20.03.2015

Der Mythos vom liberalen Amerika

Analyse von Sean Collins

Die Legalisierung von Cannabis, wie letztes Jahr im US-Bundesstaat Colorado, macht eine Gesellschaft nicht automatisch liberaler, findet Sean Collins. Der Zeitgeist ist paternalistisch, und wer bei diesem Thema „Legalize it“ ruft, befürwortet bei anderen Themen oft Verbote

Anfang letzten Jahres hat Colorado als erster US-Bundesstaat den Verkauf von Haschisch und Marihuana legalisiert. Das ist recht bemerkenswert, wenn man sich vor Augen führt, dass seit dem frühen 17. Jahrhundert Verkaufsbeschränkungen für diese Droge bestanden haben und in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spezifische Verbote eingeführt wurden. Selbst der mit der Hippie-Ära der 1960er Jahre zunehmende Gras-Konsum der urbanen Mittelklasse hatte – bis heute – nicht für die Aufhebung der entsprechenden Gesetze ausgereicht.

Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte man das Thema Cannabis-Legalisierung noch nicht auf dem landesweiten politischen Radar. Heute wird plötzlich prophezeit, es werde sich von Colorado aus über das ganze Land verbreiten und dabei ein riesiges „Neu-Amsterdam“ erschaffen (wobei die Regelung in Colorado erheblich liberaler ist als die in Amsterdam). [1]

Die US-Medien berichteten in ihrer überwiegenden Mehrheit positiv über die Eröffnung von Cannabis-Läden in Colorado, wobei die Fernseh-Reporter sich eines augenzwinkernden Tones nach dem Motto „Wow, kaum zu fassen“ befleißigten, wenn sie Gras-Käufer interviewten. CNN vertiefte sich gar in die feineren Details für potentielle Hanfgourmets [2], und stellte von all den Sorten, die die Händler in ihren Läden feilbieten, den „Merlot des Grases“ besonders heraus. Die Resonanz scheint nahezulegen, dass sich mehr geändert hat als nur ein Gesetz: Der Cannabiskonsum erlebt nicht nur das Ende seiner gesellschaftlichen Stigmatisierung, er wird sogar gefeiert. Auch außerhalb von Colorado behaupten manche, die Legalisierung von Cannabis – in Verbindung mit der in einigen Bundesstaaten eingeführten Homoehe und diversen anderer Veränderungen der letzten Zeit – zeige, dass sich ein neues „liberales“ [3] oder „libertäres“ [4] Amerika abzeichnet.

„Ich kann den Schritt zur Drogenlegalisierung nicht begrüßen, wenn er nichts mit einer Ausweitung der persönlichen Freiheiten und einer Verbesserung der Gesellschaft zu tun hat“

Wahrscheinlich erwartet man jetzt von mir als einem grundsätzlichen Befürworter der Cannabis-Legalisierung, dass ich die Entscheidung in Colorado als einen großen Schritt nach vorn bejuble. Das werde ich jedoch nicht tun. Ich kann den Schritt zur Drogenlegalisierung nicht begrüßen, wenn er nichts mit einer Ausweitung der persönlichen Freiheiten und einer Verbesserung der Gesellschaft zu tun hat. Denn diejenigen, die jetzt der Cannabis-Legalisierung zujubeln und den Anbruch eines „liberalen“ oder „libertären“ Amerika feiern, sind zugleich auch oft diejenigen, die das Land in anderen Lebensbereichen in eine zunehmend restriktive und illiberale Richtung führen.

Schon früher hatten politische Kommentatoren das Colorado-Experiment in einer Weise diskutiert, die vermuten ließ, die Gras-Freigabe werde keineswegs der Wegbereiter für mehr Toleranz und allseitiges Verständnis sein. Jedenfalls stößt die Idee der Legalisierung auf eine recht breite Unterstützung.

Das grundlegendste Pro-Argument blieb dabei jedoch gemeinhin außer Acht: die persönliche Freiheit. Kaum jemand sagte, die Menschen sollten selbst entscheiden können, ob sie Cannabis konsumieren wollen oder nicht; und die mit dem staatlichen Paternalismus verbundenen Probleme wurden genauso wenig thematisiert.

„Kaum jemand sagte, die Menschen sollten selbst entscheiden können, ob sie Cannabis konsumieren wollen oder nicht.“

Die Diskussion drehte sich weniger um das Für und Wider der Legalisierung an sich, sondern eher um die Frage, warum Cannabisprodukte selbst etwas Positives seien. Die Verfechter der Legalisierung betonen die vermeintlich vorteilhaften Aspekte des Stoffes, der etwa die Kreativität fördere, Stress abbaue und auch in der Medizin von potentiellem Nutzen sei. Die Aussage des US-Fernsehmoderators Joe Scarborough, Pot mache „einfach nur blöd“, führte daher zu heftiger Entrüstung – denn sie äußerte Zweifel an der neuerdings beliebten These, der zufolge Cannabis an sich etwas Gutes ist. Dass Scarborough sich über die Vorzüge der Legalisierung selbst gar nicht geäußert hatte, wurde dabei weitgehend übersehen.

