08.08.2011

Die guten Rechte schlechter Leute

Kommentar von Horst Meier

Aktuell wird mal wieder über ein Verbot der rechtsextremen NPD diskutiert - diesmal mit den Anschlägen von Norwegen als Vorwand. Aber demokratische Normalität praktizieren heißt, auch Neonazis die vollen Bürgerrechte zuzugestehen. Ein grundsätzlicher Einwand.

„Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.“
(Karl Marx 1842 in seiner Polemik gegen die preußische Pressezensur)


Wie soll, wie darf der demokratische Verfassungsstaat gegen seine Gegner vorgehen? Wie kann er als Ordnung der Freiheit systemgerecht verteidigt werden? Darüber nachzudenken ist für das, was man in der Weimarer Republik unverblümt „Staatsschutz“ nannte, grundlegend. Doch solange die Debatte in den ideologischen Bahnen einer Verfassungstreue befangen ist, die gesinnungs- statt verhaltensbezogen definiert wird, sind neue Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie nicht zu gewinnen. Das Grundgesetz bezeichnet seinen Kern als „freiheitliche demokratische Grundordnung“ und kennt Instrumente des vorbeugenden Verfassungsschutzes: Die Grundrechte kann nach Artikel 18 verwirken, wer sie „missbraucht“; außerdem gibt es das Parteiverbot nach Artikel 21, das mit bloßen verfassungswidrigen Zielen begründet werden kann.

Diese „streitbare Demokratie“ ist schon vom Ansatz her illiberal, weil sie unliebsame Teilnehmer am politischen Wettbewerb, obgleich diese im Rahmen der Legalität agieren, je nach Bedarf als „Extremisten“ ausgrenzen kann. Seit ihren Anfängen ist die freiheitliche demokratische Grundordnung eine wohlklingende Leerformel, deren Inhalt nicht ihre Anwendung, sondern deren Anwendung ihren Inhalt bestimmt: So wird jedermann irgendeines anderen Verfassungsfeind.

Die Alternative zu diesem verwitterten Anti-Extremismus heißt Republikschutz und zielt darauf ab, die in Deutschland seit je schwach ausgebildete Tradition bürgerlich-liberalen Verfassungsdenkens zu stärken. Republikschutz meint im Gegensatz zum landläufigen Verfassungsschutz eine Theorie und Praxis, die aus dem Nebel der Prävention in die Klarheit der Gefahrenabwehr gelangt. Verfassungsschutz bekämpft anstößiges „extremistisches“ Gedankengut, also schon die Gesinnung angeblicher Verfassungsfeinde; Republikschutz dagegen bekämpft politisch motivierte Gewalttaten und deren konkrete Androhung oder nachweislich gefährliche Hasspropaganda, also erst das strafbare Verhalten von Verfassungsgegnern.

Dreh- und Angelpunkt des Republikschutzes ist das Gewaltkriterium. Es markiert eine so rigide wie liberale Grenze des politischen Wettbewerbs. Indem es auf eine konkret nachzuweisende Gefahrenlage abstellt und damit die Eingriffsschwelle hoch setzt, bietet es dem Kampf um Meinungen und Macht ein Maximum an Freiheit. Republikschutz ist politisch neutral, weil er nicht auf den stets umstrittenen „extremistischen“ Inhalt, sondern auf die Form von Politik abstellt. Vollmundige Parolen gegen das System und andere Verbalradikalismen sind Teil der offenen Debatte. Jene aber, die Gewalt ins Spiel bringen, darf der Staat rechtsförmig unterdrücken, denn sie handeln verfassungswidrig. Alle Erfahrung zeigt: Je weiter sich ein Denken vom Gewaltkriterium entfernt, desto bedenkenloser ist die dahinterstehende Neigung, anstößige Meinungen, provozierende Kundgebungen und schrille Oppositionsparteien zu unterdrücken.

Bürgerrechte sind unteilbar, sie werden nicht nach Freund-Feind-Kriterien abgestuft. Das gilt für rechte wie linke Radikale gleichermaßen – auch im „Kampf gegen rechts“, der inzwischen zum Staatsziel avancierte. Nun wünschen sich heute aber nicht wenige eine einseitige antinazistische Grundordnung: Es stünde den Deutschen gut an, ausdrücklich jede neonazistische Bestrebung zu verbieten. Eine Initiative der PDS-Fraktion, das Grundgesetz um eine Antifa-Klausel zu ergänzen, mit der alle Versuche, „nationalsozialistisches Gedankengut wiederzubeleben“, kategorisch für verfassungswidrig erklärt werden sollten, scheiterte 2001 im Bundestag. Gleichwohl tut man seit Jahr und Tag so, als gäbe es einen solchen Vorbehalt. Krasses Beispiel: Das Verbot von NS-Propaganda und Hakenkreuz ist, obwohl vom Verfassungsgericht für unbedenklich erklärt, mit der Meinungsfreiheit schwerlich zu vereinbaren.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das, was der Parlamentarische Rat 1949 angeblich versäumte, nachholend in das Grundgesetz hineinzuinterpretieren. Zunächst wurde Artikel 139 strapaziert: Er besagt, dass die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Gesetze von der Geltung der Grundrechte ausgenommen werden. Daraus wurde etwa ein apriorisches Verbot der NPD abgeleitet. Indes hat die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff bereits 1988 überzeugend dargelegt, dass Artikel 139 Entnazifizierungsgesetze westdeutscher Länder betraf, deren Maßnahmen allesamt längst beendet wurden. (1)

