. Gäbe es nur Äpfel und keine Birnen, oder nur Birnen und keine Äpfel, und könnte man also den Vergleich nicht anstellen, dann gäbe es mangels Kontrast weder Äpfel noch Birnen, es gäbe nur Obst. Vergleichen sollte man allezeit – nicht bloß als „kritischer Verbraucher“. Vergleichen bedeutet nicht, zweierlei oder mehrerlei gleichzusetzen, es bedeutet, Dinge gegeneinanderzuhalten und abzugleichen: Was ist anders, was ist ähnlich, was ist scheinbar gleich, was fehlt? „Vergleicht man wirklich, und gleicht man Dinge miteinander ab und setzt sie zueinander in Beziehung, beginnt Denken und entsteht Bedeutung erst.“
„Der Missbrauch des Wortes ‚Vergleich‘ geht sehr oft einher mit dem Missbrauch des Wortes ‚Nazi‘.“
Sicher, im Geplauder kann man „vergleichen“ sagen und „gleichsetzen“ meinen. Ist ja nur Geplauder, und man hört viel, bevor einem die Ohren abfallen. In einer Debatte, und sehr viel mehr in einer, die schriftlich geführt wird, darf gerne bedachter und präziser verfahren werden, und hier ist die Verwechslung von „vergleichen“ und „gleichsetzen“ oft auch gar kein Versehen, keine Schludrigkeit, sie ist der Versuch, den Andersdenkenden zu beleidigen und abzukanzeln – und dabei so zu tun, als täte man dies gerade eben nicht, sondern setze sich ein für Humanität, Demokratie und Menschenrechte (was man daran sieht, dass der Missbrauch des Wortes „Vergleich“ sehr oft einhergeht mit dem Missbrauch des Wortes „Nazi“ etc.).
Vergleicht man wirklich, und gleicht man Dinge miteinander ab und setzt sie zueinander in Beziehung, beginnt Denken und entsteht Bedeutung erst. Denn, was ist der schönste Gedanke, das größte Kunstwerk, die wichtigste Errungenschaft und auch das größte Verbrechen, wenn es alleine im Raum steht, ganz beziehungslos? Es ist nichts, denn es fehlt jeder Vergleich, der es zu etwas machen könnte.
Ende des Abschweifs
Vergangenheit und Gegenwart – und die Zukunft? Ist sie das Dritte des Vergleichs? Was könnte uns Geschichte lehren, was lässt sich aus ihr lernen? Lassen wir noch einmal den bereits oben zitierten Professor aus Jena zu Wort kommen. Seinen Studenten erklärte er:
„… das Studium der Weltgeschichte […] wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker aus einander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urtheile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu fassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.“
(Friedrich Schiller: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, 1789)
Geschichte also, um sich über Alltag und eigene Macken zu erheben und das große Ganze in den Blick zu bekommen. Wie aber, wenn dieses Bild zu groß wird, zu allgemein und wir uns darin verlieren?
„Der Mensch ist nicht nur Gegenstand der Geschichte, er ist auch ihr Autor. Ohne Menschen keine Geschichte.“
Dazu kommen kann es auf zweierlei Art: Zum einen ist der Begriff der Geschichte immer weiter ausgedehnt worden, erst auf die Früh- und Ur- und Vorgeschichte, dann auf die Hominiden und von da über die Natur- und Erdgeschichte bis ins Kosmische. Tut man dies, geht es einem wie wenn man den bekannten Zoom vom Weltall ins Innere eines Atoms durchläuft – alles wird zu einem sich in Variationen wiederholenden Muster, das die Sinne hypnotisiert und, wie ein Schwarzes Loch, den Menschen verschluckt. Aber bitte – ist das nicht korrekt, ist das nicht maßstabsgetreu? Was ist schon der Mensch angesichts der Größe des Universums?
Nun, der Mensch ist jenes Subjekt, das eben solche Überlegungen anstellt und mit einigem Erfolg versucht, sich selbst, die Natur, die Zeit und das All zu verstehen. (Ein anderes Subjekt, zu unserer Linken oder Rechten, gibt es nicht – sorry, Kirche, Tschuldigung, Herr von Däniken). Um das Musical falsch zu zitieren: Vögel tun’s nicht, Bienen tun’s nicht und auch gebildete Flöhe tun’s nicht – sie tun’s nicht, sie sind kein Subjekt. Geschichte, ins Allgemeine erweitert, ist keine Geschichte; sie schneidet die einzigartige Rolle, die der Mensch in ihr spielt, aus dem Film – und am Ende haben wir statt einem Film eine weiße Leinwand. Der Mensch ist nicht nur Gegenstand der Geschichte, er ist auch ihr Autor, Regisseur, Produzent, Hauptdarsteller, Charge, Cutter, Beleuchter und Komponist. Ohne Menschen keine Geschichte.
