02.05.2023
Der Zielkonflikt der Zentralbanken
Von Alexander Horn
Seit Jahrzehnten setzen Staaten und Zentralbanken auf immer billigeres Geld, um die stagnierende Realwirtschaft anzuschieben. Nun sind niedrige Zinsen existenziell, zu Lasten der Preisstabilität.
Vom kürzlichen Bankenbeben, bei dem mehrere mittlere US-Banken sowie die Credit Suisse kollabierten und anschließend die Kurse europäischer Bankaktien abstürzten, gab sich die EZB reichlich unbeeindruckt. Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde ging sogar in die Offensive. Den aufkommenden Zweifeln an der Inflationsbekämpfung in Anbetracht steigender Instabilität an den Finanzmärkten hielt sie entgegen, dass es „keinen Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität“, gebe. Eine „Separation“ dieser beiden divergierenden Ziele sei möglich, denn die EZB habe „genügend Instrumente, um das Finanzsystem bei Bedarf mit Liquidität zu versorgen“, und könne daher einen Crash verhindern. Unabhängig davon gelinge es, „die reibungslose Übertragung der Geldpolitik zu gewährleisten“, also preisstabilisierende Zinssteigerungen durchzusetzen.
Bisher ist diese Aussage noch keinem Test unterzogen worden, denn die Zentralbanken sind diesem Zielkonflikt seit dem Beginn der Inflation vor mehr als zwei Jahren konsequent ausgewichen. Die Geldpolitik der EZB, so Bundesbankpräsident Joachim Nagel, ist noch immer nicht im „restriktiven Bereich“ angelangt, wirkt also nicht inflationsdämpfend. In der Eurozone wachsen sowohl Geldmenge als auch Kreditvolumen bei praktisch stagnierender Wirtschaft weiter an und das Realzinsniveau ist gegenüber der Vorinflationszeit gesunken.
Das offenbart, dass die Zentralbanken längst Opfer des Zielkonflikts sind, dessen Existenz Lagarde abstreitet. Die Probleme liegen sogar noch viel tiefer. Eine straffere Geldpolitik hätte, anders als von Lagarde behauptet, nicht nur Auswirkungen auf das Finanzsystem. Weit gravierender, und für die Stabilität des gesamten wirtschaftlichen Gefüges letztlich entscheidend, wären die Auswirkungen auf die Realwirtschaft.
Seit der Finanzkrise 2008 stecken die entwickelten Volkswirtschaften in einer wirtschaftlichen Depression. Trotz immer umfangreicherer geldpolitischer und fiskalischer Stimulierung gelingt nur noch ein minimales und zudem fragiles Wachstum. Die Wirtschaft droht immer wieder in Rezessionen abzugleiten und phasenweise stagniert die Wirtschaftsleistung. Arbeitsproduktivität und Reallöhne steigen seit Jahrzehnten kaum noch und im Verhältnis zur ihrer Wertschöpfung sacken die Investitionen der Unternehmen immer weiter ab. Das Wirtschaftswachstum hängt fast komplett vom privaten Konsum ab.
Beatmung mit billigem Geld
Um die wirtschaftliche Depression im Griff zu behalten, ist immer billigeres Geld in allen entwickelten Volkswirtschaften zum bedeutendsten Schmiermittel des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden. Für die Realwirtschaft ist es existenziell.
Denn für die Unternehmen sind niedrige Realzinsen ein wichtiger Faktor. Kreditfinanzierte Investitionen können dadurch rentabler werden. Wegen ihrer rückläufigen Investitionstätigkeit verlieren diese, die Investitionskosten senkenden, Effekte des billigen Geldes jedoch immer weiter an wirtschaftlicher Bedeutung für die Unternehmen. Viel entscheidender sind niedrige Zinsen inzwischen bei der Beschaffung von Fremdkapital und für die Schuldentragfähigkeit der Unternehmen. Denn die Unternehmen finanzieren sich zum überwiegenden Teil – in Deutschland sind es knapp 70 Prozent – über Fremdkapital.
Besonders wichtig sind die niedrigen Fremdkapitalkosten für geschwächte Unternehmen, die um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Wegen der seit Jahrzehnten sinkenden Fremdkapitalkosten gelingt es vielen dieser technologisch meist stagnierenden Zombieunternehmen in vielen Fällen sogar, Gewinne zu erwirtschaften und sich über die dann bereitwilligere Kreditgewährung der Banken auch langfristig über Wasser zu halten.
