26.07.2019
Der Mythos der Wiederkehr des Nazismus
Interview mit Udi Greenberg
Vergleiche des heutigen Populismus mit dem Aufkommen der Nazis oder überhaupt der Situation der 1920er und 30er Jahre täuschen. Stattdessen sollte das Misstrauen in die Massen auf den Prüfstand.
Angesichts der populistischen Welle haben Warnungen vor „einer Rückkehr in die 1930er Jahre“ in den letzten Jahren Konjunktur. Seit der Wahl von Donald Trump in den USA und der Brexit-Abstimmung in Großbritannien haben eine Vielzahl von Kommentaren, endlosen politischen Reden und unzähligen Bücher eine ähnliche Behauptung aufgestellt: So wie die Institutionen der liberalen Demokratie Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nährten und ihr dann verfielen, werden auch unsere Institutionen von modernen Faschisten im populistischen Gewand bedroht.
Doch wie zutreffend ist diese Analogie? Sie stößt sicherlich bei Menschen auf Zustimmung, die die Wahl Trumps oder die Stimmen für den Brexit delegitimieren wollen, aber wird sie der Geschichte gerecht? Um diese Fragen zu beantworten, sprach Tim Black vom britischen Novo-Partnermagazin Spiked mit dem außerordentlichen Professor für Geschichte Udi Greenberg, dem Autor des großartigen Buchs „The Weimar Century: German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War“ und gemeinsam mit Daniel Bessner Autor des Essays „The Weimar Analogy“.
Tim Black: Glauben Sie, dass der Weimar-Vergleich – dass die Populisten von heute tatsächlich die Faschisten von gestern sind – die historische Besonderheit des Aufstiegs der Nazis verschleiert?
Udi Greenberg: Jede Analogie hat ihre Grenzen, aber das bedeutet nicht, dass Analogien nicht nützlich sein können. Die Frage ist, wie und zu welchem Zweck wir sie nutzen, und ich denke, die Verwendung des Weimar-Vergleichs für unsere konkrete Situation ist eher verschleiernd als hilfreich. Das liegt zum Teil daran, dass die Unterschiede zwischen dem Sturz der Weimarer Republik und der heutigen populistischen Welle weitaus größer sind als die Gemeinsamkeiten.
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik erfolgte zunächst inmitten der schwersten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts, als ein Drittel der potenziellen Arbeitskräfte arbeitslos war. Nichts mit dieser wirtschaftlichen Katastrophe Vergleichbares geschieht heute. Ja, der Aufstieg des Populismus ist immer noch mit wichtigen wirtschaftlichen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte verbunden, aber diese werden nicht die Schwere der Weltwirtschaftskrise annehmen.
„Die Analogie zwischen heute und dem Aufstieg der Nazis verdunkelt weitaus mehr, als sie erhellt.“
Die Weimarer Republik fiel auch, weil die faschistische Bewegung in großem Umfang Gewalt auf den Straßen einsetzte und ihre demokratischen, sozialistischen und linken politischen Gegner dezimierte. Etwas Ähnliches haben wir heute noch nicht erlebt. Selbst der verabscheuungswürdige gewaltvolle Marsch der weißen Rassisten in der amerikanischen Stadt Charlottesville 2017, der zu Recht die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog, war nicht mit der Gewalt der 1930er Jahre auf den Straßen Deutschlands und anderer europäischer Länder vergleichbar.
So scheint es mir, dass die Analogie zwischen heute und dem Aufstieg der Nazis weitaus mehr verdunkelt als Licht in die Sache bringt.
Hat der intensive Klassenkampf der 1920er und 1930er Jahre nicht auch eine große Rolle gespielt? Der Bolschewismus galt angesichts der russischen Revolution als echte Bedrohung, vor allem im Hinblick auf die Münchner Räterepublik von 1918–1919. Es gab neben den Nazis noch viele weitere Gründe für bestimmte Teile der deutschen Gesellschaft, Angst zu haben.
