08.02.2023

Der Seiltanz der Zentralbanken

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Kiefer via Flickr / CC BY 2.0

Die Zentralbanken haben eine absturzgefährdete Zombiewirtschaft geschaffen. Zu deren Schutz müssen sie nun eine höhere Inflation tolerieren, denn sie dürfen die Konjunktur nicht abwürgen.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die in Deutschland befürchtete Rezession zwar abgesagt, aber die düsteren Prognosen bleiben. Die deutsche Wirtschaft werde in diesem Jahr nicht schrumpfen, sondern um 0,2 Prozent wachsen, so die Prognose in dem von ihm vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht. Der Dank hierfür gebührt der EZB, die sich erst im zweiten Halbjahr 2022 nach langem Gerede und erst als der Euro gegenüber dem US-Dollar fast 30 Prozent an Wert verloren hatte, zu Zinserhöhungen durchringen konnte. Denn trotz des Anstiegs der Inflation auf zweistellige Werte, sorgt sie mit Leitzinsanhebung vom 2. Februar um 0,5 auf nun 3 Prozent sogar für sinkende und weiterhin negative Realzinsen, eine entsprechend hohe Kreditnachfrage und unterstützt damit die Konjunktur.

Sehr zu Pass kam den Zentralbanken wie auch den Staaten, dass die Inflation im Dezember letzten Jahres an Dynamik verlor und sogar ihren Höhepunkt erreicht haben könnte. Sofort haben sowohl die amerikanische Notenbank (Fed) als auch die EZB die geldpolitische Straffung gemildert. Statt der ursprünglich anvisierten Leitzinserhöhungen um 0,75 Prozent, hoben beide Zentralbanken die Zinsen im Dezember nur um 0,5 Prozent an. Nun hat die Fed mit ihrer Leitzinserhöhung vom 1. Februar um nur 0,25 Prozent ihr Tempo weiter verlangsamt.

Mit dieser Abbremsung der geldpolitischen Straffung wollen die Zentralbanken dem drohenden wirtschaftlichen Abschwung entgegenwirken. Bereits im ersten Halbjahr 2022 war die amerikanische Wirtschaft geschrumpft und nach einem geringen Wachstum im zweiten Halbjahr droht sie 2023 erneut in eine Rezession zu geraten. Die deutsche Wirtschaft stagnierte im vierten Quartal 2022. Für das erste Halbjahr 2023 wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung erwartet, in der Eurozone soll die Wirtschaft stagnieren.

Angst vor der Rezession

Zentralbanken, Staaten und Unternehmen steckt die Angst im Nacken, dass sich die Wirtschaft nach der Stagnation der letzten Jahre und trotz der enormen fiskalischen Stimulation nicht erholt, sondern ein erneuter Abschwung folgt.

Denn eine länger anhaltende Rezession würde die Staaten in Anbetracht der seit der Finanzkrise 2008 aus dem Ruder gelaufenen Staatschulden erneut enorm fordern. Um die Wirtschaft vor einem weiteren Absturz zu bewahren und um die Sozialsysteme zu stabilisieren, wären sie auf noch mehr billiges Geld angewiesen. Das jedoch können die Zentralbanken zumindest nicht mehr in steigendem Umfang liefern, sofern sie bei den von ihnen gefassten Beschlüssen bleiben, das Anleihekaufprogramm nicht weiter auszuweiten und dadurch nicht noch mehr Öl ins Inflationsfeuer zu gießen.

„Aus Angst vor dem Absturz der Zombiewirtschaft verliert nun sogar eine dauerhaft weit über dem Inflationsziel von zwei Prozent liegende Inflationsrate ihren Schrecken und erscheint nunmehr hinnehmbar."

Zentralbanken und Staaten sind mit dem Problem konfrontiert, dass die asymmetrische Geldpolitik der letzten Jahrzehnte, die darauf beruhte die Zinsen bei herannahenden Krisen zu senken und sie im Verlauf der wirtschaftlichen Erholung nicht wieder auf das frühere Niveau abzusenken, wirtschaftliche Krisen und die damit verbunden Restrukturierungen in denen die unprofitabelsten und unproduktivsten Unternehmen untergehen, ausgehebelt haben. In den entwickelten Volkswirtschaften ist dadurch eine Zombiewirtschaft entstanden, die massive fiskalische Stimulierung benötigt, um überhaupt noch zu wachsen und in der sogar die große Masse der profitablen Unternehmen keine wohlstandssteigernden Verbesserungen der Arbeitsproduktivität mehr erreicht. Die Strategie der Zentralbanken und der Staaten besteht seit Jahrzehnten darin, dieses immer labilere und zudem von einem immer tieferen Absturz bedrohte Gefüge mit allen erdenklichen Mitteln zusammenzuhalten und die Wohlstandverluste zu kaschieren, anstatt eine Restrukturierungsstrategie zu entwickeln und umzusetzen.