„Eine straffere Geldpolitik hätte gravierende Auswirkungen auf Stabilität des gesamten wirtschaftlichen Gefüges. Letztlich entscheidend wären die Auswirkungen auf die Realwirtschaft."
Die Realwirtschaft hängt jedoch nicht nur am Tropf geldpolitischer Stimulierung. Sie ist in zunehmenden Maß auch von fiskalischer Stimulierung abhängig geworden. Obwohl der amerikanische Staat seit 2008 die Staatschulden jedes Jahr um gewaltige 7,5 Prozent des BIP steigert und dieses Geld in die Wirtschaft pumpt, wächst die US-Wirtschaft dennoch nur um durchschnittlich um etwa 1,5 Prozent des BIP pro Jahr. In der Eurozone erreichte das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum im gleichen Zeitraum sogar nur weniger als ein Prozent des BIP. Um dies zu erreichen, mussten sich die Euroländer um etwa 3,5 Prozent des BIP in jedem Jahr zusätzlich verschulden.
So sorgen die Staaten für gewaltige schuldenfinanzierte Transferleistungen in die Sozialsysteme und an die Bürger, so dass der private Konsum – trotz real stagnierender oder gar sinkender Erwerbseinkommen – auf einem hohen Niveau gehalten werden kann. Hohe Unternehmenssubventionen, die ebenso wenig durch staatliche Einnahmen gedeckt sind, halten sonst unprofitable Unternehmen am Leben und ermöglichen den besser aufgestellten Unternehmen Preissenkungen, die wiederum die Nachfrage stärken.
Um die zombifizierte Realwirtschaft über Wasser zu halten, sind niedrige Realzinsen unabdingbar. Im Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und der Stabilität der Gesamtwirtschaft können die Zentralbanken gar nicht anders, als sich für niedrige Zinsen entscheiden. Im Zweifel müssen sie die Inflation – wie bisher – tolerieren. Das gilt umso mehr in Anbetracht der in den USA und in Europa herannahenden Rezession.
Billiges Geld durch Siechtum
Für die Zentralbanken ist die Stabilisierung des gesamten wirtschaftlichen Gefüges mit Hilfe billigen Geldes nicht nur wegen des drohenden Absturzes der Realwirtschaft von zentraler Bedeutung. Deren Siechtum – und nicht, wie verbreitet angenommen, die Geldpolitik – ist die Quelle des billigen Geldes.
Mit dem Ende der Nachkriegsexpansion ab Mitte der 1970er Jahre sind die – im historischen Vergleich damals außerordentlich hohen – Investitionen der Unternehmen in den entwickelten Volkswirtschaften zunächst abrupt und in den folgenden Jahrzehnten schleichend zurückgegangen. Dadurch ist der Kapitalbedarf der Unternehmen kontinuierlich gesunken. Ab Anfang der 2000er Jahre haben die im Verhältnis zur Wertschöpfung immer weiter sinkenden Investitionen sogar dazu geführt, dass die Unternehmen steigende Finanzierungsüberschüsse erzielen. Daher drücken alleine die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften in Deutschland seit der Finanzkrise 2008 durchschnittlich jedes Jahr überschüssiges Kapital im Volumen von drei Prozent des BIP in die Finanzmärkte. 2021 waren es etwa 120 Milliarden Euro. Sie haben keine Verwendung dafür, da sie – trotz der niedrigen Realzinsen – keine profitable Investitionsmöglichkeit sehen.
Diese von den Unternehmen ausgehende Geldpumpe ist von Ökonomen aufgrund anderer Interpretationen als Folge einer globale „Sparschwemme“ (Savings Glut) oder als „Säkulare Stagnation“ erklärt worden. Der anschwellende Fluss von Kapital, das in der Realwirtschaft keine profitable Verwendung findet, hat zur Absenkung des langfristigen Zinsniveaus geführt und zudem die Vermögenspreise aufgeblasen. Die Vermögenspreise sind geradezu explodiert, obwohl immer weniger in die Modernisierung von Betrieben und Produktionsanlagen oder Immobilien investiert wird. Diese auch als Finanzialisierung bezeichnete Entkopplung der Vermögenspreise von den zugrundeliegenden Vermögenswerten lässt sich auch als Vermögenspreisinflation interpretieren: Die Kapitalschwemme mitsamt der hohen Nachfrage der Vermögenden hat die Vermögenspreise getrieben, weil es im Verhältnis dazu ein nur knappes Angebot realer Vermögenswerte gibt.
