17.03.2015

Der Westen soll sich raushalten

Interview mit Daniel Ben-Ami

Stereotypen und Schwarz-Weiß-Denken bestimmen unseren Blick auf Israel. Durch die einseitige Kritik aus dem Westen fühlen sich viele Israelis isoliert und sie fördert den Antisemitismus.Der Versuch einer Aufklärung

Novo: Die Stimmung in Israel wird in den Medien, nicht erst seit dem jüngsten Krieg, als aggressiv beschrieben. Was ist los in dem Land?

Daniel Ben-Ami: Es gibt ein fundamentales Missverständnis hinsichtlich der israelischen Gesellschaft. Oft wird zur Erklärung des Konflikts behauptet, die Israelis seien rassistisch und hassten die Palästinenser. Es gab z.B. Berichte über Israelis aus der Grenzstadt Sederot, die die Bombardierung Gazas bejubelten, während sie auf einem Sofa saßen und Popcorn aßen. Mit solchen Bildern wollen westliche Reporter zeigen, was in Israel los ist. Ich finde, obwohl es so etwas gab, dass dies die Situation nicht richtig darstellt. Nicht Hass, sondern Angst, treibt Israel an. Eine große Mehrheit der Israelis fürchtet, die Hamas wolle sie töten. In der Charta der Hamas steht ja, dass Israel zerstört werden soll. Hinzu kommt, dass das Land seine zunehmende internationale Isolierung, auch in Hinblick auf frühere Unterstützer, spürt.

Der Hintergrund dieses Kriegs war Angst?

Wenn ich mit meinen Verwandten in Israel spreche, dann kommt diese Angst zum Ausdruck. Es stimmt natürlich, dass es antipalästinensische Einstellungen gibt, extrem antipalästinensische Einstellungen sogar. Die breite Unterstützung für diesen Krieg, laut Umfragen waren es 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung, lässt sich damit nicht erklären. Die israelische Gesellschaft hat Angst und sieht keinen anderen Ausweg. Wir können sagen, dass diese Angst irrational ist, aber nur so lässt sich die interne Dynamik im Land erklären.

„Die einseitige Kritik des Westens verstärkt das Gefühl der Isolation in Israel“

Im Vergleich zu den vielen Ängsten, die uns in Europa umtreiben, scheint mir diese Angst nachvollziehbar.

Es gibt eine Art kultureller Angst im Westen, aber in Israel ist die Angst extremer. Teilweise, weil das Land bombardiert wird – obwohl es auch stimmt, dass die Hamas, militärisch betrachtet, nur über primitive Mittel verfügt. Teilweise auch, weil radikale Gruppierungen, wie die Hamas, über das Sprachrohr der arabischen Medien, Antisemitismus verbreiten. Noch wichtiger ist aber, dass Israel die Doppelmoral des Westens spürt. Auch in unseren Ländern nimmt der Antisemitismus zu. Das ist kein irrationales Gefühl. Israelis merken, dass ihr Land härter kritisiert wird, als andere Länder, in denen auch Konflikte herrschen. Dies führt zu einer paradoxen Situation, denn die einseitige Kritik des Westens verstärkt das Gefühl der Isolation in Israel. So wird die Bevölkerung noch ängstlicher und die Lage schlimmer.

Israel wird vorgeworfen, eine expansionistische Politik zu betreiben. Der Journalist Jakob Augstein z.B. bezeichnet das Land als Besatzungsmacht. Ist das falsch?

Das wird oft gesagt, lässt sich aber mit der Realität nicht vereinbaren. Das Land hat sich aus Gaza zurückgezogen, israelische Politiker sprechen über eine Zweistaatenlösung und deuten sogar an, dass Jerusalem aufgeteilt werden könnte, was in der Vergangenheit undenkbar gewesen wäre. Wenn sich frühere Verbündete abwenden, dann hat das mit der veränderten Lage nach dem Ende des Kalten Kriegs zu tun.

Gibt es nicht so etwas wie ein Erstarken der israelischen Rechten?

Wenn man die israelische Innenpolitik anschaut, dann ist es irreführend, über das Erstarken der Rechten zu sprechen. Hier passiert etwas anderes. Israel, das sollten wir nicht vergessen, wurde in erster Linie von Linken gegründet. Historisch betrachtet war der Zionismus bis zur Wahl im Jahr 1977 eine mehrheitlich linke Bewegung. Heute haben die Kreise, die ursprünglich der Linken zugerechnet wurden, das zionistische Projekt aufgegeben. Übrig geblieben ist nicht die Rechte, sondern der religiöse Zionismus, der eine wichtige Rolle im Offizierskorps oder in der Siedlungspolitik spielt. Interessant dabei: Sobald ein Konflikt wie jüngst in Gaza eintritt, vereinigen sich die sogenannten Postzionisten oder Säkularen mit den Religiösen, weil alle glauben, ihr Land sei in Gefahr.

Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass hat vor zwei Jahren Israel als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet. Woher kommt diese Fixierung auf ein einziges Land, in einer Welt, die voller Konflikte ist?

Aus Sicht einer klassisch-zionistischen Historiographie ließe sich das leicht erklären. Demnach würde es sich um die Wiedergeburt eines alten, hässlichen Vorurteils handeln, das nie überwunden wurde. Ich finde, die Realität ist komplizierter. Es gibt neue Elemente, wie z.B. den Trend zu humanitären Interventionen. Israel lehnt humanitäre Interventionen des Westens nicht nur ab, sondern verfolgt offensiv eigene Interessen und ist bereit, sich militärisch zu verteidigen. Damit stellt es sich gegen den Zeitgeist der humanitären Rhetorik. Dann gibt es politische Aspekte, wie das Ende des Kalten Krieges oder die veränderte Sicht auf den Holocaust. Früher war es ein Tabu, Israel zu kritisieren. Der Holocaust aber wurde in den letzten Jahren zunehmend relativiert und die Bezeichnung „Völkermord“ auf alle möglichen Konflikte angewendet.
Die Haltung einiger Teile des deutschen Establishments ist interessant. Wir Deutschen, sagen sie, sind gegen Nazis, den Antisemitismus und den Holocaust, können es aber nicht dulden, wenn sich die Israelis selbst fast wie Nazis benehmen. Deswegen sind wir nicht unglaubwürdig, wenn wir Israel besonders harsch kritisieren. Ich sage nicht, dass alle Kritik an Israel antisemitisch ist; denn das ist sie nicht. Wenn Israel aber einseitig kritisiert wird, dann bereiten wir den Weg für einen neuen Antisemitismus.

„Die islamische Jugend in Europa vertritt Ideen, die wir auch bei säkularen Europäern wiederfinden. Sie mögen so tun, als seien sie vom Koran beeinflusst“

Welche Rolle spielt die muslimische Bevölkerung Europas, wenn es um Antisemitismus geht?

Die islamische Bevölkerung in Europa hat nicht die gleiche Hemmschwelle wie manche Europäer. Das ist nicht die Ursache, wirkt aber wie eine Art Katalysator, wenn es darum geht, den Antisemitismus akzeptabler zu machen. Das islamische Element ist jedoch anders als viele denken. Es stimmt nicht, dass der Islam schon immer antijüdisch war und seine Vorurteile nach Europa importiert. Die islamische Jugend in Europa vertritt Ideen, die wir auch bei säkularen Europäern und nicht zuletzt bei der heutigen Linken, wiederfinden. Sie mögen so tun, als seien sie vom Koran beeinflusst. Wenn wir genauer hinschauen, dann erkennen wir aber in westlichen Gesellschaften weit verbreitete Einstellungen, wie z.B. die Ablehnung der Konsumgesellschaft und der Moderne – und eben auch die harsche Kritik an Israel. Der Antisemitismus dieser Jugendlichen hat mindestens ebenso eine europäische Komponente wie eine islamische. Es gibt also verschiedene Elemente, mit unterschiedlicher Dynamik, die dazu beitragen, die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus zu verwischen.

Wann nimmt die Kritik an Israel antisemitische Züge an?

Wenn Israel z.B. als Apartheidregime bezeichnet wird. Die Kritiker sagen damit nicht, das Land diskriminiere die Palästinenser (was es zu einem gewissen Grad tut), sondern es geht darum, Israel zu einem moralischen Pariastaat zu machen – ähnlich wie es Südafrika in den 80er Jahren war. Israel wird zum größten Bösewicht der Welt abgestempelt und das ist sehr einseitig.

„Vieles deutet darauf hin, dass die Einflussnahme des Westens dazu beigetragen hat, den Konflikt aufrechtzuerhalten“

Kann die internationale Diplomatie die Situation zwischen Israelis und Palästinenser positiv beeinflussen?

Vieles deutet darauf hin, dass die Einflussnahme des Westens dazu beigetragen hat, den Konflikt aufrechtzuerhalten. Der Westen hat Israel in der Vergangenheit, im Großen und Ganzen, unterstützt. Gleichzeitig hat er versucht, die konservativsten und die moderatesten Elemente der palästinensischen Bevölkerung zu fördern. Die Fatah wurde unterstützt und indirekt sogar die Hamas. Israel selbst hat eine Zeit lang die Hamas gefördert, weil die Regierung glaubte, damit einen Gegenpol zum radikalen palästinensischen Nationalismus zu schaffen. Auch der Westen hat das getan und so zur festgefahrenen Lage beigetragen. Mit dem Fortschreiten des Friedensprozesses haben sich beide Lager immer weiter voneinander entfernt. Heute sind Israelis und Palästinenser stärker voneinander getrennt, als sie es je waren. Selbst in den 1990er Jahren gab es eine gewisse Vermischung zwischen der palästinensischen und der israelischen Bevölkerung. Palästinenser konnten damals von Gaza in die Westbank fahren oder für eine begrenzte Zeit in Israel einreisen. Das ist heute nicht mehr möglich. Zu einem Großteil ist dies das Ergebnis des Friedensprozesses und der westlichen Intervention.

