06.03.2023

„Die Einteilung nach Frisuren gehört nicht hierher“

Interview mit Peter Oestmann

Titelbild

Foto: rawpixel via Pixabay / CC0

Identitätspolitik gefährdet die Allgemeinheit im Recht. Gleiches Recht für alle und Gruppendenken stehen in einem Spannungsverhältnis, wie ein Rechtshistoriker und Zivilrechtler im Gespräch ausführt.

Christian Zeller: In den letzten Jahren wird viel über die sogenannte „Identitätspolitik“ diskutiert. Es handelt sich um eine Politik in westlichen Industrienationen, die bestimmten Gruppen in der Gesellschaft wie Menschen schwarzer Hautfarbe, Frauen und Trans- und Homosexuellen Gleichachtung und Gleichberechtigung sichern soll. Formuliert wurde das Konzept erstmals im Jahr 1977 von einer Gruppe lesbischer, schwarzer Frauen in der US-amerikanischen Empowerment-Bewegung, die sich das „Combahee River Collective“ nannte. In deren Manifest ist zu lesen: „Die Fokussierungen auf unsere eigene Unterdrückung ist verkörpert in dem Konzept der Identitätspolitik. Wir glauben, dass die profundeste und potentiell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt." Wie ordnen Sie aus der Perspektive des Rechtshistorikers den Umstand ein, dass Politik zunehmend an Merkmale wie Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Geschlecht anknüpfen soll?

Peter Oestmann: Juristisch und rechtshistorisch unterscheidet man das Personalitäts- und das Territorialitätsprinzip. Personalitätsprinzip bedeutet, dass sich der Rechtsstatus einer Person nach deren Stammes- oder Gruppenzugehörigkeit richtet. Territorialitätsprinzip meint dagegen, dass die Geltung von Recht von einer bestimmten Gebietszugehörigkeit abhängt, meistens also vom Staat. Dazu kommt die Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Verschiedenheit bestimmter Gruppen. Wenn man aber das Territorialitätsprinzip bejaht und die prinzipielle rechtliche Gleichheit befürwortet, bedeutet das jetzt wiederkehrende Gruppendenken immer einen Verlust an Allgemeinheit im Recht. Deswegen habe ich die Sorge, dass die früheren Nachteile des Personalitätsprinzips unter dem neuen Label des Minderheitenschutzes zurückkehren könnten.

Könnten Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Ich will ein historisches und ein aktuelles Beispiel geben. Das historische Beispiel stammt aus den 1950er Jahren aus der DDR. Da wurde der Wachmann eines Volkseigenen Betriebes wegen der sadistischen Tötung eines Hundes vorbestraft. Später sprach ihn das Oberste Gericht frei, weil er ein treuer Altkommunist gewesen sei. Da galt das allgemeine Strafrecht also nicht für verdiente Altkommunisten. Hier profitierte die Führungsschicht von der ungleichen Rechtsanwendung. Ein aktuelles Beispiel stammt dagegen von 2022. Die Musikerin Ronja Maltzahn sollte in Hannover auf einer Fridays for Future-Demonstration ein Konzert geben. Die Veranstalter sagten den Auftritt aber kurz zuvor ab, weil die Musikerin sog. Dread Locks hatte und mit dieser Frisur kulturelle Aneignung verkörpere. Die Details des Vertragsschlusses kenne ich nicht. Aber nach einem abgeschlossenen Rechtsgeschäft gibt es eng begrenzte Kündigungs- und Anfechtungsgründe. Die Einteilung der Menschen nach ihren Frisuren gehört eigentlich nicht hierher. Ein ähnlicher Fall wiederholte sich ein halbes Jahr später in der Schweiz.

„Ich sehe jetzt Bestrebungen, die immer allgemeinere Rechtsgeltung wieder aufzuspalten in partikulare Rechtskreise.“

Spannen wir den Bogen einmal weiter, um das Phänomen der Identitätspolitik in seiner historischen Tiefendimension zu verstehen. Könnten Sie in groben Umrissen skizzieren, wie in der Entwicklung Europas das Personalitätsprinzip, also die Anknüpfung des Rechts an den Status einer Person, vom Territorialitätsprinzip abgelöst wurde und was rechtlich und politisch damit einherging? 

