01.05.2005
Die Freiheit der NPD
Analyse von Horst Meier
Horst Meier argumentiert gegen das Verbot von Rechtsradikalen.
Neonazis rüsten fleißig für ein neues 33“ – Aufkleber mit dieser Parole tauchten über Nacht an der Schule auf und eröffneten unverhofft die schöne Aussicht, ein paar Stunden zu verpassen. „Demo“ – das klang dem 15-Jährigen damals wie ein Zauberwort in den Ohren. Außerdem schien die Sache wirklich gefährlich: Die NPD war schon in sieben Landtage eingezogen. Nun stand die Bundestagswahl bevor, und es sah so aus, als könnte sie die Fünfprozenthürde überspringen. Das wäre nicht nur eine Schande für das Ansehen Deutschlands in der Welt, sondern auch ziemlich schlecht für Willy Brandt, der doch unbedingt unser Bundeskanzler werden sollte. Am meisten beeindruckten den Schüler die in KZ-Anzüge gekleideten steinalten Demonstranten, die mit Donnerstimme versicherten, sie hätten in Buchenwald am eigenen Leibe verspürt, wohin der „braune Spuk“ führe. „Nie wieder!“ hieß die Parole des Tages.
Das war 1969. Mit dem „neuen 33“, der zweiten Machtergreifung also, sind die NPD-Leute bekanntlich nicht weit gekommen, aus dem befürchteten Einzug in den Bundestag wurde nichts. Ja, man kann sagen, ihr damals einsetzender Absturz in die Bedeutungslosigkeit machte sie mit der Wirklichkeit dieser verhassten Republik bekannt.
Gemessen an dem, was nach der Befreiung, die von außen geschehen musste, an Demokratie möglich erschien, ist die westdeutsche Nachkriegsentwicklung eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Die gegenwärtige Renaissance der NPD nimmt sich dagegen bescheiden aus. Heute sitzen zwölf NPD-Abgeordnete im sächsischen Landtag. Sie sagen das, was ihresgleichen schon immer gesagt haben: sie sind traurige Gestalten am rechten Rand, die, so schrill sie sich auch aufführen mögen, weit davon entfernt sind, die Demokratie zu gefährden. Warum also die Aufregung?
Dass rechtzeitig zum 8. Mai eine „Lex NPD“ zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch sämtliche Lesungen gepeitscht sowie ein mit dürftigen Anträgen eingeleitetes, im V-Leute-Sumpf stecken gebliebenes Verbotsverfahren wieder angeschoben werden soll – weniger begeistert denn pflichtschuldig –, spricht nicht gerade für die Urteilskraft der politischen Klasse.[1] Der Bundeskanzler verspricht, einen neuen Verbotsantrag prüfen zu lassen. Der Bundespräsident kehrt aus Israel zurück und behauptet, zur politischen Auseinandersetzung mit der NPD gehöre die Prüfung der Verbotsfrage. Was aber gibt es da zu prüfen?
Seit März 2003 sind kaum zwei Jahre vergangen: es soll einer mal klipp und klar aufzählen, was die NPD-Leute seitdem, abgesehen von ihrer etwas unterbelichteten Agitation, eigentlich angestellt haben. Sicher, es gibt gewisse Anhaltspunkte für Bündnisse mit „gewaltbereiten“ Neonazis und Skinheads. Sie werden meist aufgebauscht, man kennt das. Bei näherem Hinsehen findet sich wenig Gerichtsverwertbares. Im Kern ist die Partei eine deutschtümelnde Nationalistensekte mit rassistischen und antisemitischen Einschlägen, die personelle und aktionsbezogene Berührungspunkte zu Neonazis aufweist. Die deutsche Demokratie koexistiert mit dieser Partei seit 1964 recht komfortabel. Worin also liegt die Gefahr?
Ohne Zweifel, der Auftritt der NPD-Abgeordneten im sächsischen Landtag, die eine Gedenkminute für die Opfer des Nationalsozialismus boykottierten, war eine üble Provokation. Aber seit wann sind politische Provokationen ein Verbotsgrund? Die Sonntagsredner rühmen unsere Demokratie als Paradies der Meinungsfreiheit und Bürgerrechte, als Hort ungehemmter Opposition, als Forum des friedlichen Wettbewerbs der Parteien. Doch kaum bezeichnen einige „Nationaldemokraten“ die alliierten Luftangriffe auf Dresden als „kaltblütig geplanten industriellen Massenmord an der Zivilbevölkerung“ und versteigen sich in Analogien wie „Bomben-Holocaust“, schon kommt hierzulande eine bange Frage auf: Muss man sich das anhören? Ist solches Treiben wirklich erlaubt?