Das stimmt sehr genau. Die Politik der 1920er und 1930er Jahre in Europa wurde vielleicht mehr als alles andere durch den Antikommunismus definiert, durch die Angst vor einem möglichen kommunistischen Volksaufstand, die Angst vor einer gewaltsamen Transformation der Gesellschaft nach dem Vorbild des sowjetischen Modells. Nichts dergleichen wird heute in unserer politischen Kultur wirklich praktiziert. Der Aufstieg des Faschismus war eine explizit rechte Antwort auf den Aufstieg des militanten Kommunismus. Und das ist der große Unterschied zum Aufstieg des Populismus heute.
Eine weitere historische Besonderheit des Aufstiegs der Nazis war, dass das politische Leben in den 1920er und 1930er Jahren von der Erfahrung des Massenkriegs bestimmt war. Ganze Nationen und ganze Generationen erfuhren den Krieg aus unmittelbarer Nähe. Die prägende Erfahrung für fast alle Führer faschistischer Bewegungen in Deutschland und anderswo war der Kampf als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Die Anführer populistischer Bewegungen haben heute keine militärischen Konflikte miterlebt. Krieg ist für sie keine wichtige Erfahrung. Er ist eine sehr ferne Erinnerung, wenn er überhaupt in unserer heutigen politischen Kultur als Erinnerung verankert ist.
Damals gab es auch das Gefühl, dass Krieg nicht nur im Kontext des deutschen Nationalismus fast ein spirituell verjüngender Prozess war, nicht wahr?
Tatsächlich verherrlichte die faschistische Theorie den Krieg als eine transzendentale, spirituelle Erfahrung, die die Seele verwandelt. Faschisten und halbfaschistische Kunst feierten die Erfahrung des Krieges. Der Krieg war eine wichtige Trope in der faschistischen Ideologie, etwa in der Darstellung einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse und die Mittelschicht genauso zusammenarbeiteten wie im Ersten Weltkrieg. Dies ist der Rhetorik oder den Erfahrungen von z.B. Viktor Orbán oder Donald Trump sehr fremd, da von beiden keiner Kampferfahrung hat (oder im Falle von Trump noch nicht mal Militärdienst geleistet hat).
Was halten Sie von dem Argument, dass die Demokratie den autoritären Wesen des deutschen Nationalismus von außen aufgestülpt wurde? Schließlich ist die Verwandlung Deutschlands in einen modernen Nationalstaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit dem Namen Otto von Bismarck verknüpft, einem preußischen Junker und Monarchisten, der bekannterweise erklärte: „Ich bin kein Demokrat“.
Unter Historikern gibt es eine lange und sehr wichtige Debatte über die Tiefe oder Oberflächlichkeit, die die demokratische Kultur in der deutschen Politik in den 1920er und 1930er Jahren hatte. Deutschland wurde von einem konservativen Militaristen gegründet, der nationalistische und demokratische Stimmungen des 19. Jahrhunderts nutzte. Daher gingen lange Zeit viele davon aus, die Demokratie sei schwach und leicht zu stürzen. Aber in den letzten Jahrzehnten hat eine wichtige Gruppe von Wissenschaftlern diese Darstellung in Frage gestellt und argumentiert, dass Deutschland tatsächlich ein sehr lebendiges demokratisches politisches Leben mit sinnvollen Wahlen und Parlamentsdebatten hatte. Und dass die Menschen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in sehr großer Zahl für Parteien stimmten, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg ziemlich friedlich miteinander konkurrierten. Infolgedessen wurde das Parlament im Laufe der Zeit immer wichtiger. Das war einer der Gründe für die Erwartungshaltung der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. Als die deutsche Monarchie zusammenbrach, wurde die Ablösung durch eine Republik und nicht durch eine Militärdiktatur erwartet. Die deutschen Bürger waren in demokratischen Normen sozialisiert worden und hielten es für selbstverständlich, dass dies der nächste Schritt für die Politik war.
