21.03.2017

Die Baupolitik der EU in der Westbank

Essay von Marcel Serr

Titelbild

Foto: 31774 via Pixabay / CC0

Unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe betreibt Brüssel in der Westbank eine gegen israelische Interessen gerichtete Poltik.

Die EU finanziert Bau- und Infrastrukturprojekte für Beduinen in Teilen der Westbank, die unter israelischer Verwaltung stehen, ohne dieses Vorgehen mit Jerusalem abzustimmen. Aus Israels Perspektive handelt Brüssel damit nicht nur gegen geltendes Recht, sondern gefährdet die Sicherheit des jüdischen Staates. Jüngste Abrissmaßnahmen seitens Israels stellen die ohnehin schon angeschlagenen Beziehungen zur EU vor eine neue Belastungsprobe.

Den rechtlichen Hintergrund dieser Problematik bildet das Interims-Abkommen (1995) zwischen Israel und den Palästinensern (oft auch Oslo II genannt). Die Parteien kamen darin überein, die Westbank temporär (bis zum Abschluss eines finalen Friedensabkommens) in A-, B- und C-Gebiete aufzuteilen. A-Gebiete umfassen heute ca. 18 Prozent des Westjordanlandes und unterliegen der vollen Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). B-Gebiete (22 Prozent) unterliegen der zivilen Kontrolle der PA, Israel ist für die Sicherheit zuständig. C-Gebiete (60 Prozent) unterliegen der vollen Verantwortung Israels. Die A-Gebiete umfassen palästinensische Städte wie Ramallah, Bethlehem, Nablus und Jericho; zusammen mit den B-Zonen leben dort schätzungsweise 2,8 Millionen Araber. In den C-Gebieten, die die israelischen Siedlungen beinhalten, leben geschätzte 350.000 bis 400.000 Israelis und 150.000 Araber.

EU-Baumaßnahmen

Das primäre Objekt der europäischen Wohltätigkeit sind in diesem Fall die Beduinen vom Stamm der Jahalin, die entlang des Highway 1 zwischen Jerusalem und dem Toten Meer siedeln. Diese Gegend ist besonders vorteilhaft, da die Beduinen die Wasserleitung von Israels Trinkwasserversorger Mekorot, die entlang der Autobahn verläuft, ebenso anzapfen können wie die Elektrizität der Straßenbeleuchtung. Seit Jahrzehnten hat Jerusalem Schwierigkeiten, die Halbnomaden in das moderne Staatswesen einzugliedern. Israel plant für die Beduinen den Bau einer neuen Stadt im Norden Jerichos. Dessen ungeachtet fördert die PA den Bau permanenter Wohnstrukturen entlang der Ost-West-Verkehrsader ohne Koordination mit Israel, dessen Zustimmung zu sämtlichen Bautätigkeiten im C-Gebiet erforderlich ist. Möglich wird dies jedoch nur durch die Unterstützung der EU. Brüssel finanziert die Anschaffung und Errichtung von hunderten vorgefertigte Wohncontainern, die sukzessive die Zelte und Wellblechhüten der Beduinen ersetzen. Zwischen 2006 und 2012 verdoppelten sich derartige Bauten ohne israelische Genehmigung entlang des Highway 1 von 202 auf 412. Bis März 2014 stieg deren Anzahl noch einmal um fast 100 Prozent auf 774. Nach Angaben der israelischen Nichtregierungsorganisation Regavim finanzierte die EU den Bau von 168 illegalen Wohnstrukturen und 222 Infrastrukturbauten allein im Bereich um die israelische Siedlung Maale Adumim. In aller Regel handelt es sich dabei um Nacht-und-Nebel-Aktionen: In der Nacht liefern LKWs die in Einzelteile zerlegten Bauten an, die dann am frühen Morgen in aller Eile errichtet werden.

„Die EU will 100 Millionen Euro zur Unterstützung der arabischen Bevölkerung investieren mit dem Ziel, ein zukünftiges palästinensisches Staatsgebiet vorwegzunehmen“

