24.03.2021

Die Klimahipster und der Provinzpöbel

Von Clemens Traub

Die „Fridays for Future“-Bewegung besteht aus privilegierten Akademikerkindern und Großstädtern, die glauben, auf den Rest der Gesellschaft arrogant herunterblicken zu dürfen. Ein Insiderblick.

Am 19. März war es wieder soweit: Fridays for Future rief zum globalen Klimastreik auf. Die einst so lautstark auftretende Bewegung spielte zuletzt jedoch kaum noch eine Rolle. Bilder bunter Demonstrationen sind in Zeiten des Lockdowns menschenleeren Straßen gewichen. Corona bestimmt längst nicht nur die Talkshows und Zeitungen, die Pandemie raubt inzwischen auch Millionen von besorgten Menschen den Schlaf. Einzelhändler, Gastronomen, Künstler: Sie alle tragen seit Monaten ihren einsamen Kampf um die eigene Existenz aus. In meinem Bekanntenkreis erlebe ich deshalb gerade eine gefährliche Spaltung: Meine wohlbehüteten Freunde haben noch immer das Privileg, eine drohende Klimaapokalypse als das zurzeit dringlichste politische Thema ansehen zu können, während andere voller Ohnmacht den tagtäglichen Zusammenbruch ihrer eigenen Welt erleben.

Doch viele privilegierte Aktivisten verhalten sich, als ob all diese Ängste gar nicht existieren würden. Was sind schon zerstörte Biografien im Vergleich zur großen Apokalypse? In den Augen gymnasialer Weltenretter sind dies ohnehin nur weitere Kollateralschäden, welche die Hinfälligkeit des blutrünstigen Systems aufzeigen. Die Systemüberwindung ist jedoch für besorgte Menschen momentan ganz weit weg. Slogans wie „There are no jobs on a dead planet“ oder die Besetzungen von Fabriken empfanden viele Menschen in den vergangenen Monaten daher als zynisch und weltfremd.

Fridays for Future verbreitet auch in unserer Wirtschaftskrise leider noch immer viel zu häufig die Botschaft, dass Industrie und Arbeiter einer ökologischen Zukunft im Wege stehen. So stößt der anhaltende Post-Materialismus des grün-bürgerlichen Nachwuchses in vielen Wohnzimmern auf großes Unverständnis. Was wird wohl ein zutiefst verängstigter Familienvater denken, wenn er in den Nachrichten Plakate wie „We want a hot date not a hot planet“ zu lesen bekommt? Die Klimabewegung, die in ihrem Auftreten bereits vor dem Ausbruch des Virus vielfach als elitär und abgehoben empfunden wurde, muss nun aufpassen, dass sie nicht endgültig den Rückhalt aus der Bevölkerung verliert.

Abgehobene Zirkel

Das typische Milieu der meisten „Fridays for Future“-Demonstranten kenne ich gut. Es ist in gewisser Weise mein eigenes und das meines jetzigen Freundeskreises: großstädtisch, linksliberal, hip. Arzttöchter treffen darin auf Juristensöhne. Gin-Tasting und Diskussionen über plastikfreies Einkaufen und Zero Waste stehen nebeneinander auf der Tagesordnung. Veganismus zählt ebenso zum unausgesprochenen Codex des Hip-Seins wie der Einkauf im Second-Hand-Laden. Und der Bioladen um die Ecke wertet die Lage der eigenen Wohnung selbstverständlich auf.

Akademikerkinder bleiben unter sich. Querschnitt der Gesellschaft also, den die Klimaproteste abbilden? Weit gefehlt! „Fridays for Future“ ist die Rebellion der Privilegierten und die Bewegung bietet ihnen die perfekte Möglichkeit, ihren eigenen kosmopolitischen Lebensstil und das eigene Talent zur Schau zu stellen.