In Anbetracht der als alternativlos geltenden Strategie der Stabilisierung dieser Zombiewirtschaft und der Gefahr ihres Absturzes, verliert nun bei den Staaten und den Zentralbanken sogar eine dauerhaft weit über dem Inflationsziel von zwei Prozent liegende Inflationsrate ihren Schrecken und erscheint nunmehr hinnehmbar. Wie real diese Überlegungen sind, die eine höhere Inflation zugunsten einer abgeschwächten Rezession akzeptieren, zeigt der Einwand des ehemaligen US-Finanzministers und früheren Chefökonomen der Weltbank, Larry Summers. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos warnte er vor Überlegungen, im Kampf gegen die Inflation die Gefahr einer Rezession zu verringern, indem man „höhere Inflationsziele“ setze. Der französische Notenbankchef und EZB-Ratsmitglied Francois Villeroy de Galhau erwartet hingegen, dass es ihm und seinen EZB-Kollegen gelingen wird, bereits ab diesem Sommer wieder für sinkende Zinsen zu sorgen, denn dann sollen sie ihren höchsten Stand erreicht haben. Die EZB solle einen „Abschluss-Zins“ erreichen, sagte er in seiner Neujahrsansprache. Man müsse pragmatisch sein und dürfe nicht in „einen Fetischismus für allzu mechanische Erhöhungen“ verfallen.

Zuvor hatte sich der niederländische Notenbankchef Klaas Knot öffentlich gegen den aufkommenden Druck zur Vermeidung weiterer Zinserhöhungen gewendet. Es sei „ein bisschen wie ein Witz“, in einer Phase, in der die EZB mit ihrer Zinspolitik die Konjunktur lediglich weniger fördere und die Wirtschaftsaktivität noch nicht bremse, „vom Risiko einer zu starken Straffung zu sprechen“.

Das Wesen der Inflation

Für die Federal Reserve (Fed), vor allem aber für die EZB ist der sich verändernde Charakter der Inflation ein zunehmend größer werdendes Problem. Denn ursprünglich wirkten die infolge der Corona-Krise aus dem Takt geratenen Lieferketten inflationsauslösend. Wegen Lockdowns, Krankheitswellen und Konjunkturprogrammen änderten sich sowohl die Käuferpräferenzen als auch das oft nur temporär limitierte Angebot, so dass dieses nicht mit der Nachfrage mithalten konnte. Die Anbieter konnten die Preise knapper Güter bis hin zum Öl weitgehend diktieren und daher die Preise oft deutlich über den tatsächlich gestiegenen Aufwand der Güterbereitstellung anheben. In dieser Phase konnte die EZB noch behaupten, dass „dieser Anstieg der Inflation nicht von Dauer sein“ werde, wie die EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Oktober 2021 beteuerte. Damals, so das EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, sei die EZB davon ausgegangen, dass die „Inflationsursachen von allein wieder abklingen“ werden.

Zum Schrecken der Zentralbanken hat die Inflation jedoch zügig ihr Wesen verändert. Die Unternehmen haben den von vielen ihrer Lieferanten aufkommenden Preisdruck nicht durch eigene Anstrengungen kompensieren oder – wie in den letzten Jahrzehnten typisch – wiederum an andere Lieferanten zurückgeben können. Stattdessen mussten sie diesen Druck, trotz der damit verbundenen Risiken, an ihre eigenen Kunden weiterreichen. So hat der Preisauftrieb rasch an Breite und Dynamik gewonnen, nachdem sich infolge steigender Energiepreise – zunächst beim Öl – ein zudem in der Breite wirkender Auslöser entwickelte. Die Inflation hat daher nicht nur alle Güter mehr oder weniger stark erfasst, sondern auch dadurch an Dynamik gewonnen, dass viele Unternehmen die für sie günstige Marktsituation mit knappem Angebot auch weiterhin für Preisanhebungen nutzen, die weit über die eigenen Kostensteigerungen hinausgehen.