Ein Blick in entsprechende EU-Dokumente offenbart die politischen Hintergründe: Im September 2012 ließ die Kommission verlauten, dass sie 100 Millionen Euro in Projekte für die arabische Bevölkerung im C-Gebiet investieren werde. 7 Millionen Euro sind der „Landerschließung und grundlegenden Infrastrukturen in Zone C“ gewidmet. Die EU-Mittel sollen dazu dienen, „die zuständigen palästinensischen Behörden dabei zu unterstützen, neue Infrastrukturen zu planen und aufzubauen und der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, ihr Land wiederzuerlangen und neu zu bebauen.“ 1 Im Humanitären Implementation Plan vom September 2014 stellt die EU klar: „Die PA sollte dabei ermutigt werden, die operative Unterstützung für die Menschen im C-Gebiet weiter auszubauen (…). Die Europäische Union und die PA beteiligen sich nun aktiv an der Bauplanung im C-Gebiet, was der PA den Weg zu mehr Entwicklung und mehr Autorität über das C-Gebiet ebnen kann.“ 2 Konkret zielen diese Maßnahmen darauf, das Gebiet zwischen Jerusalem und dem Jordantal dauerhaft durch Araber zu besiedeln, um damit Fakten zu schaffen und ein zukünftiges palästinensisches Staatsgebiet als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses vorwegzunehmen. Shadi Othman, EU-Sprecher für die Westbank und Gaza, skizzierte die Zielsetzung der EU in einem Interview mit der Daily Mail folgendermaßen: „Wir unterstützen die palästinensische Präsenz im C-Gebiet. (…) Das C-Gebiet ist Teil des besetzten palästinensischen Territoriums, das letztlich Teil des palästinensischen Staates sein wird.“ 3

Die Perspektive Jerusalems

Bei dem Korridor entlang des Highway 1, der von Jerusalem über Maale Adumim an das Tote Meer führt, handelt es sich nicht nur um C-Gebiet, das nach geltendem Recht (Oslo II) der israelischen Verwaltung unterliegt, sondern es ist von eminenter strategischer Bedeutung für Israel. Die Autobahn ist Israels wichtigste Verkehrsader in West-Ost-Richtung. Im Falle einer Sicherheitsbedrohung an der Ostgrenze lassen sich über die Straße schnell und direkt große Truppenverbände ins Jordantal verlegen.

Maale Adumim, das 1982 eingeweiht wurde und direkt am Highway 1 liegt, zählt mit rund 40.000 Einwohnern zu den größten Siedlungen im Westjordanland. Der Ort ist nur eine fünfzehnminütige Autofahrt von Jerusalem entfernt und beheimatet viele Pendler. Die Gründung erfolgte wie bei den meisten Siedlungen an einem strategisch bedeutsamen Punkt: Maale Adumim verschafft Jerusalem die notwendige strategische Tiefe. Im Falle eines Krieges an der östlichen Front fungiert die Siedlung als Pufferzone für Israels Hauptstadt und ist damit ein gewichtiger Faktor für Israels verteidigbare Grenzen. Sollte die PA dieses wichtige Gebiet kontrollieren, wäre die Verbindung Israels mit dem Jordantal und damit mit der natürlichen Ost-Grenze beeinträchtigt. Die Aufgabe der Siedlung mit zehntausenden Einwohnern oder die Isolation des Areals ist aus israelischer Perspektive unvorstellbar.

„Die EU instrumentalisiert die ohnehin benachteiligten Beduinen, um ein politisches Statement zu setzen“

Um Maale Adumim direkt an Jerusalem anzubinden, plant Israel die Besiedlung des sog. E1-Gebietes, das die Lücke zwischen Jerusalems Skopus-Berg und Maale Adumim schließt. Bereits seit 20 Jahren existieren Baupläne für dieses 12 Quadratkilometer große Gelände. In Israels politischer Führung herrscht seit Jahrzehnten nahezu politischer Konsens hinsichtlich der strategischen Bedeutung von E1. Sechs Premierminister – von Yitzhak Rabin bis Benjamin Netanyahu – haben sich offen für die Besiedlung des Gebietes ausgesprochen. Aber aufgrund internationalen Drucks ist eine Realisierung bislang ausgeblieben – mit einer Ausnahme: 2006 wurde das Hauptquartier der israelischen Polizei in der Westbank dort erbaut. Damit wurde nicht nur ein Straßennetz, sondern auch die notwendige Infrastruktur für Wasser und Elektrizität errichtet. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum das E1-Gebiet zu einem bevorzugten Aktionsraum illegaler Bautätigkeit wurde. Dort sind allein 974 nicht genehmigte Strukturen erbaut worden. Nach jahrelanger Zurückhaltung ordnete Premierminister Netanyahu Anfang 2015 und 2016 die Zerstörung von hunderten Baustrukturen an, die von der EU in diesem Gebiet finanziert wurden.

