14.12.2011

Die Europäische Union zeigt Risse. Gut so!

Analyse von Bruno Waterfield

Es ist richtig, dass der britische Premier Cameron die Änderung des Lissaboner Vertrags hat platzen lassen. Dies ist ein ermunterndes Zeichen gegen die erdrückenden Routinen der EU. Gerade jetzt braucht Europa einen offen ausgetragenen politischen Interessenstreit

Der britische Premierminister David Cameron hat sich gegen Änderungen am Vertrag von Lissabon gestellt und dadurch einen Bruch in der Europäischen Union bewirkt. Das ist gut für uns alle. Es zeigt sich, dass sich echte Politik gegen die sklavischen Routinen des Eurolandes behaupten kann. Bis der Riss überdeutlich zu Tage trat, setzte die EU alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel ein, um neue Tatsachen zu leugnen und ihre gescheiterten Doktrinen in einer veränderten Welt aufrechtzuerhalten.

Im Laufe der nächsten Wochen wird das EU-Establishment alles daran setzen, den Riss in der EU zu entpolitisieren. Man wird versuchen, die Brüche in der Union mit den für sie so typischen bürokratischen Frömmeleien und Eitelkeiten zu übertünchen. Schon kurz nach Ende des Gipfels (am Sonntag) warf die ehemalige Führungsfigur von Camerons eher EU-freundlichen liberaldemokraitschem Koalitionspartner, der Ex-UN-Statthalter in Bosnien Lord Paddy Ashdown, dem britischen Regierungschef vor, „als Anführer der Konservativen Partei und nicht als britischer Premierminister gehandelt zu haben.“

Ashdowns Auffassung nach hat Cameron sein Land verraten, weil er den üblichen euroskeptischen Verdächtigen innerhalb der konservativen Fraktion zu sehr entgegengekommen sei. Für Ashdown kommt es jetzt vor allem darauf an, was als nächstes passiert. Wenn die britische Regierung umsichtig handle und die eigentlichen britischen Interessen wieder über diejenigen der 81 Euro-Rebellen in der Konservativen Partei stelle, könne der angerichtete Schaden ausgeräumt werden. Großbritannien könne seinen Einfluss nutzen, um nach Europa zurückzukehren und so zur Stabilisierung der Lage beitragen. Aber Ashdown betont auch, dass sich die Sache in eine ganz falsche Richtung entwickle und dass dies von den Leuten, sehr, sehr gut verstanden werden müsse.

In Großbritannien hat der Kampf darum begonnen, in welchem Modus Politik heute gemacht werden soll. Es geht darum, ob sich eine demokratische Politik mit erkennbaren Zielen und Positionen, die auf den offenen Widerstreit in der öffentlichen Arena setzt, gegen einen technokratischen Politikstil durchsetzen kann, der hinter verschlossenen Türen vollendete Tatsachen schaffen möchte. Man muss kein unglaubwürdiger euroskeptischer Tory sein, um die Konfliktlinie zu erkennen, die hier hervortritt: Politik in der Öffentlichkeit – oder weitere bürokratische Mauscheleien hinter verschlossenen Türen.

Wie ich kürzlich bei NovoArgumente argumentiert habe, haben sich die bisherigen Verfahrensweisen in der EU als zunehmend destruktiv erwiesen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, die gegenwärtige Wirtschaftskrise anzuheizen. Denn eine zentrale Rolle der EU-Institutionen besteht darin, zu versuchen, unbequeme wirtschaftliche und demokratische Tatsachen einfach zu leugnen.

Um zu verstehen, warum an sich banale Brüsseler Verhandlungen - die X-te Neuauflage der unendlichen Geschichte „Deutschland fordert eine Vertragsveränderung und die Briten verlangen für ihre Zusage eine Gegenleistung“ – diesmal zu einem Bruch der Europäischen Union führten, lohnt es sich, ein wenig tiefer zu bohren.

Cameron wurde zum Buhmann der europäischen Eliten, weil er in ihrer Wahrnehmung „Parteipolitik“ über die bürokratischen Routinen der EU-Politik gestellt hat. Camerons Verhalten sei ein „Akt beispielloser Dummheit“, meint etwa Will Hutton vom britischen Observer und spiegelt damit auch eine weit verbreitete Meinung auf dem Kontinent wider. Cameron unterliege einer gravierenden Fehleinschätzung, wenn er meine, Politik ausschließlich für den Londoner Finanzplatz und den nationalistischen Flügel seiner Partei machen zu können.

Solch schrille Attacken aus dem eigenen Land (es gibt viele davon), die Cameron bezichtigen, gegen eigene nationale Interessen zu handeln, zeigen letztlich nur, wie sehr das, was in Großbritannien als Allgemeinwohl gilt, mittlerweile von einer Kaste unkündbarer Regierungsbeamter definiert wird und nicht, wie es doch eigentlich sein sollte in einer wirklichen Demokratie, durch öffentlich ausgetragenen Parteienstreit um die Gunst der Wähler. Die EU hat sich als Mechanismus erwiesen, mit dem die demokratische Öffentlichkeit umgangen oder sogar übergangen werden konnte. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wurde die politische Willensbildung immer mehr aus den dafür legitimierten Institutionen herausgezogen. Stattdessen verhandelt man entscheidende öffentliche Fragen lieber an Orten, wo man „unabhängig“ von der Öffentlichkeit agieren kann. Das wichtige Prinzip der demokratischen Rechenschaftspflicht wurde so mehr und mehr ausgehebelt.