Zentralbanken stabilisieren die Geldpumpe
Die Rolle der Zentralbanken besteht seit Jahrzehnten darin, diese realwirtschaftliche Geldpumpe auch in Krisenzeiten zu stabilisieren und den Fluss billigen Gelds möglichst noch zu steigern.
So haben sie ab den 1980er Jahren eine asymmetrische Geldpolitik betrieben. Zur Verhinderung wirtschaftlicher Krisen haben sie die Leitzinsen abgesenkt, ohne sie in den anschließenden Erholungsphasen wieder auf das frühere Niveau anzuheben. Wirtschaftliche Krisen, die zum Kollaps weniger produktiver und wettbewerbsfähiger Unternehmen geführt hätten und erhebliche Kaptalwerte vernichtet hätten, wurden verhindert. Realwirtschaftliche Restrukturierungen, die zu steigenden Investitionen und einem höheren Kapitalbedarf der Realwirtschaft geführt hätten, sind daher seit Jahrzehnten weitgehend ausgeblieben.
„Um die zombifizierte Realwirtschaft über Wasser zu halten, sind niedrige Realzinsen unabdingbar."
Da die Zinspolitik der Zentralbanken eine starke Wirkung auf die kurzfristigen Zinsen hat, nicht jedoch auf das langfristige Zinsniveau, dienten die Anleihekaufprogramme dazu, auch die langfristigen Zinsen zu drücken. So gelingt es, den wegen der Kapitalschwemme ohnehin niedrigen Langfristzins – vor allem zum Nutzen der Staaten – noch weiter abzusenken und die schuldenfinanzierte Fiskalpolitik zu erleichtern.
Die Stabilisierung dieser Geldpumpe ist jedoch nicht nur für die Realwirtschaft von Bedeutung. Auch die Vermögenspreisblase und letztlich die Stabilität der Finanzmärkte ist vom kontinuierlichen Fluss des von den Unternehmen nicht benötigten Kapitals abhängig.
Die Stabilisierung dieser zombifizierten Realwirtschaft ist so zur unverzichtbaren Voraussetzung für die Stabilität des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden, denn ihr niedriger Kapitalbedarf ist der Ursprung des in die Finanzmärkte strömenden Kapitals und vor allem der niedrigen Langfristzinsen. Der Geldstrom speist die Vermögenspreisblase, limitiert die fiskalischen Probleme beim Aufpumpen der Wirtschaft und ist letztlich sogar für die Realwirtschaft selbst existenziell, weil er zu niedrigen Schuldzinsen führt und vor allem schwachen Unternehmen das Überleben langfristig sichert.
Die Zentralbanken bewegen sich daher in einer Einbahnstraße. Um das wirtschaftliche Gefüge in der aktuell anstehenden Rezession aber auch dauerhaft zu stabilisieren, müssen sie die Realwirtschaft notfalls mit noch mehr billigem Geld retten. Sie können die Inflation nur in dem Maß bekämpfen, wie es die Abhängigkeit von billigem Geld und niedrigen Realzinsen zulässt.
Um aus dem Dilemma austeigen zu können, das Staaten und Zentralbanken mit ihrer Wirtschafts- und Geldpolitik selbst herbeigeführt haben, müssten sie eine grundlegende politische und wirtschaftliche Kursänderung einleiten. Sie müssten anerkennen, dass sie - mit ihren jahrzehntelangen wirtschaftspolitischen Kurs - wirtschaftliche Krisen und die damit einhergehenden notwendigen Restrukturierungen, denen vor allem technologisch stagnierende Unternehmen zum Opfer fallen, ausgebremst haben.
So haben sie eine Zombiewirtschaft erschaffen in der viele Unternehmen existenziell von billigem Geld abhängig sind und in der - wie sich jetzt zeigt - auch die realwirtschaftliche Inflationsbremse zerstört ist. Denn die Unternehmen müssen auf steigende Energie- und Güterpreise mit eigenen Preiserhöhungen reagieren, weil sie kaum noch kostensenkende Produktivitätsverbesserungen erzielen. So können sie steigende Kosten auch langfristig nicht kompensieren. Um ihre Profitabilität zu erhalten, müssen sie daher versuchen höhere Preise durchzusetzen.
Um den Zielkonflikt der Zentralbanken zwischen Preisstabilität und gesamtwirtschaftlicher Stabilität überwinden zu können, müsste die Inflationsbekämpfung auf die Gesundung der Realwirtschaft ausgerichtet sein. Dazu aber müssten Politiker, Ökonomen und Zentralbanker in einem ersten Schritt zunächst anerkennen, dass diese Zielkonflikt realwirtschaftliche Ursachen hat.