Die Befürworter einer Legalisierung vergleichen Cannabis häufig mit Alkohol. Einerseits wollen sie damit die widersprüchliche Behandlung zweier Produkte verdeutlichen (Gras verboten, Alkohol erlaubt), die man sonst in vielerlei Hinsicht als ähnlich betrachtet. Andererseits wird dieses Argument mittlerweile auch oft gegen diejenigen ins Feld geführt, die Alkohol bevorzugen. Man verkündet uns, Marihuana sei viel weniger schädlich als Alkohol [5] oder ungefährlicher als ein starker Alkoholrausch, da es den Gewaltinstinkt neutralisiere. [6] Aber das sind nur die Vorurteile der Pro-Cannabis-Clique, mit denen sich die potrauchende obere Mittelklasse über die alkoholtrinkende Arbeiterklasse erheben will. Frei nach dem Motto: Unser Land wäre doch ein viel besserer Ort, wenn die jungen Leute in der Provinz auch auf Gras umsteigen würden, um mal ordentlich zu chillen!

Entscheidend ist: Viele Linke befürworten die Liberalisierung schlicht deshalb, weil sie selbst eine positive Einstellung zu Cannabis haben. Ich habe kein Problem mit gelegentlichem Grasrauchen, aber darin sehe ich noch keine Äußerung von Toleranz und liberaler Gesinnung. Den Befürwortern geht es letztlich nur darum, die Vorlieben der jeweils eigenen Gruppe von der Gesellschaft und der Gesetzgebung anerkannt zu sehen. Das ist damit vergleichbar, wenn Linke behaupten, die Meinungsfreiheit sei nie größer gewesen als heute, obwohl Personen des öffentlichen Interesses mit politisch unkorrektem Sprachgebrauch und Leute mit negativer Einstellung zur Homosexualität das durchaus anders sehen dürften.

„Das neue ‚liberale‘ Amerika findet Marihuanarauchen cool, verteufelt aber zugleich alle, die bei McDonalds Hamburger essen oder große Limos trinken.“

Darüber hinaus ist die Annahme, die USA würden „libertär“, ein Mythos. Die Einschränkungen beim persönlichen Verhalten nehmen zu, nicht ab. Colorado mag Marihuana legalisieren, aber zugleich verbieten Städte ohne jeden vernünftigen Grund die E-Zigarette. [7] Das neue „liberale“ Amerika findet Marihuanarauchen cool, verteufelt aber zugleich alle, die bei McDonalds Hamburger essen oder große Limos trinken. Wer beim Cannabis als großer Freiheitskämpfer auftritt, ist andererseits oft auch in vorderster Front dabei, wenn es um Verbote, Beschränkungen und pädagogisierende Schubserei (engl. nudging) bei Tabak, Limonade und Schulspeisung geht. Wenn New York Times-Kolumnist David Brooks für einen Regierungs-Schubser gegen den Marihuana-Gebrauch argumentiert („in einer gesunden Gesellschaft wirkt die Regierung in subtiler Weise auf eine maßvolles, umsichtiges und selbstbeherrschtes Bürgertum hin“) [8], dann ist er damit konsequenter als seine Kritiker, die in vielen Bereichen staatliche Einschränkungen fordern, nur beim Cannabis nicht.

Unter den heutigen Umständen birgt die Legalisierung von Cannabis das Risiko eines übermäßigen Konsums, vor allem bei jungen Leuten. Die Gegner der Legalisierung sorgen sich hier durchaus zu Recht, und die Befürworter wollen das offenbar nicht zugeben, damit ihre Sache keinen Schaden nimmt. Man sollte nicht so tun, als sei die Legalisierung nichts als eine große Party. Aber entscheidend ist letztlich, dass das Risiko einer Verschärfung sozialer Probleme noch keine Prohibition von Staats wegen rechtfertigt. Verbote von Regierungsseite stellen nicht nur einen Eingriff in die individuelle Freiheit dar, sie hindern die Menschen auch daran, selbstverantwortlich für sich und andere das Richtige zu tun. Brooks mag sich eine Regierung wünschen, die eine positive „moralische Ökologie“ schafft, doch wenn der Staat uns unser Recht auf eigene Entscheidungen verweigert, sind wir keine moralischen Handlungssubjekte mehr.

Ich würde liebend gerne einen Sieg des „libertären Amerikas“ feiern, aber meine Champagnerflaschen (und andere Substanzen) bleiben auf Eis, bis wir uns von all den Einschränkungen, Verboten und Schubsern wieder befreit haben, die neuerdings überall gedeihen, ohne dass jemand dagegen protestiert. Und das wird dann der Fall sein, wenn wir die Einstellung überwunden haben, die fordert: „Freiheit für mich – aber nicht für dich“.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#118 - II/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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