„Die Bewegung in ihrem Elfenbeinturm merkt gar nicht, dass ihre Kritik den Lebensstil sozial Schwächerer betrifft, die aus finanziellen Gründen nicht immer die freie Wahl haben.“

Viele meiner klimabegeisterten Freunde fragen sich, warum die soziale Herkunft der Demonstranten überhaupt eine Rolle spiele. Sei das nicht absolut unwichtig? Hauptsache, die Erde werde gerettet, so ihre Überzeugung. Vom wem, sei dabei doch egal. Lange genug habe die Bevölkerung geschwiegen, und jetzt müsse endlich aufgestanden werden. Ich gebe zu, der Gedanke ist in seiner Konsequenz natürlich überaus reizvoll und die gesellschaftliche Herkunft als Argument gegen eine Gruppe zu verwenden natürlich unsinnig. Auch mich packte der skizzierte Kampfgeist anfangs. Zu Beginn meiner Teilnahme an „Fridays for Future“ zählte für mich nur die Weltrettung; wer an meiner Seite stand, das war mir egal. Und das wäre es mir bis heute.

Doch was mir nicht egal ist, das ist das Verhalten und die Argumentation der Menschen, mit denen ich gemeinsam demonstriere. Und hier schließt sich der Kreis, denn der soziale Background sagt dann eben doch mehr über die Bewegung aus, als den Demonstranten lieb ist. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass die soziale Herkunft der jungen Protestler der eigentliche Geburtsfehler von „Fridays for Future“ ist: Die Bewegung war von Anfang an viel zu homogen, viel zu elitär und entsprechend viel zu abgehoben, als dass sie dies selbst überhaupt auch nur bemerkt hätte. Nur wem es materiell gut geht, der hat letztlich die Zeit und auch die Muße, den Klimaschutz als das persönlich wichtigste und auch einzige politische Thema unserer Zeit zu betrachten und ihm alles andere unterzuordnen.

Die Bewegung in ihrem Elfenbeinturm merkt gar nicht, dass ihre Kritik den Lebensstil sozial Schwächerer betrifft, die aus finanziellen Gründen nicht immer die freie Wahl haben. Sie werden als Klimasünder gebrandmarkt, weil sie nicht im Bioladen einkaufen, sondern beim Discounter. Dass es Menschen gibt, bei denen die Sorgen angesichts immer höherer Strom- und Mietpreise die Diskussion über den Verzicht auf Flugreisen von vornherein obsolet machen, das kommt den Demonstranten gar nicht in den Sinn.

„Für einen großen Teil der Bevölkerung überwiegen andere, dringlichere Alltagssorgen.“

Wie auch? In ihrer wohlbehüteten Lebenswelt ist das alles ganz weit weg. Gerade das macht die Bewegung zu einem Risiko, denn sie setzt den sowieso schon fragilen Zusammenhalt unserer Gesellschaft aufs Spiel. Für einen großen Teil der Bevölkerung überwiegen jedoch andere, dringlichere Alltagssorgen. Wer angesichts der Ankündigungen der Industrie Angst hat, vom Jobabbau betroffen zu sein, für den ist im Moment die Brandrodung im tropischen Regenwald zweitrangig. Genauso ist das Aussterben exotischer Tierarten für jemanden weit entfernt, der sich jeden Tag den Kopf über seine spätere Rente zerbricht. Das bedeutet nicht, dass Alltagssorgen den Blick auf die Probleme des Klimawandels komplett verstellen dürfen, aber es erklärt, dass der Klimawandel für Menschen mit ganz existentiellen Sorgen nicht die erste Priorität darstellt. Es erklärt auch, warum Forderungen zur Rettung des Klimas sozial ausgewogen sein müssen. Und es erklärt auch, warum sich immer mehr Menschen fragen, wann endlich für ihre Alltagssorgen auf die Straße gegangen werde: für bezahlbare Wohnungen, für gerechte Renten … Themen gibt es viele.

Mein eigener Weg

Ich stamme selbst nicht originär aus dem großstädtischen Milieu, sondern komme aus einer Region, die gerne als „Provinz“ abgetan wird. Zeitschriften wie „Landlust“ und „Landleben“ erfüllen zwar die Sehnsucht der Städter nach der reinen Natur, doch scheint dieser Traum indes nur für jene Menschen zu gelten, die sich bewusst für ein Wochenendhaus im Wald entscheiden. Wer jedoch in der ländlichen Umgebung aufgewachsen ist, scheint davon kaum zu profitieren.

