22.06.2016

Die EU tut nichts für Arbeitnehmer

Kommentar von Tom Slater

Titelbild

Foto: David Iliff (CC BY-SA 3.0 / bearbeitet)

Die Rechte der Arbeitnehmer werden in demokratischen Nationalstaaten eher gewahrt als in der EU, finden EU-skeptische britische Gewerkschafter und befürworten den Brexit.

„Es ist eine Beleidigung zu behaupten, unsere Rechte würden von der Europäischen Union geschützt und gewährleistet. Erzählen Sie das mal einem griechischen Arbeiter, einem italienischen Arbeiter, einem spanischen Arbeiter, oder irgendeinem aus den Beitrittsstaaten, denen gesagt wurde, dass ihr nationales System kollektiver Tarifverhandlungen verschwinden muss, wenn sie in die EU wollen. Oder Griechenland und den anderen, für die es hieß, dass die Abschaffung kollektiver Tarifverhandlungen eine Voraussetzung für die Rettungsschirme war.“

Doug Nicholls, der Vorsitzende der britischen Gewerkschafter gegen die EU (TUAEU), ist unbeeindruckt. Nicht nur wegen des erbärmlichen Zustands der Arbeitnehmerrechte in der Europäischen Union – einem der Gründe, warum die TUAEU, die euroskeptische Gewerkschafter aus ganz Großbritannien vertritt, den Brexit unterstützt – sondern auch von Labour, den Schreiberlingen des Guardian und sogar den Gewerkschaftsbossen, die sich für den Verbleib in der EU aussprechen, weil so Arbeitnehmerrechte geschützt würden.

Nicholls weiß, wovon er spricht. Nach seiner eigenen Schätzung ist er der am längsten amtierende Generalsekretär der Gewerkschaftsbewegung in seinem Land: Er saß der Gewerkschaft der Sozial- und Jugendarbeiter vor, er ist seit 2012 Generalsekretär eines gewerkschaftlichen Dachverbandes und gründete die TUAEU 2015.

Ich spreche zu einer Zeit mit Nicholls, als gerade Corbyns Labour-Partei und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften ihre Anstrengungen verdoppeln, bei den Linken Stimmen für den Verbleib Großbritannien in der EU zu sammeln. Er ist merklich verdutzt über das Verschwinden jeglicher Euroskepsis beim Führungspersonal der Arbeiterbewegung.

„Die Arbeitnehmer-Rhetorik linker Brexit-Gegnern hält der Überprüfung nicht stand“

Viel von der EU- und Arbeitnehmer-Rhetorik, die von den linken Brexit-Gegnern kommt, hält der Überprüfung nicht stand, erzählt er mir. Nicht zuletzt weil die Arbeitnehmerrechte in Großbritannien, die in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen hart erkämpft wurden, den von der EU gebotenen bei weitem überlegen sind. „Aufgrund der Geschichte der britischen Arbeiterklasse sind wir schon weit vorangeschritten“, sagt er. „Das Recht auf Urlaub wurde verglichen mit anderen Ländern hier schon sehr früh eingeführt […] Der Mindestlohn ist etwas typisch Britisches und findet sich nicht in europäischem Recht.“

Was ist denn mit der viel gelobten Europäischen Sozialcharta, jenem Vertrag des Europarates, in dem soziale und ökonomische Rechte bei Beschäftigung, Arbeits- und Elternzeit verankert sind? Laut Nicholls ist sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. „Noch nie hat mir die Europäische Union oder die Sozialcharta zur Seite gestanden, um mich bei Verhandlungen mit Arbeitgebern zu unterstützen.“, sagt er. „Die Rechte dort beziehen sich auf Informiert- und Angehörtwerden – Sie wissen schon, ‚wir sagen Dir dann schon Bescheid, wenn wir deine Fabrik schließen‘.“

Noch schlimmer ist jedoch, dass die EU in harten Zeiten den Arbeitern eins reinwürgt. Nicholls meint Griechenland sowie Ungarn und andere Beitrittsstaaten, wo Tarifverhandlungen – der Kern der Gewerkschaftsarbeit – im Austausch für den Beitritt bzw. für Rettungsschirme abgeschafft wurden. Da wäre dann noch die unbequeme Wahrheit, dass dieses angebliche Leuchtfeuer der Arbeitnehmerrechte über Millionen arbeitsloser Europäer scheint. „Wir sagen, dass es im Kapitalismus ein Grundrecht auf Arbeit gibt“, so Nicholls. „In der Europäischen Union gibt es 23 Millionen Arbeitslose, das ist so, als wäre die gesamte Bevölkerung Belgien und der Niederlanden zusammen arbeitslos.“