„Die Politik der 1920er und 1930er Jahre in Europa wurde vor allem durch den Antikommunismus definiert.“
In gewisser Hinsicht argumentieren Wissenschaftler dieser Schule, dass die Demokratie in Deutschland eigentlich durch die Polarisierung der 1920er Jahre entscheidend geschwächt wurde. Die Faschisten und die Nazis waren in der Lage, demokratische Sprache, Gesten und Ideen für das zu entwickeln, was wir als sehr undemokratische Ziele bezeichnen würden. So kamen zum Beispiel die Führer der Nazi-Partei alle aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Sie waren keine Militärgeneräle oder Aristokraten. Hitler selbst sprach in einem Arbeiterklasse-Tonfall. Der Reiz der Nazis beruhte sehr auf ihrem Anspruch, die wahren Demokraten zu sein, die Kraft, die dem Volk wirklich Kontrolle über die Politik geben würde. Und dies in einer Weise, die sich dramatisch von den preußischen Aristokraten und Militaristen des 19. Jahrhunderts unterschied.
Derzeit wird darüber diskutiert, wie bedeutsam die militaristischen Grundlagen des deutschen Staates im Vergleich zu seinen demokratischen Fundamenten waren. Dabei sind diese demokratische Kultur und ihre Aneignung durch die Nazis der Schlüssel zum Verständnis des Aufstiegs des Faschismus.
Aber das soll nicht heißen, dass die Nazis aufgrund der Demokratie an die Macht gekommen sind, oder?
Nein. Wie Historiker wissen, ist es den Nazis nie gelungen, bei freien und offenen Wahlen eine Mehrheit zu gewinnen. Ihr größter Stimmenanteil lag im Jahr 1932 bei etwa einem Drittel. Der Grund für ihre Machtergreifung war die aktive Unterstützung der Konservativen, Aristokraten und Militaristen, die sich auf die Seite der Nazis im Parlament stellten. Und vor allem setzten sie Massengewalt und Einschüchterung ein, vertrieben und ermordeten ihre Gegner. Dadurch kamen sie an die Macht, durch Unterstützung und Gewalt der Herrschenden, nicht durch freie und demokratische Wahlen.
Das Interessante an Ihrem gemeinsam mit Daniel Bessner veröffentlichten Essay über den Weimar-Vergleich ist, dass Sie dort eine viel aussagekräftigere Analogie zwischen damals und heute ziehen konnten: nämlich wie auf den Aufstieg des Faschismus und die heutige populistische Revolte reagiert wird.
Ja, Professor Bessner und ich haben diesen Beitrag verfasst, weil wir glauben, dass die Überstrapazierung des Faschismusvergleichs uns auf den auf den gleichen Pfad führen wird, den prodemokratische und antifaschistische Denker wie Hans Spier und Karl Loewenstein, die beide in den 1930er Jahren aus Deutschland in die USA geflohen sind, in den 1940er Jahren eingeschlagen haben. Für sie beweist der Aufstieg des Faschismus, dass man der Demokratie nicht trauen kann. Und damit die Demokratie überleben kann, muss der Staat einige Freiheiten einschränken. Diese Denkweise, diese Idee der wehrhaften Demokratie, die sich in den USA als sehr einflussreich erwiesen hat, führte zur Schaffung von sehr undemokratischen, nicht rechenschaftspflichtigen Institutionen wie der CIA und dem National Security Council in den USA. Diese ideologische Tendenz führte auch zu einer dramatischen Einschränkung der politischen Horizonte im Nachkriegseuropa. In Westdeutschland zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht 1956 die Kommunistische Partei verboten.
Und obwohl die Kommunisten in Westdeutschland keine bedeutende Kraft waren, führte die Logik der wehrhaften Demokratie – gerade das Bundesverfassungsgericht benutzte diesen Begriff bei der Ächtung der Kommunisten – dazu, bestimmte politische Visionen als unrechtmäßig aus dem politischen Diskurs zu verbannen. Das hatte in den 1940er und 1950er Jahren sehr elitäre und antidemokratische Institutionen und Normen zur Folge.