Nach dem alten Personalitätsprinzip lebte ein Sachse nach sächsischem Recht und ein Franke nach fränkischem Recht unabhängig davon, wo er sich gerade aufhielt. Innerhalb des Stammesverbandes besaßen Fremde immer eine geminderte Rechtsstellung, teilweise sollen sie sogar rechtlos gewesen sein. In Mitteleuropa setzte sich das neuere Territorialitätsprinzip zunächst in mittelalterlichen Städten durch. Dort gab es eine Ratsherrschaft über das Stadtgebiet, und alle Stadtbewohner waren dieser Obrigkeit unterworfen, wenn auch in unterschiedlichen Gruppen (z. B. Bürger, Einwohner). In diesem System konnten Leibeigene, die in eine Stadt geflohen waren, sogar innerhalb von Jahr und Tag die persönliche Freiheit erlangen („Stadtluft macht frei“). Der Status der Rechtlosigkeit war damit überwunden. Politische Mitspracherechte hatte aber überwiegend nur das Bürgertum, meistens also Familien mit Grundeigentum.

Im 19. Jahrhundert wurden diese bürgerlichen Rechte, wie es der britische Soziologe Thomas H. Marshall beschrieben hat, ergänzt durch politische Rechte wie demokratische Beteiligungsmöglichkeiten, und im 20. Jahrhundert schließlich durch soziale Rechte. Das Maß an Rechtsgleichheit steigerte sich innerhalb eines Territoriums, gleichzeitig wurden den Menschen immer mehr und vielfältigere Rechte verliehen. Insofern war die Rechtsentwicklung eine Abkehr von partikularen Identitäten und eine Zunahme des Universalismus, der jedoch auf die Bürger eines bestimmten Territoriums beschränkt blieb und somit ein Spannungsverhältnis aus Menschenrechten einerseits und Bürgerrechten andererseits begründete. Menschenrechte wurden oft proklamiert, aber zugleich von eben jenen Nationen, die sie verkündeten, in eklatanter Weise verletzt, so in der Kolonialzeit gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, aber auch gegenüber Frauen sowie Homo- und Transsexuellen.

Aus diesem Widerspruch zwischen dem normativen Gehalt der Menschenrechte und ihrer unzureichenden Einlösung in der Realität ist meiner Einschätzung nach der moralische Impuls moderner Identitätspolitik geboren. Allerdings gefährdet sie nun durch die Art und Weise ihrer Durchsetzung die universalistischen Grundlagen, die ihr zur Überwindung des Widerspruchs aus proklamiertem Gehalt und faktischer Umsetzung verhelfen könnte. Insofern also dürften die jüngeren Vorstöße bezüglich einer die Gesellschaft wieder in Statusgruppen unterteilenden „Identitätspolitik" einen einschneidenden Vorgang im Prozess der Modernisierung darstellen. Könnten Sie beschreiben, welche juristischen Einfallstore Sie wahrnehmen, durch die „Identitätspolitik" heute zu einer Art Re-Feudalisierung der Gesellschaft im Namen der Gleichachtung von Minderheiten führen könnte?

Zunächst möchte ich Ihre Frage noch zuspitzen. Die Rechtsgeltung für Bürger eines bestimmten Territoriums ist nämlich zunächst noch ausgeweitet worden auf alle Bewohner des Gebietes, weil die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für rechtliche Unterscheidungen in der Moderne immer geringer wird. Ich sehe jetzt aber Bestrebungen, diese immer allgemeinere Rechtsgeltung wieder aufzuspalten in partikulare Rechtskreise.

Das beklemmendste Beispiel, das ich kenne, stammt aus Südamerika. Ich habe in letzter Zeit intensiven Kontakt zu einem Rechtsanthropologen aus Peru. Dort gibt es eine Vorschrift, wonach indigene Gemeinschaften nach ihren eigenen Rechtsgewohnheiten leben dürfen. Wenn sie aufgrund ihrer Gebräuche den Gehalt staatlicher Gesetze nicht erkennen können, entschuldigt sie dieser Irrtum unter anderem in strafrechtlichen Angelegenheiten. In der Praxis berufen sich Männer aus ländlichen Regionen, die minderjährige Mädchen sexuell missbraucht haben, häufig darauf, sie gehörten einer indigenen Gruppe an, in der solche Verhaltensweisen üblich seien und von den Mädchen auch hingenommen würden. Anthropologische Gutachten haben dann die Existenz der indigenen Gemeinschaft und ihrer Gewohnheiten bestätigt. Im Ergebnis konnten diese Männer nicht bestraft werden. Die Berücksichtigung der indigenen Identität benachteiligt in der Praxis damit Frauen und Minderjährige. Darüber spricht man nicht gern, aber innerhalb dieser besonderen Gemeinschaften gibt es oft eine Führungselite, die sich durch Verweis auf ihre Identität einfach über Minderheitsinteressen hinwegsetzt.

