10.06.2016

Der Verbraucher – schwach oder mündig?

Redaktioneller Hinweis von Novo-Redaktion

Renate Künast (Grüne), Alexander Neubacher (Spiegel) u.a. diskutierten gestern auf einer Veranstaltung von Novo und dem Freiblickinstitut über Verbraucherpolitik. Mit Videomitschnitt.

Veranstaltungstitel:

Mündiger Bürger, unmündiger Konsument? Die ‚realistische‘ Wende in der Verbraucherpolitik

Datum:

9. Juni 2016, 19.15 Uhr

Ort:

BiTS Hochschule, Berlin (nahe Potsdamer Platz)

Podium:

  • Dr. Maria Flachsbarth MdB (CDU), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
  • Dr. Ursula Hudson, Vorstandsvorsitzende Slow Food Deutschland
  • Renate Künast MdB (Grüne), ehem. Verbraucherschutzministerin
  • Alexander Neubacher, Journalist (Der Spiegel), Autor von „Total beschränkt: Wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt“
  • Thilo Spahl, Ressortleiter Wissenschaft bei Novo

Einen Videomitschnitt finden Sie hier (Start ab Minute 20:15). Bitte entschuldigen die streckenweise suboptimale Tonqualität auf Grund technischer Probleme.

Bericht:

Die Verbraucherpolitik nimmt vom Ideal des mündigen Konsumenten zunehmend Abschied. Nehmen uns Nudging und Verbote schleichend die Freiheit oder bieten sie Chancen für mehr Verbraucherschutz?  

Spiegel-Journalist Neubacher beklagte den Paradigmenwechsel vom mündigen zum „schutzbedürftigen Verbraucher“, der eine „schleichende Entfähigung“ zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung mit sich bringe. Spahl sprach von einer „Kultur der Unmündigkeit“, die durch paternalistische Verbraucherpolitik entstehe. Er wandte sich gegen eine „Pflicht zur gesundheitlichen Selbstoptiminierung“ und forderte von der staatlichen Politik, die „Autonomie der Privatsphäre“ zu respektieren. Dicke Menschen dürften, genau wie Homosexuelle, nicht diskriminiert werden.

Das politische Konzept eines „realen“, unmündigen Verbrauchers lehnte auch Hudson von Slow Food ab. Sie befürchtete den „kompletten Verlust an Selbstverantwortung“ und sprach sich ansonsten für ressourcenschonende Lebensmittelproduktion aus. Demgegenüber befürworteten die Bundespolitikerinnen Künast und Flachsbarth mehr staatliche Eingriffe etwa in die Ernährung, distanzierten sich aber verbal von Bevormundung und Paternalismus.

Beim kontroversen Thema Nudging, dem Anschubsen des Bürgers zur Beeinflussung seiner (Konsum-)Entscheidungen, gingen die Meinungen weit auseinander, auch im Publikum, das sich mit Fragen und Statement rege beteiligte. Zu den vielen Stimmen, die dem Nudging skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, gehörte formal auch Renate Künast, aus deren Sicht Informationen und Verbote genügen, so dass kein Bedarf für ein ‚Zwischending‘ bestünde. Allerdings konnte sie sich grundsätzlich eine „Voreinstellung, um jemanden zu lenken“ vorstellen – was der Definition von Nudging sehr nahekommt. CDU-Politikerin Flachsbarth („Freiheit ist ein hohes Gut, aber…“) informierte, dass von der Bundesregierung, die im vergangenen Jahr eine „Nudge-Unit“, die Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“ im Kanzleramt installiert hatte, noch keine detaillierte Planung vorliege, „wohin wir Sie jetzt nudgen wollen“. Nudging sollte ihrer Meinung nach transparent erfolgen, nicht unbewusst, sondern als gezielte Bewusstmachung.

Immer wieder tauchte das Thema einer „guten“ oder „gesunden“ Ernährung auf, was zeigt, wie das eigentlich Private immer mehr politisiert wird. Zu fachlichen Kontroversen kam es zwischen Novo-Redakteur Spahl und der Grünen Künast bei den Themen Glyphosat (für Spahl eine „Pseudogefahr) und Diabetes im Kindesalter, für die Ex-Ministerin ein teures Problem, das staatliche Interventionen rechtfertigt.

Ein ähnlich aktuelles Thema wie Glyphosat griff Neubacher, aus dessen Feder das Buch „Total beschränkt: Wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt“ stammt, auf, indem er die derzeitige Tabakregulierung mit den Ekelbildern auf Packungen als Grenzüberschreitung kritisierte, als illegitimen Schutz des Menschen vor sich selbst. Insbesondere das Verbot von Geschmacksstoffen wie Menthol griff er dabei an. Neubacher rekurrierte auf Philosophen, die wichtige Beiträge zur Mündigkeitsdebatte geliefert hatten, wie Kant und Mill.

Diese Veranstaltung bildet den Auftakt einer Kampagne zu Paternalismus und Mündigkeit, die Novo und Freiblickinstitut bis zur Bundestagswahl 2017 durchführen wollen.

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