Rechtliche Perspektiven

Die EU instrumentalisiert die ohnehin benachteiligten Beduinen, um ein politisches Statement zu setzen. Dabei verbirgt Brüssel seine Politik unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe und verstößt damit gegen die eigenen Grundsätze. Im Europäischen Konsens über die humanitäre Hilfe heißt es: „Die EU ist fest der Einhaltung und Propagierung der humanitären Grundsätze der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verpflichtet. (…) Der Grundsatz der Wahrung der Unabhängigkeit bedeutet, dass humanitäre Ziele nicht politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder sonstigen Zielen untergeordnet werden dürfen und dass sichergestellt sein muss, dass es der einzige Zweck der humanitären Hilfe bleibt (…).“ 4

Kritik am Vorgehen der EU bleibt nicht aus. Der Völkerrechtler Alan Baker erinnert die EU daran, dass Baumaßnahmen in den C-Gebieten nach geltendem Recht die Erlaubnis Israels benötigen: „Die EU ignoriert internationales Recht und unternimmt konkrete Schritte, um die Fakten vor Ort zu beeinflussen.“ 5

Mit Blick auf den völkerrechtlichen Status des Westjordanlandes argumentiert Israel darüber hinaus, dass die Westbank nicht als besetztes Gebiet gelten kann, da sie zuvor nicht der rechtmäßigen Souveränität eines anderen Staates unterstand. Dies ist zumindest die Interpretation der Levy-Kommission, die 2012 von Israels Regierung beauftragt worden war, den rechtlichen Status der Westbank zu klären. Tatsächlich hatte Jordanien das Westjordanland, das zuvor Teil des britischen Mandatsgebiets war (1920–1948), im Rahmen eines Angriffskrieges gegen Israel 1948 erobert und 1950 annektiert, was allerdings international nicht anerkannt worden war.

„EU-Repräsentant John Gatt-Rutter setzte sich über jedwede Verhandlungslösung hinweg“

Dessen ungeachtet, wird Israel von vielen Beobachtern als Besatzungsmacht in der Westbank angesehen. Zwar hat sich Israel aus den A-Gebieten zivil und militärisch vollständig zurückgezogen, doch in den B- und C-Gebieten, die ein Großteil des Westjordanlandes ausmachen, agiert Jerusalem gegenüber den dort lebenden Palästinensern ähnlich wie ein Besatzer. Allerdings gilt dabei zu berücksichtigen, dass der Besatzungsmacht völkerrechtlich das Recht zugesprochen wird, die fraglichen Gebiete zu verwalten. So heißt es in Art. 43 der Haager Landkriegsordnung: „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, trifft dieser alle ihm zu Gebote stehenden Maßnahmen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und den regelmäßigen Gang der öffentlichen Angelegenheiten wiederherzustellen und zu sichern.“ Wenn sich die EU darüber hinwegsetzt, ist dies ein Verstoß gegen internationales Recht.

Dennoch unterzeichnete Michael Köhler, Direktor für EU-Nachbarschaftspolitik, im März 2015 gemeinsam mit dem palästinensischen Vertreter Rami Hamdallah ein Abkommen, das den Palästinensern weitere 3,5 Millionen Euro als Investition in soziale und Infrastruktur-Maßnahmen in den C-Gebieten versprach. Köhler damals: „Wir sind uns bewusst, dass unsere Unterstützung für das C-Gebiet relativ klein ist, aber dies ist erst der Anfang. In der Zukunft werden diesem Gebiet mehr Gelder gewidmet werden.“ EU-Repräsentant John Gatt-Rutter setzte sich über jedwede Verhandlungslösung hinweg, indem er feststellte: „Das C-Gebiet ist integraler Bestandteil des besetzten palästinensischen Territoriums und verfügt über wichtige natürliche Ressourcen und Land für den künftigen palästinensischen Staat.“ 6

Schlussbetrachtungen

Die EU-Israel-Beziehungen zeichnen sich durch eine Ambivalenz aus: Nach wie vor findet eine enge bilaterale Kooperation in den Bereichen Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft statt. Dennoch verstärkten sich auf der politischen Ebene gegenseitige Frustration und Wut.