„Wenn man einzelne Gruppenzugehörigkeiten als Rechtsgrund für Besser- oder Schlechterstellungen anerkennt, richtet das Recht Rangfolgen zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten auf und gewichtet die Wertigkeit von Identitäten.“

Das ist ein spannender Punkt, der uns wieder zurück in die Gegenwart führt. Mir scheint die grundlegende Ambivalenz einer an Partikularitäten anknüpfenden Identitätspolitik der zu sein, dass damit genau die Prämisse von Gleichberechtigung und Anti-Diskriminierung, nämlich der rechtliche Universalismus selbst, in Frage gestellt wird. Ein bestimmter Grundwiderspruch von Identitätspolitik ist möglicherweise nicht zu tilgen: Um eine Gruppe gleichzustellen, muss ich sie als Gruppe erst einmal benennen und damit als Gruppe sichtbar machen, also gleichsam ent-universalisieren. Überfokussiert man jedoch auf diese Gruppenzugehörigkeit, so wird – worauf der Dramatiker Bernd Stegemann hingewiesen hat –, das Ziel von Identitätspolitik, nämlich Gleichberechtigung, selbst unterminiert. Es setzen dann jene Prozesse ein, die Sie geschichtlich eingeordnet haben: Es zählt vermehrt die Gruppenzugehörigkeit, der „common ground“ hingegen, der eine Gesellschaft zusammenhält, bricht weg – und das ist in liberal-demokratischen Gesellschaften, die sich die Regeln selbst geben, nach denen ein auf einem Territorium befindliches Kollektiv leben möchte, ganz wesentlich das Recht mit seiner Streuungswirkung in viele gesellschaftliche Bereiche.

Den Fall, den Sie schildern, exemplifiziert diese Ambivalenz in der denkbar schärfsten Weise: Die Überfokussierung auf „Identität" hat selbst für die Gruppe, der dadurch vermeintlich geholfen werden soll, negative Konsequenzen: Minderheitenschutz kann Minderheiten gefährden. Wie könnten denn aus Ihrer Sicht westliche Gesellschaften ihren rechtsförmigen Universalismus behalten und gleichzeitig die Gleichberechtigung partikularer Gruppen sichern?

Ein rechtliches Grundproblem des Identitätsdenkens besteht darin, dass jeder Mensch zahlreiche Eigenschaften besitzt, die man je nach Sprachgebrauch als Gruppenzugehörigkeit, Identität oder Wesensmerkmal bezeichnen mag. Jemand ist zum Beispiel (1) ein Mann, (2) erwachsen, (3) evangelisch-lutherisch, (4) Familienvater, (5) heterosexuell, (6) französischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland, (7) arbeitslos, (8) Nichtraucher, (9) beim Einkaufen Verbraucher und (10) Wohnungsmieter. Niemand lässt sich nur einer einzigen gesellschaftlichen Gruppe zuordnen. Die klassische Verfassungslehre zog hieraus die Konsequenz, die rechtliche, nicht tatsächliche Gleichheit aller Menschen zu fordern. Nur mit einem sachlichen Grund darf ein solches Differenzierungskriterium zur Ungleichbehandlung führen, etwa die Volljährigkeit als Voraussetzung für die Eheschließung.

Wenn man dagegen einzelne Gruppenzugehörigkeiten als Rechtsgrund für Besser- oder Schlechterstellungen anerkennt, richtet das Recht Rangfolgen zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten auf und gewichtet die Wertigkeit von Identitäten. Ein Staat, der Recht und Moral voneinander trennen muss, darf diese Rangordnungen aber nicht errichten. Rein tatsächlich kehrt sonst im Wege des sog. Labelling Approach ein Kriterium wie Hautfarbe, Frisur oder sexuelle Identität in das Recht zurück, aus dem es doch verschwinden soll. Das bedeutet, dass von Rechts wegen Menschen ein Erkennungsmerkmal angeheftet wird und sie dann danach behandelt werden. Historisch hat man auf diese Weise Gruppen als Gemeinschaften etikettiert, selbst wenn sie objektiv kaum Gemeinsamkeiten hatten. Das ist etwa in der Hexenforschung umfassend diskutiert worden.