Meine Eltern leben in der Pfalz. Dort bin ich auch aufgewachsen. Mein Herz hängt an der Region, sie ist landschaftlich wunderschön. Ein Weindorf reiht sich an das nächste. Doch für einen großstädtischen Selbstverwirklicher muss es der größte Albtraum sein. Denn wer die Pfalz nicht kennt: Bei uns gibt es Schlachtfeste statt Whiskey-Verkostung. Die wenigsten Wohnungen sind im Landhausstil eingerichtet. In meinem Heimatdorf werden keine Dokumentarfilme über Gentrifizierung gedreht. Vielleicht verliert sich mal ein Kamerateam bei einer Saumagen-Kerwe in eines unserer vielen Dörfer. Doch das ist selten genug.

Verschlafene Dörfer bieten die perfekte Kulisse, um groß zu werden. Eine heile, idyllische Welt. Doch je älter ich wurde, desto stärker zog es auch mich in die Großstadt. Ich hatte Sehnsucht nach einem Ort, der lebendiger war als die Pfalz. Der mir mehr Abenteuer und Chancen auf dem Weg ins Erwachsenwerden bieten konnte. Eben die große, weite Welt, wie ich dachte. Und deren Vorzüge ich genieße. Immer wenn ich heute nach Hause fahre, habe ich das Gefühl, dass zwei Welten aufeinanderprallen, die nicht wirklich viel miteinander zu tun haben.

Kurz nachdem ich meine ersten „Fridays for Future“-Kundgebungen besucht hatte, stattete ich einmal mehr meiner alten Heimat einen Besuch ab – diese werden immer seltener. Als ich meinen Bekannten dort begeistert von meinen Erlebnissen bei den jüngsten „Fridays for Future“-Demonstrationen erzählte, merkte ich schnell, wie wenig es sie interessierte. Aus reiner Freundschaft und Höflichkeit hörten sie mir mit halbem Ohr zu. Das überraschte mich total. Was in meiner Unistadt das am heißesten diskutierte Gesprächsthema der letzten Wochen war, stieß hier unter meinen alten Schulfreunden auf absolute Gleichgültigkeit. Sie interessierten sich mehr für den letzten Bundesligaspieltag oder ihr letztes Tinderdate als für die große Klimarevolution.

„Das total Gute oder das absolut Böse. Keine Grautöne. Nichts dazwischen!“

Ehrlich gesagt, reagierte ich zunächst enttäuscht und dann zunehmend wütend auf dieses Desinteresse. Während wir jungen Menschen in den Großstädten versuchen, unseren Planeten zu retten, lassen uns die Menschen in meinem Heimatdorf im Stich, dachte ich. Kapieren die denn nicht, dass auch sie nur einen Planeten zur Verfügung haben, genau wie wir von „Fridays for Future“? Zum Glück behielt ich aus Höflichkeit diese Gedanken für mich.

In den Tagen darauf bekam ich immer häufiger verächtliche Kommentare über „Fridays for Future“ zu hören. In den Augen meiner alten Freunde war „Fridays for Future“ eine „Öko-Sekte“, eben die Selbstinszenierung großstädtischer, linker Spinner. Greta Thunberg nannte jemand „gestörte Nervensäge“. Neben Beleidigungen hörte ich auch heraus, dass sie das bevormundende Auftreten vieler „Fridays for Future“-Demonstranten, die Dieselfahrer und Fleischesser zu Menschen zweiter Klasse machten, immer mehr störte. Je häufiger dies vorkam, desto größer wurde der Keil zwischen meinem aktuellen Großstadtleben und meiner Herkunft aus dem pfälzischen Heimatdorf getrieben. Zwischen meiner alten und neuen Welt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nur noch froh, als ich zurück in die Großstadt fahren konnte: endlich wieder die heile Welt, wenn diese auch kurz vor dem Untergang stand.

