11.04.2023

Das Ende einer Zinswende, die es nie gab

Von Alexander Horn

Die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken hat in Jahrzehnten eine Zombiewirtschaft erschaffen. Deren Rettung erfordert noch mehr billiges Geld und die Finanzmärkte jubeln.

Die EZB und allen voran ihre Präsidentin, Christine Lagarde, gerieren sich seit Monaten als Vorkämpfer gegen die Inflation. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos implizierte Lagarde einen harten Kampf der Zentralbanken, denn die Inflation sei „nach allen Maßstäben viel zu hoch“. Möglichen Zweifeln begegnete sie mit der Behauptung, dass die EZB fähig sei, die Inflation wieder auf zwei Prozent zurückbringen und zwar „rechtzeitig“.

Auch Isabel Schnabel, EZB-Direktorin und Deutschlands mächtigste Währungshüterin, hat große Härte zur Überwindung der Inflation angekündigt, nachdem sie – wie die gesamte Führungsspitze der EZB - lange Zeit der Auffassung war, dass sich die Inflation von selbst wieder zurückbilden werde. Bei einer gegenwärtigen Inflationsrate von teilweise mehr als zehn Prozent, so Schnabel, könne man „von Preisstabilität wohl kaum sprechen“. Das Handeln der EZB sei entscheidend, denn die Inflation werde „nicht von selbst zurückgehen“.

Nun gab sich die EZB vom Bankenbeben, in dem mehrere kleine US-Banken und die Credit Suisse kollabierten und anschließend die Aktienkurse europäische Bankaktien abstürzten, reichlich unbeeindruckt. Trotz der Unruhe an den Finanzmärkten erhöhte sie die Leitzinsen wie avisiert um 0,5 Prozent auf 3,5 Prozent. Außerdem bekräftigte sie ihre Absicht mit weiteren Zinsschritten die Preisstabilität wieder herstellen zu wollen. Lagarde ging sogar in die Offensive. Sie behauptete, dass Leitzinsanhebungen nichts im Wege stünde, denn anders als allgemein angenommen gebe es „keinen Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität“. Die sogenannte „Separation“ von Preisstabilität und Finanzstabilität sei möglich. Die EZB habe nämlich „genügend Instrumente, um das Finanzsystem bei Bedarf mit Liquidität zu versorgen“, um Finanzkrisen notfalls eindämmen zu können. Anderseits gelinge es, „die reibungslose Übertragung der Geldpolitik zu gewährleisten“, also preisstabilisierende Zinssteigerungen durchzusetzen.

Taubenhafte Interpretation

Trotz der starken Worte zeigen die Finanzmärkte eine taubenhafte Interpretation der von den Zentralbankanken ausgehendenden Zinssignale. So ließ die Ankündigung der EZB vom Anfang Februar, die Leitzinsen um 0,5 Prozent zu erhöhen und im März nochmals um den gleichen Prozentsatz aufzusatteln, die Aktienmärkte jubeln. Auch die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen sackte in der Erwartung niedrig bleibender Langfristzinsen auf etwa zwei Prozent ab. Nicht anders war die Reaktion auf die Leitzinsentscheidungen der US-Notenbank (Fed) und der EZB vom März, als die Fed die Zinsen nur um 0,25 Prozent statt der avisierten 0,5 Prozent anhob und beide Zentralbanken ankündigten, dass sie weitere Zinsentscheidungen von der konjunkturellen Entwicklung abhängig machen würden.

Längst treten wichtige Mitglieder des EZB-Rats mit der Erwartung in die Öffentlichkeit, dass die EZB bereits im Frühjahr den Zinsgipfel erreichen werde. Der Hauptgrund für das globale Kursfeuerwerk, so Analysten, sei jedoch „die Hoffnung, dass die Inflation ihren Höhepunkt erreicht hat“. Die Finanzmärkte vermuten offenbar, dass sich die Inflation auch weitgehend ohne Zutun der Zentralbanken wieder zurückbildet. In einer Prognose rechnet die Commerzbank bis Ende des Jahres sogar mit einer Inflationsrate von nur noch knapp über zwei Prozent für den Euroraum.

„Den Gewinnern der Inflation – darunter vor allem Großunternehmen und Konzernen – ist es gelungen, die entstandene Güterknappheit zur Durchsetzung ihrer Preisvorstellungen zu nutzen."

So haben viele Aktienindizes inzwischen Rekordhöchststände erreicht. An der Londoner Börse stieg der wichtigste britische Börsenbarometer FTSE 100 im Februar erstmals über 8000 Punkte. Auch der französische Leitindex CAC 40 übertraf Mitte Februar den bisherigen Höchststand vom Januar 2022. Der Dax lag zu diesem Zeitpunkt nur noch vier Prozent unter seinem bisherigen Allzeithoch, trotz des zwischenzeitlichen Bankenbebens fehlen inzwischen nur noch 1,2 Prozent.