„Die konsequente rechtliche Chancengleichheit kann immer zur Ergebnisungleichheit führen.“

Ein vom Thüringer Verfassungsgericht im Jahr 2020 nach Klage der AfD gekipptes Vorhaben bestimmter Parteien, die Wahllisten geschlechterparitätisch zu besetzen, wäre ein weiteres Beispiel. Eine Lösung für die Paradoxien der Identitätspolitik bestünde demnach möglicherweise darin, den Universalismus des Rechts wirklich konsequent umzusetzen. Anstatt immer mehr Gruppenzugehörigkeiten zu definieren und in ein austariertes Zusammenspiel zu bringen, könnte man universalistischen Leistungskriterien im Staat, in Schulen oder Universitäten bei gleichzeitiger politischer Förderung von Chancengleichheit eine noch größere Geltung verschaffen. Eine Tribalisierung des Rechts könnte so vielleicht verhindert werden. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die jüngste Initiative für Gleichstellung und Diversität innerhalb der der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem zentralen Organ der wissenschaftlichen Selbstverwaltung in Deutschland?

Bitte lassen Sie mich in zwei Teilen antworten. Die konsequente rechtliche Chancengleichheit kann immer zur Ergebnisungleichheit führen. Diese Ungleichheit muss man dann politisch oder gesellschaftlich diskutieren, darf sie aber nicht rechtlich beseitigen. Damit komme ich sofort zum zweiten Teil der Frage. Bei der Begehung eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs wurde der Sprecher vor etwa drei Wochen gefragt, warum im Vorstand wesentlich mehr Männer als Frauen vertreten seien. Seine Antwort lautete, dass jede Statusgruppe über die Besetzung ihrer Plätze demokratisch entschieden habe. Wenn es keine Steuerung gebe, müsse man solche Ergebnisse akzeptieren.

Solche Selbstverständlichkeiten sind aber inzwischen Gegenstand von Anhörungsverfahren. Speziell bei der Forschungsförderung können die seit kurzem diskutierten „weichen“ DFG-Kriterien die fachwissenschaftliche Entscheidung allein aufgrund der Qualität von Forschungsvorhaben beeinträchtigen. Quantifizierungen und Äußerlichkeiten sind relativ einfach festzustellen, inhaltliche Qualität lässt sich nur sehr zeitaufwendig beurteilen. Die Erweiterung des Kriterienkataloges ist damit im Ergebnis wissenschaftsfeindlich und wirkt sich zu Lasten der Qualität aus. Obwohl diese Kriterien kein verbindliches Recht darstellen, beeinflussen sie im Vorfeld das Verhalten der Antragsteller in kaum zu überschätzender Weise. Solche Steuerungsmittel werden sehr bewusst eingesetzt, das befürchte ich jedenfalls.

Sie sagen „sehr bewusst". Welche Motive vermuten Sie?

Mit „bewusst“ meine ich, dass bekannt ist, wie Normen Verhalten steuern können, auch Soft Law im Vorfeld harter Entscheidungen. Wenn die weichen Kriterien der Begutachtung bekannt sind, werden potentielle Antragsteller versuchen, genau diese Kriterien zu erfüllen. Das ist hinterher leicht zu überprüfen und vermeidet peinliche Nachfragen. Der Sonderforschungsbereich, von dem ich sprach, hatte in der ersten Förderphase das Ziel ausgegeben, 50 Prozent aller Mitarbeiterstellen mit Frauen zu besetzen. In der zweiten Förderphase lautete das Ziel, 50 bis 60 Prozent der Stellen an weibliche Mitarbeiter zu vergeben. Hier lenken übrigens nicht nur Normen das wissenschaftspolitisch erwünschte Verhalten, sondern ganz handfest auch finanzielle Anreize.

Wer mehr Frauen fördert, erhält also mehr Fördergelder? 