Seit diesem Besuch reagierte ich ziemlich überempfindlich, wann immer meine „Fridays for Future“-Begeisterung nicht zu 100 Prozent geteilt wurde. In meinen Augen gab es auf einmal nur noch Klimahelden auf der einen Seite oder Klimasünder auf der anderen. Das total Gute oder das absolut Böse. Keine Grautöne. Nichts dazwischen! Ich merkte erst später, wie sehr ich damals bereits beeinflusst von der „Fridays for Future“-Bewegung war.

Am Anfang hatte ich nur Vorwürfe für meine alten Bekannten übrig. Ich unterstellte ihnen, sie seien unpolitisch und ohnehin zu uninformiert über die Welt. Ein Ausgrenzungsmechanismus, der bei „Fridays for Future“ sehr verbreitet ist, wie ich später merkte. Schließlich verspottete ich an der Uni meine alten Bekannten sogar als Provinzler, was ich selbst immer gehasst hatte, wenn meine neuen Freunde aus den Metropolen mich damit aufgezogen hatten. Doch es war so viel einfacher, sie schlicht als uninformierte „Provinzler“ abzutun, statt mit ihnen zu diskutieren und sie ernst zu nehmen. Warum meine Freunde aus der alten Heimat „Fridays for Future“ als überheblich oder abgehoben sahen, das fragte ich nicht, das war mir damals egal. Mögliche Selbstzweifel konnten so gar nicht erst aufkommen.

Was ich noch nicht ahnte: In den kommenden Wochen arbeitete es ordentlich in mir! Immer häufiger dachte ich über die Erlebnisse in meiner Heimat nach. Sie ließen mich einfach nicht los. Woher nur kommt die Ablehnung gegenüber „Fridays for Future“, fragte ich mich. Woher die Gleichgültigkeit angesichts der drängenden weltweiten Klimaprobleme? Das gab es doch einfach nicht, dass meine Freunde diese nicht sahen. Dass sie den Ernst der Lage nicht erkannten. Ich suchte nach Antworten, fand aber keine.

„Elitäre Selbstüberschätzung, wohin ich blickte.“

Nach diesem Ereignis änderte sich in mir tatsächlich etwas. Doch ich wollte es mir zunächst nicht eingestehen. Aber je häufiger ich bei „Fridays for Future“ mitdemonstrierte, desto fremder wurde mir die Bewegung. Heute weiß ich: Es brauchte den Aufenthalt in meiner alten Heimat, um die Augen geöffnet zu bekommen. Um zu merken, wie wichtig es ist, andere Lebenswelten verstehen zu wollen, bevor man Menschen einfach abstempelt. Eine Erkenntnis, der sich „Fridays for Future“ in seinem ausgrenzenden Größenwahn verschließt. Doch nur wer auf andere Menschen zugeht, sie ernst nimmt, ihren Alltag verstehen möchte, dem wird auch zugehört. Der kann etwas verändern. Im besten Fall, sogar unseren Planeten retten!

Während „Fridays for Future“ in meinem Heimatdorf keinen Stich machen konnten, waren die Medien umso interessierter. Im Fernsehen kamen immer häufiger Interviews mit Aktivisten. Die Talkshows konnten gar nicht genug von ihnen bekommen. „Markus Lanz“, „Anne Will“ oder „Hart aber Fair“: Alle hatten mindestens einmal eine „FfF“-Aktivistin zu Besuch. Je häufiger ich sie sah, desto mehr störte mich ihr arrogantes Auftreten. Menschen, die ich vor wenigen Monaten noch als inspirierende Persönlichkeiten sah, schaltete ich auf einmal weg. Andauernd hoben sie mahnend den Zeigefinger. Blickten aus dem Elfenbeinturm auf alle Menschen, die anderer Meinung waren, herab.