Inflationäre Verteilungskämpfe

In ihrem Bestreben, Einkommensverluste möglichst zu vermeiden, haben die Unternehmen überall Zweitrundeneffekte ausgelöst. Sie beruhen auf Verteilungskämpfen, so der Ex-Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard kürzlich auf Twitter. Diese Preisrunden werden geführt, um steigende Kosten auf die schwächsten Akteure – seien es Unternehmen, Erwerbstätige oder etwa die Empfänger staatlicher Transferleistungen – zu überwälzen und um die Wohlstandsverluste endgültig bei diesen abzuladen.

Um den Ernst der Lage zu erkennen, muss man sich verdeutlichen, dass es in den gegenwärtigen Verteilungskämpfen nicht nur darum geht, den nur temporär bedingten Anteil des Preisanstiegs auf Andere zu überwälzen. Es geht auch darum Kosten zu abzuwälzen, die sich nicht wieder zurückbilden und zudem weiter ansteigen. Denn während beispielsweise Containerfrachtraten oder Preise für Mikrochips wieder in Richtung ihres ursprünglichen Preisniveaus tendieren werden, sobald die zugrundeliegende Güterknappheit überwunden ist, werden die Energiepreise, insbesondere Gas- und Strompreise, zwar aus den gleichen Gründen ihre Spitzenniveaus verlassen, aber dennoch einem dauerhaften Aufwärtstrend unterworfen bleiben.

„Die inflationären Preisrunden werden geführt, um steigende Kosten auf die schwächsten Akteure – seien es Unternehmen, Erwerbstätige oder etwa die Empfänger staatlicher Transferleistungen – zu überwälzen und um die Wohlstandsverluste endgültig bei diesen abzuladen."

Dieser Energiekostendruck wird bleiben, denn die zur Verfolgung der ökologischen Klimapolitik betriebene Energieeinsparung und der Ausbau der Erneuerbaren Energien verursacht sowohl steigende Kosten beim Energiesparen und ist auf die zunehmende Nutzung von teurem LNG-Gas angewiesen sowie auf die Zurückdrängung der billigen fossilen Rohstoffe sowie der Atomkraft. Zwar ist Deutschland wegen seiner Abhängigkeit von Erdgas in besonderem Maß betroffen, die von der Klimapolitik in den entwickelten Volkswirtschaften ausgehende „Greenflation“ und „Fossilflation“ wirken sich auch global aus.

So haben Corona- und Energiekrise, indem sie Güterknappheit bei hoher Nachfrage hergestellt haben und den Anbietern dieser Güter eine starke Marktposition verschafft haben, als Auslöser gedient, um den vor allem in Deutschland und Europa schon länger wirkenden Kostendruck infolge der ökologischen Klimapolitik, im Zuge allgemeiner Preiserhöhungen ebenfalls zu überwälzen und diesen Verteilungskampf zu beginnen.

Erst am Ende vieler und vielleicht nie endender Preisrunden wird sich klären, wer die Last vor allem der dauerhaft hohen Energiepreise tragen wird. Dieser Verteilungskampf kann dazu führen, dass die Inflation nicht wieder verschwindet, sondern dass sie sogar in eine Aufwärtsspirale mündet. Dies wäre der Fall, wenn es allen Akteuren gelingt, mit erneuten Preis- oder Lohnerhöhungen mehr oder weniger erfolgreich gegen Einkommensverluste anzukämpfen.

Kaputte realwirtschaftliche Inflationsbremse

Die Inflationsproblematik wird für die Zentralbanken noch dadurch verschärft, dass die realwirtschaftliche Inflationsbremse zerstört ist. Denn in einer gesunden Volkswirtschaft erreichen die Unternehmen aufgrund des technologischen Fortschritts Produktivitätsverbesserungen, die kontinuierlich kostendämpfend wirken. So können sie Kostensteigerungen auf lange Sicht und über die vielstufigen Wertschöpfungsketten ausgleichen.