Ja, das ist völlig eindeutig. Eine achtköpfige Forschergruppe mit acht Männern hätte heute in meinem Bereich keine Chance mehr. Aber ich will die Diskussion nicht verzerren: Die Gleichstellung von Mann und Frau gilt in den Zeiten von Diversitätsdiskussionen geradezu als konservativ-traditionelles Anliegen, weil sie für eine binäre Identitätskonstruktion steht, die bereits als solche auf Widerstand stößt. Dazu kommt noch ein weiteres heikles Argument: Wissenschaftliche Qualität (= Erkenntnis der Wahrheit) und Demokratie (= Mehrheit) schließen sich gegenseitig oft aus. Gerade in der Wissenschaft gibt es auf diese Weise sich widersprechende Zielvorstellungen, die sich von den Problemen in anderen rechtlichen oder politischen Bereichen unterscheiden dürften.

„Es ist völlig offen, wie sich gesellschaftspolitische Diskussionen im Recht niederschlagen werden.“

Vielleicht kann wissenschaftliche Qualität bisweilen mit bestimmten demokratischen Abstimmungsergebnissen zufällig koinzidieren, aber ein systematischer Zusammenhang besteht gewiss nicht: Empirische Wissenschaft strebt unter der regulativen Idee der Wahrheit nach Erkenntnis, liberal-demokratische Politik hingegen ist der Prozess, in einem optimaler Weise freien Diskurs verbindliche Regeln zu definieren, nach denen – unter Beachtung von Minderheitenrechten und einer Gleichachtung aller Staatsbürger – die Mehrheit der Menschen leben möchte. Der Kampf für die „Non-Binarität“, der letztlich darauf hinausläuft, die Gleichachtung und Gleichberechtigung von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten erst dann für beendet zu erklären, wenn alle Menschen zu einer non-binären Selbstwahrnehmung erzogen wurden, ist sicherlich einer der ambivalentesten und hinsichtlich seiner unbeabsichtigten Förderung von ultra-traditionalistischen Gegenbewegungen auch gefährlichsten Elemente einer tief von einem postmodernen Wissenschafts-Aktivismus geprägten Identitätspolitik.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Lebensformen, ein an sich hoch liberales Anliegen, reicht nicht mehr, es muss schon die Auflösung aller Naturverhältnisse sein, darunter gibt man sich nicht zufrieden. Dies zeigten etwa die Proteste gegen den Biologie-Vortrag der Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin im Juli 2022. Ausgerechnet eine Gruppe „kritischer Jurist*innen“ war die Initiatorin des Protests, der sich gegen die Ungeheuerlichkeit wandte, von einer biologisch fundierten Zweigeschlechtlichkeit des Menschen auszugehen. Welche Erfahrungen machen Sie mit der Generation der Studierenden, die ja im akademischen Umfeld bisweilen sehr stark von Deutungsmustern der Identitätspolitik geprägt ist?

Im Lehrbetrieb und auch in Prüfungen werden solche Fragen bis auf Spezialseminare zumeist ausgeklammert. Es gibt aber in unserem Fach eine Diskussion über Rollenstereotype in Klausursachverhalten. Das betrifft insbesondere die Berücksichtigung weiblicher Berufstätigkeit, vermutlich auch die Verwendung ausländisch klingender Vornamen. In der Lehrevaluation soll es in Zukunft Fragen geben, ob Arbeitsgemeinschaftsteilnehmer diskriminierende Äußerungen der AG-Leiter bemerkt haben.

Über die Studierenden will ich mich in keiner Weise beklagen, sehe aber in einem Punkt eine Gefahr: Im Rahmen der sog. Wertungsjurisprudenz fordert die herrschende Meinung, verfassungsrechtliche und rechtsethische Wertungen in die Auslegung von Generalklauseln des einfachen Rechts einfließen zu lassen. Die historische Erfahrung zeigt, dass genau an dieser Stelle eine Einbruchstelle liegt, die Trennung von Recht und Moral zu verunklaren. Hier sehe ich eine große Herausforderung, um Rechtssicherheit, Freiheit und Gleichheit für jedermann zu bewahren, wenn der politische Grundkonsens und die Homogenität der Bevölkerung immer unklarer werden. An diesem Punkt gibt es viel Bewegung, und es ist völlig offen, wie sich gesellschaftspolitische Diskussionen im Recht niederschlagen werden.

Besten Dank, Herr Oestmann, für die anregende Konversation.

Das Gespräch führte Christian Zeller.

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