Bessergestellte Zeigefinger

Dieser Zeigefinger wurde langsam, aber sicher das Wiedererkennungsmerkmal der Bewegung. Ihre Feindbilder waren glasklar. Ihr Weltbild gefährlich eindimensional. Meine Großstadtfreunde bekämpften plötzlich alle, die in ihren Augen eine Mitschuld am Elend der Welt trugen: die Fleischesser, die Plastiktütenträger, die Dieselfahrer, die Kurzstreckenflieger, die Langstreckenflieger, die Kreuzschifffahrtstouristen, die Landwirte und natürlich die bösen SUV-Fahrer. Aber ganz ehrlich: Gehören wir nicht alle immer mal wieder zu einer dieser Gruppen? Als sie auf einmal begannen, jeden Menschen zu verfluchen, der aus Versehen ein Klima-Sündchen beging, und sei es auch nur, den Müll falsch zu trennen, hatte ich das Gefühl, sie befänden sich im ultimativen Kampf gegen den Rest der Menschheit. Elitäre Selbstüberschätzung, wohin ich blickte. In ihrer moralischen Überheblichkeit war (und ist) ihnen gar nicht bewusst, wie viele „normale“ Menschen sie damit vor den Kopf stoßen.

Meine Einschätzung, bei „Fridays for Future“ handle es sich vor allem um eine Bewegung des sozial privilegierten Nachwuchses, ist inzwischen längst mit entsprechenden Zahlen belegt. Das Berliner „Institut für Protest- und Bewegungsforschung“ ging der sozialen Zusammensetzung der Klimabewegung auf den Grund. Dabei befragten sie am 15.März 2019 „Fridays for Future“-Demonstrierende bei Kundgebungen in Berlin und Bremen. Finanziert wurde die Studie von der Bündnis90/Die Grünen-nahen „Heinrich Böll Stiftung“.

„‚Fridays for Future‘ verkörpert nicht einmal ansatzweise den Querschnitt der Gesellschaft.“

Die Studie spricht Bände: Demnach gaben über 90 Prozent der Befragten an, mindestens das Abitur (beziehungsweise die Fachholschulreife) gemacht zu haben oder dies gerade anzustreben. Eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent! Eine Hauptschule besuchte nicht einmal 1 Prozent der Demonstranten. Knapp zwei Drittel der Schüler rechneten sich selbst der oberen Mittelschicht zu. Auch zuvor hatte ich schon keinen Zweifel daran, dass „Fridays for Future“ eine Bewegung der Bessergestellten ist. Aber was ich in dieser Studie zu lesen bekam, übertraf meine Vermutungen noch. „Fridays for Future“ verkörpert damit nicht einmal ansatzweise den Querschnitt der Gesellschaft, wie so oft behauptet wurde.

Mich wunderte, wie wenig das ernüchternde Ergebnis der Studie dann jedoch diskutiert wurde. Dabei musste die Gesellschaft doch aufgeklärt werden über den privilegierten Background und die daraus folgende Abgehobenheit der jungen Protestler. Verändert dies nicht den gesamten Blickwinkel auf die bestimmende gesellschaftliche Debatte der letzten Monate?

Spaltung der Gesellschaft

Mich treiben darüber hinaus auch noch andere Sorgen um. In unserer Zeit wächst nämlich der Verdruss über die Eliten. Das „Wutbürgerphänomen“ ist zu einem der meist diskutierten Themen dieses Jahrzehnts geworden. Intellektuelle weltweit machen sich Gedanken über die Ursache dieser besorgniserregenden Entwicklung. Unsere Gesellschaft erlebt zurzeit einen „Riss“ zwischen zwei großen Bevölkerungsgruppen. Die Politik- beziehungsweise Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel, Ruud Koopmans und Michael Zürn unterscheiden in einem von ihnen herausgegeben Sammelband zwischen „Kosmopoliten und Kommunitaristen“. Es gibt jene, die von der Zukunft profitieren und ihr deswegen gelassen gegenüberstehen. Sie sehen in ihr vor allem die Chancen und betrachten die „Öffnung“ unserer Welt mit Optimismus. Diese Gruppe wird als Kosmopoliten bezeichnet. Doch viele Menschen haben auch Angst vor Veränderungen. Sie glauben, die Zukunft wird nichts Gutes und gegebenfalls nur den stets möglichen gesellschaftlichen Abstieg für sie bereithalten. Angesichts der Öffnung der Welt sehen die Kommunitaristen insbesondere die Gefahren. Sie haben oftmals das Gefühl von den Eliten der Gesellschaft nicht wirklich wahrgenommen zu werden.