„Antifaschistische politische Theoretiker behaupteten in den 1940er und 1950er Jahren, dass man die Beteiligung der Menschen an der Politik einschränken müsse, um eine stabile Demokratie zu erreichen.“
Das bedeutet nicht, dass jeder, der sich auf die Weimar- oder Nazi-Vergleiche beruft, sofort ein Antidemokrat ist, aber Professor Bessner und ich befürchten, wir könnten irgendwann in einer ähnlichen Situation landen. Wir forschen beide über den Kalten Krieg und haben untersucht, wie politische Theoretiker in den 1940er und 1950er Jahren behaupteten, dass man den politischen Aktivismus und die Beteiligung der Menschen an der Politik begrenzen muss, um eine stabile Demokratie zu erreichen. Wir sind besorgt, dass die gleiche Logik uns heute in die gleiche Richtung führen könnte.
Unserer Ansicht nach sollte die richtige, progressive Antwort auf die gegenwärtige Situation darin bestehen, unser Engagement für die Demokratie zu verdoppeln, die Technokratie einzuschränken und die demokratische und bürgerliche Beteiligung an der Politik zu verstärken.
Dennoch scheint es, dass die vorherrschende Antwort auf den populistischen Moment, sicherlich in linken und liberalen Kreisen sowohl in den USA als auch in Europa, darin besteht, mehr Technokratie und Expertenherrschaft zu fordern.
Das gilt sicherlich für einige. Diese Entwicklung ist seit den 1990er Jahren zu beobachten. Die sogenannte Linke bewegt sich immer mehr in Richtung Technokratie und versucht, Fortschritte durch Technokratie und nicht durch eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch die Bevölkerung zu erzielen. Und ich denke, das ist das Ergebnis einer tiefen Enttäuschung von den Massen und des fehlenden Vertrauens in die Massen, dass sie die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen können. Diese Tendenz entwickelte und vertiefte sich bis hin zur Obama-Regierung, die stark von Technokratie geprägt war.
Der Grund für die auffällige Entwicklung ist, dass zu viele Linke heute das gleiche Argument vorbringen wie die Anhänger der wehrhaften Demokratie – beide behaupten, Technokratie sei das beste Mittel zur Erhaltung der Demokratie. Wenn also den Massen nicht vertraut werden soll, dann muss man so viel Macht wie möglich in die Hände von Technokraten übertragen, die wissen, was gut für die Massen ist und die richtige Entscheidung treffen. Und man muss Technokraten vor demokratischer Rechenschaftspflicht schützen, gerade um diese Forderungen zu erfüllen.
Wir haben gesehen, wie diese Logik in den letzten zwei Jahrzehnten unter zentristischen Politikern und politischen Eliten im Allgemeinen funktioniert hat. Und wir waren besorgt, dass der Aufstieg des Populismus auf der rechten Seite diese technokratische Denkweise weiter verschärfen und intensivieren wird. Wir sind der Meinung, dass die Linke ein ganz anderes Denkmodell wählen sollte. In gewisser Weise glauben wir, dass die Logik der wehrhaften Demokratie und Technokratie genau das ist, was uns dahin geführt hat, wo wir jetzt sind.
Wie schwierig wird es für die Linke sein, das, was früher ihr eigenes radikaldemokratisches Erbe war, zu akzeptieren, wenn man bedenkt, inwieweit sie sich von den Massen abgewandt und oft gegen sie gerichtet hat?
Es wird sicherlich nicht einfach werden, aber die Demokratie war noch nie einfach. Jede Generation von politischen Theoretikern und Aktivisten muss die Demokratie neu definieren und überdenken und neue Chancen und Möglichkeiten aufzeigen. Ich glaube, die Krise der letzten Jahre und der Aufstieg der radikalen Rechten in Europa und den USA ist auch eine Gelegenheit, genau das zu tun – über die Möglichkeiten der Linken neu nachzudenken. An die Vergangenheit zu denken, an das, was sie richtig und was sie falsch gemacht haben, und vielleicht neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Wir sehen es bereits in der Graswurzel-Politik in Großbritannien und den USA, und wir können nur hoffen, dass es weiterhin in diese Richtung geht.