„Brüssel hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe politischer Maßnahmen implementiert, die gegen Israels Siedlungstätigkeit gerichtet sind“

Bei der beschriebenen EU-Politik handelt es sich keinesfalls um eine Ausnahme. Im Gegenteil: Brüssel hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe politischer Maßnahmen implementiert, die gegen Israels Siedlungstätigkeit gerichtet sind. Im Juni 2013 erließ die Kommission neue Richtlinien, die die EU-Finanzierung und die Kooperation mit israelischen privaten und öffentlichen Einrichtungen untersagt, die in Siedlungen arbeiten. 7

Im November 2015 ging die EU noch einen Schritt weiter und entschied, dass bestimmte Produkte aus Siedlungen (Obst, Gemüse und Kosmetika) besonders gekennzeichnet werden müssen und nicht mehr unter dem Label „Made in Israel“ eingeführt werden dürfen.8 Angesichts einer erneuten palästinensischen Terrorwelle zwischen Oktober 2015 und Frühjahr 2016, die insbesondere in Jerusalem beinahe täglich zu Anschlägen gegen israelische Sicherheitskräfte und Zivilisten führte, war das Timing der EU denkbar schlecht.

Entgegen Brüssels Verweis auf den technischen Charakter der Maßnahme handelt es sich hierbei um den Versuch, Handelsregularien für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Obwohl die Verschärfung der Kennzeichnungsregeln keine direkten Auswirkungen auf Israels Wirtschaft hat (betroffen sind nur 1 bis 2 Prozent der israelischen Exporte in die EU), lassen sich bedenkliche Langzeitfolgen ausmachen. Denn die EU vermittelt gegenüber europäischen Unternehmen den Anschein, dass Geschäfte mit israelischen Partnern komplizierte rechtliche Verfahren und ggf. imageschädigende Wirkungen nach sich ziehen können. Damit spielte diese Politik der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) in ihrer Delegitimierungskampagne gegen Israel in die Hände.

„Was treibt die EU zu derartigen anti-israelischen Handlungen?“

Was treibt die EU zu derartigen anti-israelischen Handlungen? Der Politikwissenschaftler Sharon Pardo vermutet dahinter eine nach innen gerichtete Motivation der Europäischen Union. In Zeiten schwerer (Sinn-)Krisen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten, Austrittsdebatten und anhaltende Flüchtlingsströme scheint die Einigung auf einen allseits akzeptierten Bösewicht der EU intern Halt zu geben und bietet eine Möglichkeit, der Welt nach außen Geschlossenheit zu demonstrieren.

Doch darüber hinaus offenbart die Nahostpolitik der EU fundamentale Denkfehler, die es erschweren, in Israel als politischer Mediator ernstgenommen zu werden. Ein wesentlicher Eckpunkt Brüssels ist das Beharren auf der sog. Grünen Linie als offizielle Grenze des jüdischen Staates. Zum einen verkennt die EU jedoch, dass es sich dabei um temporäre Waffenstillstandslinien nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg (1948/49) handelt. Es waren immerhin die arabischen Staaten, die bei den Verhandlungen 1949 darauf bestanden hatten, schriftlich zu fixieren, dass diese keine permanente Grenze bildet. Zum anderen verschließt die EU die Augen vor den politischen Realitäten vor Ort. In Israel herrscht ein breiter Konsens, das im Sechstagekrieg (1967) eroberte Ost-Jerusalem und die Golanhöhen als Teil des israelischen Staatsgebietes zu betrachten. Es ist derzeit unwahrscheinlich, dass Israel diese Gebiete aufgibt. Eine weitere Fehlperzeption der EU betrifft die großen israelischen Siedlungsblöcke im Westjordanland (v.a. Maale Adumim, Modiin Illit, Gush Etzion, Givat Ze’ev). Dort wohnen ca. 80 Prozent aller Siedler konzentriert auf schätzungsweise 5 bis 9 Prozent des Westjordanlandes. Eine Räumung dieser Städte verbunden mit der Umsiedlung hunderttausender Israelis ist ebenfalls unwahrscheinlich.

Aufgrund dieser Tatsache erhielten die Blöcke auch während der Friedensverhandlungen in Camp David einen speziellen Status. US-Präsident Clinton schlug einen Landaustausch vor. 2004 erkannte Präsident Bush dieses Prinzip in einem Brief an Israels Premierminister Sharon an: „[…] es ist unrealistisch, anzunehmen, dass das Ergebnis einer finalen Verhandlungslösung die vollständige Rückkehr zu den Waffenstillstandslinien von 1949 sein wird […].“ 9 Dagegen differenziert die EU in keiner Weise zwischen diesen Siedlungsblöcken mit jeweils zehntausenden Einwohnern und isolierten Außenposten radikaler Siedler. Letztlich ist die Grenze zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat Verhandlungssache der beiden Parteien – und nicht Gegenstand einer EU-Erklärung, die eine temporäre Waffenstillstandslinie auf magische Weise in eine bindende politische Grenze verwandelt.

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