„Sollte es demokratiefeindlich sein, sich dem Erinnerungs- und Gedenkzwang zu entziehen?“
Am übelsten, so scheint es, nimmt man diesen Leuten ihre Sabotage der etablierten Gedenkveranstaltungen: Die verlassen demonstrativ den Saal, wenn anständige Leute der Opfer des Holocaust gedenken? Pfui Teufel! Lässt sich das nicht irgendwie verbieten? Nach Art. 21 Abs. 2 GG können Parteien als „verfassungswidrig“ verboten werden, „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. Auch wenn Juristen allerhand hineininterpretieren können: da steht einfach nichts vom „richtigen“ Umgang mit der Geschichte. Wessen wie zu gedenken sei, ist keine verfassungsrechtliche Frage – Gedenkverweigerung mithin kein Verbotsgrund. Und widerliche Aufrechnungsmentalität auch nicht: unsere Toten in Dresden gegen eure Toten in Auschwitz.
In Zeiten, da die Leidensgeschichte der deutschen Vertriebenen und Luftkriegsopfer wiederentdeckt wird, spitzen sich „Erinnerungskonkurrenzen“ und „Erinnerungskonflikte“ zu.[2] Unterdessen schielt eine moralisch selbstgerechte Mehrheit auf die rechtsbewehrte Statuierung einer (in Anführungszeichen) Gedenkkultur. Sicher, es gibt Maßstäbe des politischen Anstands. Man kann über sie streiten. Man muss es, wenn sie ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt haben. Nur eines ist so aussichtslos wie anmaßend: das Erinnern und Gedenken anderer zu erzwingen.
Wie aufklärend es wirkt, dass wenigstens im Parlament die freie Rede kompromisslos geschützt wird – dies zu bemerken könnte ein Kollateralnutzen des Eklats sein. Da haben selbst Parlamentarier etwas zu lernen. Denn kaum hatten Grüne und CDU im sächsischen Landtag nach dem Staatsanwalt gerufen, wurden sie von diesem mit dem Hinweis auf die Indemnität eines Besseren belehrt. Nach Art. 46 GG und entsprechenden Regeln in den Verfassungen der Länder darf ein Abgeordneter „zu keiner Zeit“ wegen einer Äußerung im Parlament „gerichtlich oder dienstlich verfolgt werden“.
Weil man sich aber hierzulande an Paragraphen gewöhnt hat, die die Meinungs- und Redefreiheit einschränken, findet man gar nichts dabei, dass als Volksverhetzer bestraft wird, wer den NS-Völkermord öffentlich „billigt, leugnet oder verharmlost“.[3] Kann es angehen, dass Parlamentarier freier reden dürfen als einfache Bürger? So kommt es, dass der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion einen Antrag auf Änderung des Grundgesetzes ankündigte. Danach will man die Volksverhetzung von der Indemnität ausnehmen – auf dass gewissen Parlamentariern das Maul gestopft werde.
Aber wo, wenn nicht im Parlament, wäre der richtige Ort, sich mit Rechtsradikalen „geistig“ auseinander zu setzen? Hier muss ganz exemplarisch der offene Diskurs, die harte politische Debatte geführt werden. Mit allen über alles. Wer sich außerstande sieht, mit Rechtsradikalen über die Todesstrafe oder die Internierung von Flüchtlingen oder die Holocaust-Gedenkstätte oder den angloamerikanischen Luftkrieg zu streiten, sollte schleunigst vom Parlament ins Grundbuchamt wechseln.
Dabei sind die Abgeordneten dieser Parteien noch das kleinere Problem. Schlimmer sind die, die solche nationalen Talente ohne Rücksicht auf Verluste wählen. Eine Partei kann man verbieten. Man kann aber Wählern nicht verbieten, die „falsche“ Partei zu wählen. Seit langem ist bekannt, dass es in allen Demokratien einen ziemlich konstanten Bodensatz von latenten Rassisten, Antisemiten und Antidemokraten gibt. Solche Zeitgenossen muss man ertragen. Was sonst? Man kann sie doch nicht alle erschießen oder ausweisen! Man kann sie doch nicht alle umerziehen oder einsperren! Man kann sie doch nicht alle durch Sozialarbeiter belagern lassen oder von den Wahlen ausschließen! Demokraten sollten sich daher auf den Ernstfall einstellen: dass sich auch hierzulande eine parlamentarische Rechte etabliert.