Später unternahm das Oberverwaltungsgericht Münster hartnäckige Versuche, aus dem polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Ordnung“ antinazistischen Mehrwert zu schlagen und rechtsradikale Versammlungen zu verbieten. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht ebenso hartnäckig zurückgewiesen. Der vorläufig letzte Versuch, das Grundgesetz antinazistisch aufzuladen, geht auf das Verfassungsgericht selbst zurück. In seiner Wunsiedel-Entscheidung vom 4. November 2009 erklärte es die neueste Verschärfung des Volksverhetzungsparagrafen für verfassungsgemäß und damit das Verbot des Heß-Gedenkmarsches für rechtens. Dabei handele es sich zwar um „Sonderrecht“, das bestimmte Meinungen ächte, es sei aber ausnahmsweise trotzdem verfassungskonform: eben weil dem NS-Regime für das Selbstverständnis der Bundesrepublik eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ zukomme. (2)

Einerlei, wo die juristische Konstruktion der politischen Diskriminierung ansetzen mag – die Rücknahme von Bürgerrechten kann nur durch eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments legitimiert werden. Nun fragt sich allerdings, ob eine solche Verfassungsreform überhaupt sinnvoll ist. Ist es nicht an der Zeit, demokratische Normalität zu praktizieren und bürgerliche Freiheit voll zu entfalten?

Die Verfassungspraxis in den USA liefert einen so drastischen wie spannenden Anschauungsunterricht. Dort wird die Betätigung von Neonazis nach denselben Kriterien beurteilt wie die jeder anderen politischen Richtung: Für die Freiheit der Rede spricht eine Vermutungsregel, Eingriffe dürfen nicht mit dem Inhalt begründet werden, und „Hate Speech“ wird einem strengen „Clear-and-present-danger-Test“ unterzogen. (3) Daher gibt es eine winzige legale National Socialist Party of America, manchmal Aufmärsche von Braunhemden mit Hakenkreuzarmbinde und eine ungehemmte Agitation im Internet. Für Deutschland scheint das undenkbar. Die Berufung auf deutsche Verhältnisse ist verständlich, aber als Beharren auf einem Sonderweg längst Teil des Problems geworden.

Wer das amerikanische Modell zum Vorbild nimmt, dem tut sich, was die volle Entfaltung der Kommunikationsgrundrechte anbelangt, ein inspirierendes Rechtsgefälle auf. Man mag hierzulande einige vergangenheitspolitisch motivierte Abstriche machen – doch nicht, um die Nerven der guten Deutschen zu schonen, sondern allein mit Blick auf das, was man den Nachkommen der Opfer im Namen der Freiheit aller zumuten darf. Einem Verfassungsdenken nach Auschwitz wäre die Aufgabe gestellt, dem Gedächtnis beharrlich verpflichtet zu bleiben und zugleich die Bürgerrechte radikal ernst zu nehmen.

Die Konsequenz, Freiheit für Hakenkreuzler und Auschwitzleugner, ist bis auf Weiteres eine ultimative Provokation, wird sich aber politisch und polizeilich einigermaßen handhaben lassen. Sobald unsere Neonazis nicht mehr die verfolgte Unschuld spielen können – weil sie als „politische Gefangene“ einige Jahre wegen Volksverhetzung absitzen dürfen wie Ernst Zündel oder Horst Mahler –, sondern sich auf dem Marktplatz der Ideen bewähren müssen, werden sie auf das ihnen eigene Maß schrumpfen. Auch das Spektakuläre nutzt sich ab. Die Reporter werden sich überlegen, ob sie zum siebten Mal ausrücken, nur weil schon wieder einige Gestalten mit einem Hakenkreuz gesichtet wurden.

Die Konjunkturen der innerstaatlichen Feinderklärung schwanken. In Deutschland, wo der Feind lange genug links stand, wird er heute eher rechts ausgemacht. Für Liberale hat es beste Tradition, die guten Bürgerrechte schlechter Leute zu verteidigen. Zum Beispiel Aryeh Neier: geboren 1937 in Berlin als Kind jüdischer Eltern, mit diesen 1939 über England in die USA geflüchtet, Jurist, von 1970 bis 1978 Executive Director der American Civil Liberties Union (ACLU). Neier verteidigte das Recht von Neonazis, in Skokie bei Chicago, wo damals viele Holocaust-Überlebende wohnten, zu demonstrieren. Die Wellen der Empörung schlugen landesweit hoch. Am Ende war die von der ACLU organisierte Rechtshilfe zwar in allen Instanzen erfolgreich, aber die Bürgerrechtsorganisation verlor mehr als 15 Prozent ihrer Mitglieder. Ein zu hoher Preis? „Für die Verteidiger der Freiheit wäre es wirklich angenehmer, sich um die Fälle einer besseren Klasse von Opfern zu kümmern“, schrieb Aryeh Neier 1979 in Defending My Enemy: „Wenn wir aber warten, bis nette Leute verfolgt werden, kann es schon zu spät sein. Freiheit muss da verteidigt werden, wo sie verweigert wird.“

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