„Bei den Gewerkschaften wedelt der Schwanz mit dem Hund“

Das wirft die Frage auf, warum zahlreiche britische Gewerkschaften den Verbleib in der EU befürworten. „Schauen wir erstmal auf die Fakten“, antwortet Nicholls, „es gibt 150 offiziell registrierte Gewerkschaften, 52 davon sind mit dem Trades Union Congress (TUC, ein gewerkschaftlicher Dachverband) verbunden, von diesen sind wiederum 15 mit der Labour-Partei verbunden. Davon haben 13 – und nur 13 – erklärt, dass sie für den Verbleib sind. Von daher darf man fragen, ob hier nicht der Schwanz mit dem Hund wedelt. Aber sogar in den Gewerkschaften, die sich deutlich für den Verbleib aussprechen […] gärt viel Unmut über ihre Positionen zur EU und die meisten [Mitglieder] werden, wie es aussieht, für den Brexit stimmen.“

Über linke Aktivisten und Kommentatoren, die darauf beharren, dass die EU von innen reformiert werden und eine neue Arbeiterbewegung die EU in ein sozialistisches Utopia verwandeln könne, klingt Nicholls weitaus bissiger: „Es ist erbärmlich und sie haben keine Ahnung davon, wie die EU funktioniert. Die EU kann nur durch eine einstimmige Entscheidung ihrer 28 Mitgliedsstaaten reformiert werden. Also, wenn irgendjemand meint, dass er wie ein Messias alle 28 Mitgliedsstaaten davon überzeugen kann, einstimmig die kapitalistische Agenda abzuschaffen, dann sollte er vortreten und uns den Plan zeigen, wie das gehen soll. Die haben alle keinen solchen Plan. Denn sie wissen, dass dieses Aufgabe unlösbar ist.“

Video: Pro-Brexit-Film des britischen Novo Partnermagazins Spiked

Dass so viele Linke den Euroskeptizismus aufgegeben haben, aus Angst davor, dass der Brexit jetzt die Tories stärken und Großbritannien in eine „neoliberale Trauminsel“ verwandeln würde, findet Nicholls lächerlich: „So argumentieren die gleichen Leute, die auch die EU reformieren wollen. Einerseits sind sie arrogant genug anzunehmen, dass sie und ihre Unterstützer die 28 Mitgliedstaaten der EU mit ihren 500 Millionen Bewohnern reformieren können, andererseits haben Todesangst vor Boris Johnson [dem euroskeptischen, konservativen Ex-Oberbürgermeister von London]. Wie armselig ist das denn?“

Die Sympathie für die EU, die sich kurz vor Toresschluss bei der einst euroskeptischen britischen Linken breit macht, ist, für Nicholls „das größte Rätsel, seit ich in den 1970ern zur Arbeiterbewegung gestoßen bin.“ „Sie trägt alle Anzeichen“, sagt er, „der Angst vor dem Volk und es war ja die Angst vor dem Volk, aus der die EU hervorgegangen ist. […] Es war die Furcht vor der Macht des allgemeinen Wahlrechts, die sich in der Nachkriegszeit ausgedrückt hat. Es war die Angst vor jenen, die am meisten dazu beigetragen hatten, Europa vom Faschismus zu befreien.“

Das ist des Pudels Kern. Lässt man die Angstmache und Faktenhuberei, die bisher die Debatte bestimmt haben, beiseite, so geht es beim EU-Referendum um Demokratie – die altmodische Vorstellung, dass der Demos weise genug ist, um zu entscheiden, wer ihn regieren soll, und dass – in der Verlängerung – die Arbeiter die erforderlichen Mittel haben, um sich für ihre eigenen Interessen stark zu machen. Oder wie Nicholls es formuliert: „Es gibt noch ein anderes Recht, das die Arbeiter haben: das Wahlrecht. Das allgemeine Wahlrecht, das die Mehrheit gestärkt hat gegen die Minderheitsinteressen, ist ein Grundrecht, zu dessen Vorenthaltung, Verwässerung und Missachtung die Europäische Union gegründet wurde.“

Um dieses fundamentalste Arbeitnehmerrecht zu verteidigen, gilt es, morgen für den Brexit stimmen.

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