Natürlich haben Kommentatoren wie Will Hutton Recht damit, das Beharren der britischen Regierung auf den protektionistischen Privilegien der City of London während der EU-Verhandlungen zu kritisieren. Doch dabei vergisst er den viel wichtigeren Punkt, dass das „Protokoll für Finanzdienstleistungen“, welches Cameron im Austausch Großbritanniens Zustimmung zum Vertrag einbrachte, nicht von Tory-Ideologen oder ihren feinen Banker-Seilschaften stammte. Es stammt aus den Tiefen des bürokratischen Apparats. Jon Cunliffe – ein gestandener Finanzbeamter, der sowohl unter Tory- und Labourregierungen diente und im nächsten Jahr Großbritanniens neuer Ständiger Vertreter in der EU sein wird - zeichnet dafür verantwortlich

Cameron hatte also eine Forderung vorgelegt, die auf einem „nationalen Interesse“ beruhte, das allein von einem durch keinerlei Wahl legitimierten Regierungsbürokraten formuliert wurde; er entschloss sich dann zum “Veto”, weil Deutschland und Frankreich sich weigerten, überhaupt darüber zu verhandeln - und Cameron eine Rebellion in den eigenen Reihen fürchten musste, wenn er mit leeren Händen nach Hause gekommen wäre.

Nach Ansicht von Will Hutton hat Cameron die Todsünde begangen, politische Abwägungen über die sogenannte Expertise der EU-Technokraten zu stellen. Cameron handelte aus politischem Interesse und stand somit im Widerspruch zur isolierten Entscheidungsfindung der EU-Oligarchen und Zentralbanker. „Wenn der Euro zerbricht, weil sich die Teilnehmerstaaten wegen Camerons Veto außerhalb der formellen EU-Verträge und Institutionen bewegen müssen und deshalb nur ungeschickt und langsam handeln können, würde die daraus resultierende Serie von Bankenpleiten und einer konsequent folgenden Depressionen Großbritannien schwer treffen.”, lamentiert Hutton.

Zum Riss innerhalb der EU kam es, weil die Euro-Krise und die Rivalitäten zwischen den Weltmächten (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) nur wenig Raum für bürokratische Manöver ließen – und deshalb brach der Konflikt vor aller Öffentlichkeit aus. Die großen Verschiebungen der vergangenen Wochen sind tatsächlich Ausdruck einer sich verändernden Realität. Anders als früher wurde diese Realität diesmal nicht mit Euro-Scheinheiligkeiten unterdrückt.

Die meisten Berichte über das Scheitern der Gespräche von letzter Woche folgen der technokratischen Lesart, wonach Cameron sich schlichtweg “verrechnet” habe. Als ob es hier nur um Rechenschiebereien oder Kalkulationen ginge! In Wahrheit hat Cameron ebenso wie seine deutschen und französischen Counterparts eine politische Entscheidung getroffen. Es war eine ungewöhnliche Entscheidung, denn sie offenbarte, dass die Strukturen der EU nicht mehr in der Lage sind, widerstreitende Interessen am Brüsseler Konferenztisch zusammenzuführen oder wenigstens zu überspielen. Wenn die EU letzte Woche normal gearbeitet hätte, dann hätten wir mit ziemlicher Sicherheit gar nichts von der Debatte mitbekommen – dafür wäre uns, den kindischen Bürgern mit all ihren störenden politischen Neigungen, ein weiterer Plan zur Weltrettung, wahrscheinlich mit noch kürzerer Lebensdauer als der Letzte, präsentiert worden.

Die Folgen des gescheiterten Gipfels sind noch unklar. Viel wird davon abhängen, ob Cameron sich ins Abseits stellt, wie die Funktionäre dies wünschen, damit sich die EU-Institutionen ungestört der neuen Euro-Plus Gruppe widmen können. Einige wichtige Europapolitiker sprechen bereits darüber, die EU als Waffe zur Bestrafung der britischen Regierung zu nutzen. Die Briten sollen es bereuen, echte Politik höher zu gewichten als das abgekartete Spiel der Eurokraten. George Papandreou, ehemaliger griechischer Ministerpräsident, wurde schon für ein geringeres Vergehen von der EU aus dem Amt gedrängt. Gerade in solch einem Klima ist eine Politik, die auf öffentlich ausgetragenen Interessengegensatz setzt - ganz gleich welcher politischen Couleur - notwendig und wünschenswert.

Wir sollten uns über die Spaltung der EU freuen. Jede offene Debatte über den Euro und jede Unterbrechung der Kette von technokratischen Schnellschüssen, die die europäischen Gesellschaften zu zerreißen drohen, kann nur eine gute Sache sein. Europa steht vor einer sehr großen Krise - und nur der offene demokratische Streit, nicht noch mehr ausweichende technokratische Täuschungsmanöver, ist der Ausgangspunkt, um Lösungen für die Überwindung der Krise zu finden.

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