Inflation beruht auf Verteilungskämpfen

Die Finanzmärkte feiern die Geldpolitik der Zentralbanken der vergangenen mehr als zwei Jahre. Sie haben zugelassen, dass die Inflation an Dynamik und Breite gewinnen konnte und nun Zweitrundeneffekte das Inflationsgeschehen prägen. Der Preisanstieg entzündet sich immer wieder neu und verläuft in Wellen. Um nicht auf Verlusten sitzenzubleiben, versuchen Unternehmen wie auch Erwerbstätige den Anstieg ihrer eigenen Kosten möglichst ausgleichen, indem sie Preisrunden initiieren. Inflationstreibend kommt hinzu, dass ein knappes Güterangebot eine ideale Gelegenheit ist, um die Preise über den eigenen Kostenanstieg hinaus anzuheben.

So ist die Inflation ein Verteilungskampf, in dem sich die stärkeren Marktteilnehmer durch Preissetzungen durchzusetzen versuchen, wie der Ex-Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard kürzlich auf Twitter erklärte. Die erkennbare Folge der von den Zentralbanken zugelassenen Inflation sind Rekordgewinne der an den Börsen notierten Unternehmen und Reallohneinbußen bei den Erwerbstätigen.

Den Gewinnern der Inflation – darunter vor allem Großunternehmen und Konzernen – ist es gelungen, die entstandene Güterknappheit zur Durchsetzung ihrer Preisvorstellungen zu nutzen. Die von den Zentralbanken zugelassene Inflation hat den Zweck erfüllt, den günstiger positionierten Marktteilnehmern Preiserhöhungen zu erleichtern. So konnten sie höhere Kosten weitgehend überwälzen und in vielen Fällen ihre eigenen Margen auf Kosten schwächerer Marktteilnehmer erhöhen.

Die Akteure an den Finanzmärkten sind längst zu der Überzeugung gelangt, dass die Inflation ihren Interessen – wie in den letzten beiden Jahren an Rekorddividenden und Rekordkursen erkennbar – nicht notwendigerweise zuwiderläuft. Ganz im Gegenteil können sie ihre Interessen besser wahren, wenn die Zentralbanken eine über dem bisherigen Inflationsziel von zwei Prozent liegende Inflation tolerieren. Mit einer restriktiven Geldpolitik würden sie nämlich die Güternachfrage spürbar eindämmen. Die Marktmacht der Anbieter nähme ab und Kostenüberwälzungen sowie Preisanhebungen über den eigenen Kostenanstieg wären deutlich schwieriger.

„Die Zentralbanken fürchten die von Zinsanhebungen und der Umkehr ihrer Anleihekäufe ausgehenden destabilisierenden Effekte so sehr, dass sie - seit dem Beginn der Inflation vor mehr als zwei Jahren - mit ihren Leitzinsanhebungen dem Inflationsanstieg meilenweit hinterhertrotten."

Bei einer inflationsdämpfend wirkenden restriktiven Geldpolitik, sind die Zentralbanken jedoch noch immer nicht angekommen. Kürzlich wies Bundesbankpräsident Joachim Nagel - wie zuvor bereits andere Notenbankpräsidenten – gegenüber der Financial Times darauf hin, dass die EZB-Geldpolitik der Inflation noch nicht entgegenwirke, denn die Zinspolitik sei noch immer nicht im „restriktiven Bereich“. Die Zentralbanken fürchten die von Zinsanhebungen und der Umkehr ihrer Anleihekäufe ausgehenden destabilisierenden Effekte so sehr, dass sie - seit dem Beginn der Inflation vor mehr als zwei Jahren - mit ihren Leitzinsanhebungen dem Inflationsanstieg meilenweit hinterhertrotten.

Rosige Aussichten

Die Finanzmärkte feiern jedoch nicht nur die schönen Resultate, die sie der Inflationspolitik der Zentralbanken verdanken, sondern auch die rosigen Aussichten. Denn die nun in Europa und in den USA herannahende Rezession macht die Lage für die Zentralbanken prekär. Weitere Leitzinserhöhungen, mit denen die Zentralbanken geldpolitisch restriktiv agieren würden, wären ein kompletter Bruch mit der seit den 1980er Jahren verfolgten geldpolitischen Strategie. Seitdem haben die Zentralbanken bei sich ankündigenden Krisen genau entgegengesetzt agiert. Sie haben die Gelschleusen geöffnet und über Jahrzehnte Restrukturierungen der Realwirtschaft verhindert, denen unproduktive und kaum profitable Unternehmen zum Opfer gefallen wären.

Um Krisen zu dämpfen oder gar zu verhindern, haben sie in jeder konjunkturellen Schwächephase die Leitzinsen gesenkt und sie während der darauffolgenden wirtschaftlichen Erholungen nicht wieder auf das frühere Niveau angehoben, um die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich zu stützen. Da das wirtschaftliche Wachstum jedoch im Lauf der Jahrzehnte auch in Erholungsphasen immer schwächer wurde und die Wirtschaft wieder in eine Rezession zu schlittern drohte, haben sie seit der Finanzkrise 2008 sogar ganz auf die erneute Anhebung der Leitzinsen verzichtet und sie stattdessen sogar in den negativen Bereich gedrückt.