Die bekannte Unterscheidung in „Anywheres“ und „Somewheres“ des britischen Journalisten und Autors David Goodhart stützt diesen Befund. Goodhart unterscheidet „Anywheres“, die gebildet und wohlhabend sind und sich auf der ganzen Welt in ihren Kreisen wohlfühlen werden, sowie „Somewheres“. Sie sind ganz anderen sozialen Milieus zugehörig und an einen bestimmten Ort verwiesen, an dem sie arbeiten, leben, ihre Freunde haben und mühsam ihren Status behaupten müssen.

Den allermeisten „Fridays for Future“-Aktivisten gehört die Zukunft. Viele haben die klassische Biographie eines Kosmopoliten. Ihnen wurde durch ihre soziale Herkunft alles in die Wiege gelegt, um zum Profiteur unseres Systems zu werden. Einfach alles stimmt: das Auftreten, das soziale Umfeld und natürlich die Bildung. Obwohl sie den Weltuntergang als permanente Drohung vor sich hertragen, bereitet ihnen ihre Zukunft keine Angst. Warum denn auch? Für sie stehen die Türen der Zukunft sehr weit offen. Sie werden ihr Praktikum in Brüssel und nicht in Bottrop machen. Sie beherrschen die komplizierten Regeln unserer individualisierten Wissensgesellschaft ganz genau. Lieber EU-Kommission als Einzelhandel. Der wird zukünftig eh keine Chance mehr haben. Und außerdem: Connections regeln! Ihr englischer Wortschatz ist meist größer als der deutsche. Perfekt vorbereitet also auf die Zukunft, komme was wolle. Denn sie sind die Elite von morgen. Das Gefährliche: All das ist den Demonstranten meist gar nicht bewusst.

„Sie werden ihr Praktikum in Brüssel und nicht in Bottrop machen. Lieber EU-Kommission als Einzelhandel. Der wird zukünftig eh keine Chance mehr haben.“

Die gutgebildeten „Fridays for Future“-Demonstranten sehen sich selbst lieber als unverstandene Außenseiter der Gesellschaft. Außenseiter sein, erst das macht das Rebellentum sexy. Dabei denke ich mir: Was muss ein sozial Abgehängter denken, wenn sich auf einmal wohlhabende Kosmopoliten in der Rolle des Außenseiters gefallen! Und sie gefallen sich nicht nur in ihr. Nein, sie inszenieren sie regelrecht. Die klassische Rollenzuteilung zwischen „Täter“ und „Opfer“ wird dadurch gleichsam in fahrlässiger Art und Weise auf den Kopf gestellt: Nicht länger die alleinerziehende Mutter und Multijobberin wird als Opfer der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen, sondern der klimabewusste Stipendiat und Einser-Abiturient, der erleben muss, wie Billigfleisch-Konsum unsere Umwelt gefährdet.

Doch damit noch nicht genug: Statt den Sorgen hart arbeitender Menschen Gehör zu schenken, wird diesen auch noch ihr umweltfeindliches Dieselauto, das sie für die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz benötigen, zum Vorwurf gemacht. Statt Gerechtigkeitsfragen bei „Fridays for Future“ mitzubedenken, reduzierte sich die Bewegung von Anfang an rein auf Fragen des Lebensstils. Auch in meinem Freundeskreis ist Artensterben einfach cooler als Altersarmut. Ist das Thema Gender hipper als Grundrente.

Vor allem Privilegierte kennen den sozialen Kodex des neuen „moralisch guten“ Lebens. Der neue grün-bürgerliche Habitus regelt das Freund-Feindschema der Klimadebatte. Ein Ausgrenzungsmechanismus, der ohnehin schon schlechter gestellte Menschen oft noch weiter ins Abseits befördert. Ein guter Mensch ist längst, wer ein ökologisch einwandfreies Führungszeugnis vorzeigen kann. Das existenzielle Gefühl vieler, einfach nur irgendwie über die Runden kommen zu müssen, kommt in der Lebenswelt des (groß-)bürgerlichen Nachwuchses nicht vor.

In der Klimadiskussion der letzten Jahre treffen Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Welten, die sich immer weiter auseinanderbewegen. Nicht nur, aber gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise.

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