04.04.2016

Der Preis der Freiheit

Kommentar von Horst Meier

Sollte man sich anlässlich der letzten Terrorannschläge einschüchtern lassen? Nein! Man sollte insbesondere die Meinungsfreiheit jetzt nicht leichtfertig in Frage stellen

Aufgeklärte und tolerante Menschen sind für Meinungsfreiheit, das versteht sich von selbst. Sie ist ein hohes Gut. „Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es im Grundgesetz. Wer wollte da der Redefreiheit einen neuen Maulkorb verpassen? Die Sache ist so klar wie nur irgendwas – im Prinzip. Sobald aber konkrete Fälle zur Debatte stehen, wird die Sache komplizierter. In den Niederungen des Alltags tummeln sich Leute, die schamlos zu weit gehen. Leute, die weder Anstand an den Tag legen, noch guten Geschmack kennen. Da kommen erst leise Zweifel auf, dann werden Fragen laut: Darf der Papst als inkontinent karikiert werden, nur weil wegen einer undichten Stelle im Vatikan geheime Dokumente geleakt wurden? Darf der Prophet mit Bombe unterm Turban karikiert werden, nur weil sich Selbstmordattentäter auf ihn berufen? Darf ein Text unter dem Titel „Mohammed Gets a Boner“ – zu Deutsch „Mohammed kriegt einen Steifen“ –, öffentlich dargeboten werden, nur weil ein Literat austesten will, wie weit die – für ihre Liberalität bekannte – Meinungsfreiheit in den USA wirklich reicht?

Solche Ausfälle sind für viele abstoßend. In der Tat lässt sich über Fragen der künstlerischen Qualität oder des intellektuellen Niveaus streiten. Und wenn sich zur Irritation noch Ärger und Empörung gesellen, ist es nicht mehr weit bis zum Wunsch nach Zensur, erst klammheimlich, dann unverhohlen: Muss das wirklich sein? Darf man tatsächlich so weit gehen? Ist das nicht schlimmer, als die Polizei erlaubt? Das Muster ist immer das gleiche: „Natürlich bin ich für Meinungsfreiheit, aber so etwas ist unerträglich.“ Daraus spricht eine Prinzipientreue, die bei der ersten Probe aufs Exempel ins Schwanken gerät.

„Die Prinzipientreue gerät bei der ersten Probe aufs Exempel ins Schwanken“

Die ersten Wochen des Jahres 2015 sahen rabenschwarze Tage. Nach den Anschlägen von Paris und Kopenhagen ist die Debatte um Mohammed-Karikaturen und Meinungsfreiheit neu entbrannt. Sie schwelt schon seit 1989, dem Jahr der Todes-Fatwa, die Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie verhängte. Das Massaker in der Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo und die Schüsse auf Menschen, die in einem Kopenhagener Kulturzentrum über „Karikaturen und Redefreiheit“ diskutierten – diese Gewaltorgien zielen aufs Herz der Demokratie. Auch wenn sich die politische Karikatur künstlerischer Mittel bedient – im Zentrum steht die Meinungsfreiheit. Und diese ist, mit den Worten des Verfassungsgerichts, für die Demokratie „schlechthin konstituierend“: „Denn (sie) ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“

War die freie Rede einst lebensgefährlich, weil sie einen in die Verliese der Despotie bringen konnte, so riskieren heute Journalisten und Bürger, von selbsternannten „Rächern des Propheten“ an Ort und Stelle hingerichtet zu werden. Einer, der in Kopenhagen mit einem Schrecken davonkam, brachte die neue Lage auf den Punkt: Wer von uns hätte gedacht, dass wir eines Tages vom Staat fordern würden, unsere Veranstaltungen durch Polizisten schützen zu lassen? Polizisten, von denen wir erwarten, dass sie nicht nur mit Revolvern, sondern besser mit Maschinenpistolen bewaffnet sind.

Geschmacklos heißt nicht illegal

„Was darf Satire?“, fragte einst Kurt Tucholsky, und antwortete: „Alles!“ Der gelernte Jurist münzte diese Antwort gewiss nicht auf die Frage der Legalität, sondern auf die grenzenlose Vielfalt der künstlerischen Mittel und Inhalte. Das tut freilich seiner Radikalität keinen Abbruch. Warum fallen heutzutage Antworten auf die Frage, was Meinungsfreiheit darf, oft so kleinlaut aus?

Ein naheliegendes Missverständnis besteht darin, dass viele nicht klar unterscheiden zwischen dem, was sie selbst nicht schicklich finden, und dem, was anderen gleichwohl erlaubt ist. Ich würde zum Beispiel, auch wenn eine Serie schlimmer Fälle von Kindesmissbrauch die Öffentlichkeit erregt, die katholische Kirche nicht als „Kinderficker-Sekte“ beschimpfen. Irgendein Wutbürger ließ sich dazu aber hinreißen – und kürzlich befand eine Amtsrichterin in Berlin, seine Äußerung sei von der Meinungsfreiheit noch gedeckt. Die Gerichte sind um ihre Arbeit wahrlich nicht zu beneiden. Hier wie überall muss kühl und präzise unterschieden werden: zwischen dem, was politisch anstößig, moralisch verwerflich oder schlicht geschmacklos und dümmlich ist; und dem, was illegal und gar strafbar ist.