Aber wo man schon mal beim Verbieten ist, fällt einem stattdessen ein, dass sich diese Leute ja zuweilen auf unsere Straßen wagen. Schon seit Jahren graust nicht wenige Innenpolitiker die Vorstellung, NPD-Horden könnten einmal mehr durchs Brandenburger Tor ziehen oder gar an der Holocaust-Gedenkstätte ihre Geisteshaltung vor aller Welt demonstrieren.[4] Also zieht Innenminister Otto Schily eine Vorlage zur Verkürzung der Versammlungsfreiheit aus der Schublade: Eine Demonstration, die „an einem Ort stattfindet, der in eindeutiger Weise an die Opfer einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnert und die geeignet und dazu bestimmt ist, diese menschenunwürdige Behandlung zu billigen, zu leugnen oder zu verharmlosen“, soll verboten werden können. Lea Rosh hat die Besitzansprüche der guten Deutschen auf das Holocaust-Denkmal mit der Forderung nach einer Bannmeile verbunden und erklärt: „Ich hätte es nicht gerne, wenn die NPD hier aufmarschiert und Faxen macht.“[5]
Der gereizten Verbotsdebatte um die NPD, die seit einigen Jahren schwelt, fehlt ein Mindestmaß an Klarheit und Entschiedenheit. Man traut sich weder, richtig zu verbieten, noch richtig die offene politische Auseinandersetzung zu führen. Also „prüft“ man abwegige Verbotsanträge und rührt im grauen Brei der Empörung – bis zum nächsten Mal. Neuland ist nicht in Sicht im Umgang mit unseren rechtsradikalen Mitbürgern. Ihre Provokationen wecken nicht etwa demokratisches Selbstbewusstsein und Streitlust, sondern Ausgrenzungsreflexe und eine erstaunliche Angst vor der Freiheit.
Halten wir dagegen fest: Es gibt heute so wenig einen vernünftigen Grund, die NPD zu verbieten, wie vor drei, zehn oder zwanzig Jahren. Eine legale Partei darf aber nicht nur demonstrieren, sondern auch gleichberechtigt von der Parteienfinanzierung profitieren und alle Rechte der (außer-)parlamentarischen Opposition ausschöpfen.[6] Anstatt das zu bejammern, könnte man sich vielleicht auf die nahe liegende Möglichkeit besinnen, diese „unerträglichen“ Leute, solange sie friedlich bleiben, in alle nur erdenklichen Formen der demokratischen Willensbildung einzubeziehen. Genau dies aber empfindet eine Mehrheit als Zumutung: Mit solchen Leuten spricht man nicht! Mehr noch als über einzelne Provokationen zeigt man sich indigniert, dass es Parteien wie die NPD überhaupt gibt.
„In der Verbotskoalition trifft sich der gute alte autoritäre Staat der 50er- und 60er-Jahre mit den antifaschistischen Ausgrenzungsreflexen im Amt ergrauter Achtundsechziger.“
Das Schlimmste zum Schluss: Die „hohen Hürden“, die nun vielfach beklagt werden, sind keine. Schily und die Innenminister in den Ländern müssten nur ihre V-Leute, mit denen sie die NPD nach wie vor infiltrieren und bespitzeln lassen, beizeiten zurückziehen: Dann stünde einem neuen Verbotsantrag nichts im Wege. So nachzulesen im Einstellungsbeschluss des Verfassungsgerichts vom 18. März 2003. Aber dazu sind die Innenminister ebenso wenig bereit wie zu einer grundlegenden Reform ihrer so nutzlosen wie illiberalen Überwachungspraxis.
Ob sich am Ende eine Mehrheit von sechs Verfassungsrichtern findet, die ein Verbotsurteil trägt, ist eine andere Frage. In der Staatsrechtslehre ist immerhin umstritten, ob abstrakte Gefahren für die „Grundordnung“ genügen, eine Partei zu verbieten.[7] So darf man hoffen, dass der ideologische Verfassungsschutz, wie er im KPD-Urteil von 1956 zelebriert wurde, heutzutage nicht einfach recycelt wird. Aber man sollte nicht allzu viel auf den Fortschritt der Selbstaufklärung setzen, wenn es ums Allerheiligste der westdeutschen Staatsreligion geht: die Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Gegen deren „Feinde“ werden rechtsstaatliche Skrupel leicht fallen gelassen.
Vorherrschend ist nach wie vor ein von konkreten Gefahren losgelöstes Präventionsdenken. Deshalb sind die Verbotsbefürworter durch die Bank weg auf die anstößigen „Ziele“ einer Partei fixiert. Ohne zu reflektieren, dass Art. 21 Abs. 2 GG eine demokratieverträgliche Alternative bietet: das gewaltsame „Verhalten ihrer Anhänger“. Weil aber unsere „streitbaren“ Demokraten nichts davon wissen wollen, dass Militanz der einzig diskutable Grund ist, eine Partei zu illegalisieren, verfallen sie bei jeder Gelegenheit in begriffslose Verbotsschwafelei. Ihr Verständnis von Freiheit hält keiner wirklichen Belastungsprobe stand.
Hier trifft sich der gute alte autoritäre Staat der 50er- und 60er-Jahre mit den antifaschistischen Ausgrenzungsreflexen im Amt ergrauter Achtundsechziger. Es gibt viele Arten, eine Partei zu diskriminieren; die wenigsten davon sind in dieser Demokratie erlaubt. Darum ist es so wichtig, auch die Freiheit der NPD zu verteidigen: Die Frage, wie weit legale Opposition gehen darf, betrifft die Freiheit aller.