01.09.2007

Deutschland soll abspecken

Kommentar von Ulrike Gonder

Ulrike Gonder fordert bessere Vorbilder in der Politik und etwas mehr Realitätssinn bei Abspeckmaßnahmen.

An die alljährlichen Frühjahrsdiäten der 80er- und 90er-Jahre hatte man sich ja irgendwie gewöhnt. Der Speck der Weihnachtsfeiertage, vom winterlich-deftigen Essen und von den Ausschweifungen zu Fasching sollten verschwinden, damit die Badesachen wieder ungeniert getragen werden konnten. Da kamen die Frühjahrsdiäten in den Frauenzeitschriften gerade recht, zumal das Frühjahr ohnehin die beste Jahreszeit ist, um eine Abspeckkur zu beginnen: Die Tage werden länger, sodass der Appetit auf Süßes, der u.a. vom Licht gesteuert wird, nachlässt. Mit steigenden Temperaturen bewegt man sich mehr und hat auch eher Appetit auf leichtere Gerichte als im Winter. Also gab es keine Novemberdiäten, sondern eben die Frühjahrskur. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Heute sind es nicht nur die Frauenzeitschriften, die Diäten propagieren. Auch die Männerblätter, die Tagespresse und das Internet sind voll davon. Es vergeht kaum ein Tag ohne Hiobsbotschaft in Sachen Körpergewicht: Unsere Kinder sind zu dick und die Erwachsenen sowieso. Wir Deutschen hätten angeblich „in der Moppel-Liga den Bauch vorn“ – eine Aussage, die alle aufschreckte, auch wenn die Zahlen dahinter mehr als fragwürdig sind.

Heute werden die Bürger das ganze Jahr über aufgefordert, sich um ihr Gewicht zu kümmern. EU und Bundesregierung verabschiedeten millionenschwere Programme, um dem Übergewicht zu Leibe zu rücken. Bessere Verpflegung in Kantinen und Kindertagesstätten, mehr Produktinformationen und Ernährungsunterricht in der Schule – das alles klingt gut, aber auch irgendwie nicht neu. Und wenn sich die Politiker wirklich so sehr um unser Wohlergehen sorgen, wäre es schön, sie gingen mit gutem Beispiel voran. Die Gesundheitsministerin ist während ihrer Amtszeit nicht gerade schlanker geworden, und auch bei der Bundeskanzlerin spannt schon mal das Jackett. Umweltminister und SPD-Vorsitzender könnten ebenfalls ein wenig abspecken – so wie man es von dicken Bürgern verlangt. Fehlt es unseren Politikern an Informationen über gesunde Ernährung? Ist die Verpflegung in der Bundestagskantine so schlecht? An mangelnder Diäterfahrung kann es nicht liegen, wenn die Umfänge der Volksvertreter eher zunehmen, das haben Altkanzler Kohl und der ehemalige Außenminister Fischer eindrucksvoll demonstriert. Ist Abnehmen also nicht nur eine Frage des Wissens und der guten Vorsätze?

Zunächst einmal ist das Körpergewicht eines Menschen zu 50 bis 60 Prozent durch seine Gene bestimmt – und die lassen sich nicht ändern. Den Rest besorgen viele verschiedene Einflüsse, die noch nicht im Detail bekannt sind. Bewegungsmangel kommt dazu, zu viel Fernseh- und Computerzeit – vor allem bei Kindern. Hormone spielen eine Rolle, die Stunden unter Kunstlicht, das allgegenwärtige Nahrungsangebot und die vielfach fehlenden Kochkenntnisse. Und natürlich gibt es Völlerei, Frustessen und das Essen aus Langeweile, Gedankenlosigkeit oder einfach aufgrund schlechter Gewohnheiten. Und auch weil Essen mit Lustgefühlen verbunden ist und es die Belohnungszentren in unserem Gehirn ebenso stimuliert wie „richtige“ Drogen, ist es relativ schwer, seine Gewohnheiten zu ändern, geschweige denn zu hungern. Ein reines Informationsproblem ist das steigende Übergewicht also sicher nicht.

Doch genau davon scheint die Nahrungsmittelindustrie auszugehen. Die preschte kürzlich mit einer neuen Kennzeichnungsinitiative vor. Auf Produkten von Coca-Cola, Danone, Kraft, Nestlé und anderen Branchenriesen soll künftig auf der Vorderseite gut erkennbar der Kaloriengehalt pro Portion prangen. Einmal abgesehen davon, dass diese Information auch jetzt schon auf vielen Packungen steht, nur eben auf der Rückseite und meist klein gedruckt – was soll das bringen? Bei Einzelportionspackungen mag das hilfreich sein, doch was ist mit Großpackungen? Wer macht sich die Mühe und wiegt seine Portion ab – etwa die deklarierte Cornflakes-Portion von 30 Gramm? Und wer soll von so einer „Portion“ satt werden?

Bei Großpackungen besteht ohnehin die Gefahr, dass man sich mehr auftut als nötig wäre, um satt zu werden. Die amerikanischen Wissenschaftlerinnen Barbara Rolls und Marion Nestlé (Letztere ist mit der gleichnamigen Firma weder verwandt noch verschwägert) haben in mehreren Studien zeigen können, dass mit steigender Portionsgröße auch mehr gefuttert wird. Das betrifft Dünne wie Dicke. Die Portionsmengen von Lebensmittelpackungen und servierten Gerichten wurden aber nicht vom Kunden, sondern von den Herstellern und den Schnellrestaurants vergrößert. Hier hätten Industrie und Gastronomie tatsächlich eine Möglichkeit, beim Figurhalten zu helfen, indem sie keine Maxi-Menüs und keine Kingsize-Riegel anbieten.

Stattdessen setzt man auf die Kaloriendeklaration auf der Packungsvorderseite und erhofft sich davon „einen Bewusstseinswandel beim Kunden“ – als ob der sich aus lauter Dummheit mit kalorienreichen Produkten vollstopfen würde. Es gibt auch andere Gründe, warum Menschen kalorienlastige Nahrung kaufen und essen: finanzielle beispielsweise. So bestätigte eine aktuelle französisch-amerikanische Studie, dass preiswerte Nahrungsmittel im Durchschnitt eine höhere Energiedichte und eine geringere Nährstoffdichte aufweisen. Das heißt, wer preiswert einkaufen muss, bekommt dafür Lebensmittel, die zu viele Kalorien bei einem geringeren Nährwert haben. Anders gesagt: Wer mit weniger Kalorien satt werden und zugleich alle nötigen Nährstoffe aufnehmen möchte, muss dafür tiefer in die Tasche greifen. So wundert es wenig, dass Übergewicht und Fehlernährung in sozial und finanziell schwächeren Kreisen häufiger sind. Dagegen helfen keine Kalorienangaben.

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