Wenn man also, wie immer öfter zu hören, den Menschen als „Primaten“ und nur eine unter mehreren Arten von Menschenaffen bezeichnet, walzt man die Singularität des Menschen platt und erhält statt Einsichten einen undurchsichtigen Brei. Sicher, in biologischer Sicht ist der Mensch ein Primat. Nur reduziert diese Sicht, verallgemeinert man sie, die Verhältnisse bis zur Sinnlosigkeit. Auch ein Fahrrad ist gewissermaßen ein Auto, und das umso mehr im Vergleich zum Pferde.
Die zweite Art, in der das Menschliche – und damit die Essenz der Geschichte – heute aus eben jener vertrieben wird, besteht darin, einen quasireligiösen Gegensatz zwischen göttlicher Natur und teuflischem Menschen zu behaupten. Ein typisches Beispiel ist die Debatte über das Anthropozän, das heißt darüber, ob ein neues Erdzeitalter definiert werden soll, „das Zeitalter des Menschen“. Nun könnte dies ein vergleichsweise technischer, objektiver Schritt sein, von Interesse nur für einige Geologen, und bei dem es allein darum geht, eine vom Menschen geprägte Epoche der Erdgeschichte gegen andere Epochen abzugrenzen. Darum aber geht es nicht. „Anthropozän“ ist ein Kampfbegriff jener, die im Menschen in erster Linie einen lebensbedrohenden Parasiten von Mutter Erde sehen. Soll heißen: Das Ende der Kreidezeit (sowie ihr eigenes Ende) haben nicht die Dinosaurier verursacht. Das Anthropozän hingegen trägt Ursache für Anfang und absehbares Ende im Namen – es ist der anthropos, der Mensch. Ähnlich gelagerte Theorien gibt es zuhauf.
„Die Geschichte hat Wert für die Gegenwart, aber nur, wenn sie nicht als Rezept- und Musterbuch gelesen wird.“
„Kurz und gut, es kann keine Diskussion darüber geben, ob es für den Zusammenbruch früherer Gesellschaften heute Entsprechungen gibt, und ob wir daraus etwas lernen können. Diese Frage ist ein für alle Mal beantwortet, denn erst in jüngerer Zeit kam es zu solchen Zusammenbrüchen – und weitere scheinen unmittelbar bevorzustehen. Die eigentliche Frage ist also, wie vielen weiteren Ländern wird es so ergehen?“
(Jared Diamond: „Kollaps“, 2005)
Dass Diamond als Biologe und Geograf so denkt, mag man ihm nachsehen, dass er jede Diskussion darüber verbieten will, sollte man ihm nicht durchgehen lassen. Die von Diamond in seinen Büchern popularisierte These vom sozialen Zusammenbruch durch menschgemachte Umweltkatastrophen teilt die Geschichtswissenschaft eher nicht.
„Es ist oft falsch, aus der Vergangenheit lernen zu wollen. Denn wir beurteilen sie immer nach unseren Maßstäben – mit oft unrühmlichem Ergebnis. Im Fall der Osterinsel hieß es stets: ‚Was haben sie nur mit ihrer Insel angerichtet – eine Katastrophe! Genauso wird es unserem Planeten ergehen.‘ – Die Rapa Nui als abschreckendes Beispiel. In Wahrheit haben die Rapa Nui ihre Welt durch die Entwaldung nicht selbst zerstört, sondern sich erfolgreich an die veränderten Umweltbedingungen angepasst. Wenn wir etwas aus der Geschichte lernen wollen, dann das: Die Rapa Nui befanden sich in einer schwierigen Lage – und überlebten trotzdem.“
(Der belgische Archäologe Nicolas Cauwe in „Abenteuer Archäologie Osterinsel: Der Glaube der Rapa Nui“, Arte, 2015)
Die Geschichte hat Wert für die Gegenwart, aber nur, wenn sie nicht als Rezept- und Musterbuch gelesen wird. Geschichte regt uns an zu vergleichen, nur dürfen wir „vergleichen“ nicht missverstehen als „gleichsetzen“. Geschichte zeigt uns die Unterschiede, nämlich dass es einmal ganz anders war, und dass es also auch in Zukunft ganz anders werden kann als heute oder gestern – vorausgesetzt wir benutzen unsere singulären Fähigkeiten und denken, begreifen und gestalten. Es ist an uns, die Welt zu machen. Es ist an uns, Geschichte zu machen.