Da jedoch in allen entwickelten Volkswirtschaften nach einem jahrzehntelangen Abwärtstrend nun eine Stagnation der Arbeitsproduktivität eingetreten ist, können sich die Unternehmen nicht mehr durch Produktivitätsverbesserungen vor Einkommensverlusten schützen, die sich infolge steigender Kosten ergeben. Um ihre Profitabilität zu erhalten, müssen sie daher versuchen steigende Kosten auf andere zu überwälzen. So bleibt das wirtschaftliche Gefüge extrem anfällig für inflationäre Impulse. Immer wieder aufflammende Verteilungskämpfe in Form von inflationären Zweitrundeneffekten sind daher zu erwarten.

Geldpolitik in der Sackgasse

Die Zentralbanken der entwickelten Volkswirtschaften stecken daher tief in der Tinte und mit ihnen die Staaten und ihre Bürger. Denn durch ihre Geldpolitik, die seit Jahrzehnten auf die Verhinderung und Dämpfung wirtschaftlicher Krisen ausgerichtet ist – und damit den Untergang der unproduktivsten Unternehmen dauerhaft verhindert hat –, haben sie zur Herausbildung einer Zombiewirtschaft beigetragen, in der auch die große Masse der besser aufgestellten Unternehmen nur noch marginale Produktivitätsfortschritte erreicht. Dieses wirtschaftliche Gefüge, in dem die Unternehmen im Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung immer weniger in neue Maschinen und Anlagen investieren, ist seit der Finanzkrise 2008 so fragil geworden, dass es seitdem immer extremerer geldpolitischer – und seit einigen Jahren zudem enormer fiskalischer – Mittel bedarf, um nicht in dauerhaft negativem Wachstum zu verharren.

Europa, aber auch die USA und Japan, sind inzwischen auf die massive Ausweitung von Staatsschulden angewiesen, um zumindest ein minimales Wachstum zu erzeugen und Wohlstandsverluste zu kaschieren. Von der Finanzkrise 2008 bis unmittelbar vor dem Beginn der Corona-Krise im Jahr 2019 sahen die Staaten der Eurozone in immer stärkerem Umfang gezwungen, ihre dysfunktionalen Volkswirtschaften fiskalisch zu stimulieren. In diesem Zeitraum mussten die Staaten der Eurozone ihre jährlichen Haushaltsdefizite auf durchschnittlich etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausweiten, und konnten doch nur ein reales Wachstum von durchschnittlich etwa 0,5 Prozent des BIP pro Jahr erreichen. Auch in Deutschland beruht wirtschaftliches Wachstum inzwischen praktisch vollkommen auf schuldenfinanzierten staatlichen Ausgaben.

In dieser prekären wirtschaftlichen und fiskalischen Lage ist es den Zentralbanken – trotz der vielen markigen Worte mit denen sie ihre Entschlossenheit zur Inflationsbekämpfung beteuern und die dennoch nur dazu dienen die Inflationserwartungen zu dämpfen – nicht möglich, eine restriktive Zinspolitik zu verfolgen. Sie müssen, so wie sie es seit Jahrzehnten tun, auch jetzt wieder alles dafür tun, um eine anstehende Rezession zu mildern und den Staaten den dafür notwendigen fiskalischen Spielraum verschaffen. Indem sie eine Rezession vereiteln, können sie verhindern, dass die Staatsausgaben zur Rettung der Wirtschaft und Sozialsysteme noch weiter ausufern. Andernfalls droht eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, in der insbesondere die Staaten der Eurozone, wie schon während der Eurokrise 2012, überfordert sein könnten.

Um also Schlimmeres zu vermeiden, muss die EZB versuchen den Notenbankzins im Verhältnis zu Inflation niedrig zu halten, so dass sie jedenfalls den Staaten eine Verschuldung zu negativen Realzinsen bieten kann. Sie kann die Inflation nicht wirksam bekämpfen und muss darauf bauen, dass sie von selbst auf einem Niveau bleibt, das sie als tolerierbar verkaufen kann.

Die Zentralbanken, insbesondere aber die EZB, können also nur hoffen, dass die Inflation nicht infolge von Zweitrundeneffekten aus dem Ruder läuft. Andernfalls könnten sie, um die Nachfrage zu dämpfen, doch zu Zinsschritten gezwungen sein, die eine tiefe Rezession auslösen würden. Dann könnte der nun beginnende Seiltanz zwischen Inflationstoleranz und dauerhafter wirtschaftlicher sowie fiskalischer Stimulierung in einem Absturz enden.

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