„Seit Jahrzehnten ist immer billigeres Geld in den entwickelten Volkswirtschaften zum bedeutendsten Schmiermittel des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden. Inzwischen ist es existenziell."

Anders als von Lagarde behauptet stecken die Zentralbanken seit dem Beginn Inflation vor mehr als zwei Jahren nicht etwa nur in einem Zielkonflikt, sondern in einer regelrechten Zwickmühle. Denn mit Zinsanhebungen, die sie zur Wiederherstellung der Preisstabilität umsetzen müssten, würden sie keineswegs nur die Finanzstabilität gefährden. Viel akuter gefährdet ist die Realwirtschaft der entwickelten Volkswirtschaften, denn sie hängt inzwischen vollkommen am Tropf geldpolitischer Stimulierung durch niedrige Kreditzinsen einerseits und fiskalischer Stimulierung mit Hilfe explodierender Staatschulden andererseits. Und zu allem Überfluss sind die Staaten selbst vom Fluss billigen Geldes abhängig, um die Wirtschaft und die aus dem Ruder laufenden Sozialstaaten über Wasser zu halten.

Seit Jahrzehnten ist immer billigeres Geld in den entwickelten Volkswirtschaften zum bedeutendsten Schmiermittel des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden. Inzwischen ist es existenziell. Den Zentralbanken ist es daher nicht möglich, den jahrzehntelangen wirtschaftspolitischen Kurs, den sie geldpolitisch mitgetragen haben, zu ändern, ohne einen Kollaps, der von ihnen selbst erschaffenen Zombiewirtschaft zu riskieren.

Inflationstolerante Zentralbanken

Entgegen der an die Öffentlichkeit gerichteten Signale stellen die Zentralbanken längst die Weichen zur Tolerierung höherer Inflation. Mit der Verabschiedung ihrer neuen geldpolitischen Strategie, die von Lagarde angestoßen wurde, hat sich die EZB bereits im Juli 2021 mehr Spielraum bei der Inflation verschafft. Damals wurde das bisherige Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ in ein „symmetrisches mittelfristiges Inflationsziel von 2 Prozent“ umgewandelt, wodurch die tolerierbare Inflation sehr dehnbar wird.

Längst ist eine Diskussion über die weitere Anhebung der Inflationsziele im Gang. So hatte der ehemalige Chefökonom des IWF, Olivier Blanchard eine Anhebung der Inflationsziele der Zentralbanken von zwei auf zukünftig drei Prozent gefordert. Dies brachte ihm sehr heftige Kritik seitens des ehemaligen US-Finanzministers Larry Summers auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos ein.

„Die Finanzmärkte jubilieren, weil durch eine höhere Inflation das grimmige Szenario einer wirtschaftlichen Restrukturierung verhinderbar scheint." 

Die Finanzmärkte preisen die von ihnen zurecht erwartete taubenhafte Inflationsbekämpfung der Zentralbanken und die dementsprechend niedrigen und sogar negativen Realzinsen längst ein. Und sie erkennen auch, dass die Zentralbanken die Gewissheit verloren haben, die Inflation tatsächlich kontrollieren zu können. Nach Auffassung von Stefan Schneider, Chefvolkswirt von Deutsche Bank Research, sind die Zentralbanken über die weitere Inflationsentwicklung und die Wirkung ihrer geldpolitischen Maßnahmen selbst verunsichert. In den vergangenen Jahren, so Schneider, sei ihr „Vertrauen in die eigenen Inflations- und Wirtschaftsprognosen arg erschüttert“ worden. Die Zentralbanken könnten daher keine klaren Botschaften senden, was den Finanzmärkten den Spielraum gebe, die Zinssignale als taubenhaft zu interpretieren.

Die Finanzmärkte jubilieren, weil durch eine höhere Inflation das grimmige Szenario einer wirtschaftlichen Restrukturierung verhinderbar scheint und den an den Börsen notierten Großunternehmen zugetraut wird, auch in einer Ära der Inflation ihre Profitabilität – notfalls auf Kosten anderer Marktteilnehmer – sichern zu können.

So hat die seit den 1980er betriebene Geldpolitik nicht nur eine Zombiewirtschaft erschaffen, die trotz geldpolitischer und fiskalischer Dauerstimulierung kaum noch wächst. Wegen ausbleibender Produktivitätssteigerungen ist eine Wohlstandsstagnation eingetreten, die sich an stagnierenden Reallöhnen zeigt.

Nun erfordert die strauchelnde Zombiewirtschaft die Fortsetzung dieser Geldpolitik. Die außerhalb der Kontrolle der Zentralbanken liegende Inflation, wird die Realwirtschaft jedoch noch weiter schwächen, denn insbesondere langfristige Investitionsentscheidungen werden riskanter. Nun drohen Wohlstandsverluste und sinkende Reallöhne.

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