Nur analytische Distanz verhilft zu der Einsicht: Was Freiheit praktisch wert ist, erweist sich an den haarsträubenden Skandalfällen. Der Haupteinwand gegen provozierende Meinungen und Karikaturen kommt altruistisch daher: Man möge doch, bitte schön!, Rücksicht nehmen auf die religiösen Gefühle einer diskriminierten Minderheit. Man dürfe deren Empfindlichkeiten nicht mutwillig mit Füßen treten. Falsch verstandene Liberalität befördere Vorurteile und münde in Islamophobie. Daher seien „unnötige“ Provokationen tunlichst zu vermeiden. Das ist nett gemeint, aber kein gutes Argument. Wer befindet denn über „nötig“ und „unnötig“? Wer eicht das Maß? Die Frage, ob eine skandalöse Karikatur zu weit geht oder nicht, ist Gegenstand einer öffentlichen Debatte, die der Staat nicht abwürgen darf. Um mit Karl Kraus zu sprechen: Der Skandal beginnt immer erst dort, wo die Polizei ihm ein Ende bereitet.

Außerdem legt die Strategie der freiwilligen Selbstkontrolle nahe, wohlmeinende Zurückhaltung könne zu allem entschlossene Fanatiker irgendwie gnädig stimmen. Das ist absurd. Den „Gotteskriegern“ ist ja nicht eine zu liberale Spielart, sondern die Meinungsfreiheit als solche ein Gräuel. Es beeindruckt sie nicht im Geringsten, dass die Leute von Charlie Hebdo einen Prozess gewannen, den der Verband der Muslime angestrengt hatte. Im Übrigen wird gern übersehen, dass die falsche Rücksichtnahme auf Fundamentalisten den Aufgeklärten ihrer Glaubensgenossen in den Rücken fällt. Es gibt zahlreiche Muslime, die zwar die eine oder andere Karikatur abstoßend finden, doch keineswegs nach Zensur rufen – weil sie es zu schätzen wissen, in einer freien Gesellschaft zu leben.

„Politische Karikaturen, die nicht provozieren, sind zahnlos“

Wenn nun aber Muslime darauf hinweisen, eine Gesellschaft, die aus Rücksicht auf Juden die Leugnung des Holocausts verbietet, könne sehr wohl auch die Schmähung des Propheten bestrafen, dann treffen sie einen wunden Punkt. Dies ist nämlich ein Sündenfall, der nicht Anlass sein sollte, weitere Meinungsdelikte zu befürworten, sondern – so der US-amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin – das fragwürdige Verbot der Holocaustleugnung zu überdenken.

Gefahren des Kulturrelativismus

Im Übrigen ist religiös motivierter Fanatismus kein Privileg von Islamisten. In den USA gingen sogenannte christliche „Lebensschützer“ so weit, Abtreibungsärzte, die sie als „Mörder“ schmähten, niederzuschießen. Niemand käme wohl auf die Idee, abtreibungswillige Mediziner und Frauen zur „Mäßigung“ aufzurufen, um solche Leute zu besänftigen. Auch die Mächtigen der christlichen Amtskirche mussten lernen, sich mit allerhand Provokationen zu arrangieren. Der Skandal um die Zeichnung Jesus am Kreuz mit Gasmaske, die George Grosz in den 1920er-Jahren vor Gericht brachte, ist nur ein Beispiel von vielen. Der vielgescholtene Multikulturalismus ist, richtig verstanden, ein brauchbares Konzept für die friedliche Koexistenz. Er bietet Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft einen Rahmen für politische und religiöse Vielfalt. „Multikulti“ darf aber keineswegs auf Relativismus reduziert werden. Auf eine Indifferenz, die das Bewusstsein verloren hat für die Errungenschaften des Verfassungsstaats.

Wer die Meinungsfreiheit als eine westliche Eigenart bagatellisiert, die anderen Kulturen nicht „aufgedrängt“ werden dürfe, gibt sie preis. Sie steht aber nicht zur Disposition, sie beansprucht universelle Geltung. Ohne Redefreiheit gibt es weder persönliche Entwicklung noch demokratisch legitimierte Herrschaft. Sie ist genauso essentiell wie das Selbstbestimmungsrecht von Frauen oder das Verbot der Folter. Minderheiten in westlichen Gesellschaften haben natürlich alles Recht der Welt, Verhältnisse, die sie als „dekadent“ empfinden, anzuprangern. Aber die Spielregeln der Demokratie bleiben – für sie wie für jedermann – verbindlich, wenn es gilt, Konflikte friedlich auszutragen. „Religion muss die Prinzipien der Demokratie einhalten – und nicht umgekehrt“ (Ronald Dworkin).

Und die Lehre aus diesen Schreckenstaten? Eine ratlose Öffentlichkeit bedarf ihrer dringend – und muss doch denkend aushalten, dass handliche „Lehren“, kurz und bündig, nicht gezogen werden können. So viel lässt sich immerhin sagen: Die Schüsse von Paris und Kopenhagen haben auf drastische Weise gezeigt, dass die Redefreiheit heute nicht allein gegen ihre alten despotischen Widersacher, nicht nur gegen einen neuen Obrigkeitsstaat, sondern auch gegen religiös motivierte Fanatiker verteidigt werden muss. Demokraten sollten sich außerdem selbstkritisch fragen, ob sie mit einer Politik der Beschwichtigung nicht den Verächtern der Freiheit in die Hände spielen. Machen wir uns nichts vor: „Streitkultur“, die am liebsten Süßholz raspelt, ist keine. Politische Karikaturen, die nicht provozieren, sind zahnlos. So wie Meinungsfreiheit, die niemandem wehtut, keine ist.

Die Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen Gesellschaft müssen sich den Gebrauch der Freiheit schon wechselseitig zumuten – und notfalls etwas kosten lassen. Sonst wird auf der neuen Landkarte der Zensur neben dem Hassverbrechen das Verbrechen wider den Propheten eingetragen.

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