Bringt der Friedensprozess die beiden Seiten nicht wenigstens an den Verhandlungstisch?

Wenn man sich anschaut, welche Form die Friedenspolitik in den vergangenen 20 oder 30 Jahren genommen hat, dann beschränkt sie sich darauf, Palästinenser und Israelis auseinanderzuhalten. Frieden bedeutet hier nichts anderes, als beide Seiten dazu zu bringen, in ihren Enklaven zu leben. Wenn man sich also das sogenannte Friedensabkommen anschaut, dann steht da, dass die Siedlungen akzeptiert werden sollten. Formal betrachtet haben die Palästinenser somit die Siedlungen in der Westbank akzeptiert. Das ist nicht gut, zeigt aber, dass die westliche Intervention darauf abzielt, die Menschen zu trennen.
Selbst bei der Mauer sieht man das. Westliche Diplomaten verurteilen nicht die Mauer als solche, sondern kritisieren, dass sie am falschen Ort steht und Israel mit ihrer Errichtung sein Territorium auf Kosten der Westbank vergrößert hat. Sie sind nicht gegen das Prinzip einer Trennung der Bevölkerung oder gegen den Mauerbau. Niemand sagt: Lasst uns mit der Spaltung der beiden Seiten Schluss machen.

Würde ein Rückzug des Westens nicht die Unterlegenheit der Palästinenser besiegeln, weil Israel militärisch stärker ist?

Wenn man Stärke nur militärisch definiert, dann ist Israel der Hamas überlegen. Das ist aber eine sehr begrenzte Sicht des Konflikts. Israel hat alle möglichen Schwachstellen. Im Vergleich zu anderen westlichen Staaten ist es ein eher labiles und kleines Land. Selbst die israelische Armee ist nicht so stark, wie oft gesagt wird.

„Es scheint mir, dass eine Lösung nur erfolgen kann, wenn der Westen aufhört, sich einzumischen“

Was ist mit Atomwaffen?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Land wahrscheinlich seit Ende der 1960er Jahre über nukleare Waffen verfügt. Das trifft auch auf China, Pakistan, Großbritannien, Frankreich, die USA, Indien und andere Staaten zu. Auch diese Kritik ist also einseitig.
Wichtig ist, vom israelisch-palästinensischen Konflikt einmal abzusehen und sich den Rest des Mittleren Ostens anzuschauen. Dann sehen wir, dass große Teile dieser Region in Aufruhr sind. Das betrifft den Libanon, den Irak und Syrien. Ein Großteil der Turbulenzen ist auf westliche Intervention zurückzuführen. Es scheint mir, dass eine Lösung nur erfolgen kann, wenn der Westen aufhört, sich einzumischen. Höchstwahrscheinlich wird es dann eine regionale Lösung geben. Es ist aber nicht möglich, vorherzusagen, welche Form sie annehmen wird. Das wäre das positivste Szenario. Westliche Intervention macht Israel immer nervöser und führt zu einer weiteren Verhärtung seiner Politik. Außerdem destabilisieren sie die gesamte Region.

Gibt es noch andere Lehren, die wir aus dem Konflikt ziehen können?

In diesem Konflikt spielt sich eine menschliche Tragödie ab. Israel ist als Ergebnis des Holocausts entstanden. Nur so konnte der Zionismus, der ursprünglich eine Minderheitenbewegung innerhalb des Judentums war, so viele Unterstützer finden. Die Palästinenser, die in keiner Weise Anteil an der Verfolgung der Juden hatten, leiden indirekt unter den Konsequenzen dieser Ereignisse.
Das einfache Schwarz-Weiß-Muster von Gut und Böse im Nahost Konflikt lenkt von dieser Tragödie ab. Echte Empathie ist nicht möglich, weil es nicht mehr darum geht, was zwischen Israelis und Palästinensern wirklich passiert ist. Es ist eine Tragödie, wenn auch nicht die einzige, die sich im Mittleren Osten abspielt. Was wir tun können ist, den aufkeimenden Antisemitismus zu bekämpfen. Der wird keine Probleme lösen. Die Linke sollte sich daran erinnern, dass Israel – zumindest teilweise – nur deswegen entstanden ist, weil es ihr nicht gelungen war, dem Antisemitismus entgegenzutreten.

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