30.06.2014

Der Kampf um Bedeutung

Essay von Frank Furedi

Mit dem Attentat von Sarajevo vor 100 Jahren nahm die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang. Indem wir den Ersten Weltkrieg heute auf ein sinnloses Gemetzel reduzieren, nehmen wir uns die Möglichkeit aus der Geschichte zu lernen.

Beim Gedenken an historische Ereignisse ist die Versuchung groß, die Geschichte rückwärts zu lesen und sie mit den Maßstäben der Gegenwart zu messen. So auch beim Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt. Aus Sicht der heutigen westlichen Kultur ist in dem globalen Konflikt von 1914 bis 1918 einfach kein Sinn mehr erkennbar. Mehr als jede andere Katastrophe der Moderne wird dieses Ereignis mit Worten wie sinnlos und unbegreiflich beschrieben. Tatsächlich scheint es oft so, dass der Erste Weltkrieg heute noch mehr Verwirrung stiftet als vor 40, 50 oder 80 Jahren.

Politische und kulturelle Institutionen wissen einfach nicht, in welcher Weise man dieses Krieges am besten gedenken soll. Viele vermeiden große Gedenkfeiern und organisieren stattdessen lieber harmlose lokale Veranstaltungen. So sagte Helen Grant, die britische Ministerin für Sport und Tourismus, es werde „zwar große nationale Gedenkfeiern geben, aber auch tausende kleinere Projekte die in lokalen Gemeinden veranstaltet werden.“ Das Bedürfnis nach öffentlichen Großveranstaltungen hält sich in Grenzen. Unsere Eliten scheinen sehr darauf bedacht, jede Form von Gedenken zu vermeiden, die patriotisch, nationalistisch oder triumphierend wirken könnte. Die Diskussion über den Ersten Weltkrieg ist zögerlich bis verlegen. Die Sprache möglichst neutral und wertfrei. Sie strotzt von Begriffen wie „erinnern“ und „reflektieren“. An was genau man sich erinnern sollte wird dabei jedoch bewusst im Unklaren gelassen.

„Die Diskussion über den Ersten Weltkrieg ist zögerlich bis verlegen. An was genau man sich erinnern sollte wird bewusst im Unklaren gelassen.“

Für manche ist sogar schon das bloße Andenken zu provokativ. Sie behaupten, der simple Akt des Gedenkens an einen Krieg ist militaristisch und stelle eine Rehabilitation des Kriegsethos dar. So hat eine Gruppe britischer Prominenter die so genannte „No Glory Campaign“ ins Leben gerufen. Vertreten von den Schauspielern Jude Law und Alan Rickman sowie Popstar Brian Eno plant „No Glory“ ein Konzert im Londoner Kulturzentrum Barbican. Eno sagt, der Erste Weltkrieg war „ein totales Desaster, das völlig unnötig war und eine ganze Generation zerstört hat“. Wer würde einer solch banalen Aussage über die Vergangenheit wiedersprechen? Wer würde aufstehen und sagen „eigentlich war der Erste Weltkrieg fantastisch“? Vielleicht sollte sich „No Glory“ neu definieren, als Kampagne zur Darstellung des Offensichtlichen.

Aber natürlich gibt es keinerlei Glorifizierung, gegen die man sich ereifern könnte. Bei diesem hundertsten Jahrestag werden keine Flaggen gehisst und die Regierungen vermeiden alle denkbaren positiven und inspirierenden Aussagen über den militärgeschichtlichen Aspekt des Ersten Weltkriegs. Es gilt als legitim den „heldenhaften“ Einsatz der arbeitenden Männer und Frauen oder der Tiere, die Soldaten zum Schlachtfeld transportierten, zu loben; es gilt aber als unangebracht etwas Positives über die Politiker oder die militärischen Führungen zu sagen, die am Konflikt beteiligt waren. Das diesjährige Gedenken zelebriert nicht die Perspektive des Nationalhistorikers sondern diejenige des Kriegsgegners. Als der UK Heritage Lottery Fonds £95.800 an die Peace Pledge Union vergab um die 16.000 Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen zu ehren, war das ein klares Signal dafür, worum es bei der Gedenkfeier gehen wird. Die No Glory Kampagne rennt offene Türen ein.

Die Zeiten haben sich geändert. In früheren Epochen gedachte man der Kriege als bedeutender Kapitel in der Geschichte der Nationen. Heute geraten Gedenkfeiern eher zu unsicheren Versuchen, sich moralisch von der dunklen Vergangenheit des aggressiven Militarismus zu distanzieren. Das Bestreben der heutigen Gesellschaft, die dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen, ist die Grundlage für die Perspektive der No Glory Kampagne. „Wir befürchten, der Krieg könne als glorreicher Teil unseres nationalen Erbes präsentiert werden, obwohl er das in Wirklichkeit nicht ist“, sagt Eno. Aber er ist Teil des nationalen Erbes. Kein Aktivist kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Der erste Weltkrieg war zwar nicht gerade der lichteste Moment Großbritanniens, aber er ist wohl oder übel Teil der nationalen Vergangenheit.

Ein Krieg auf der Suche nach Bedeutung

In einer Zeit wo ohnehin sämtliche Kommentatoren das katastrophale Abschlachten während des Ersten Weltkrieges mit dem Hinweis darauf beschwören, „eine ganze Generation“ sei „verloren“, ist es unangebracht die einstudierten Phrasen über den unvorstellbaren Wahnsinn einfach nur ein weiteres Mal zu wiederholen. Denn diese Vorstellung der prinzipiellen Unverständlichkeit sagt letztlich mehr über die Kultur des 21. Jahrhunderts und ihren Umgang mit der Vergangenheit aus, als über den ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg ist heute lediglich Anlass der erneuten Bestätigung der durch Zynismus, Gleichgültigkeit und Misstrauen geprägten Grundeinstellung unserer Zeit, und damit ist er für uns kaum noch mehr als ein Lehrstück über unsere gegenwärtige Lage.

„Der Erste Weltkrieg ist heute lediglich Anlass der erneuten Bestätigung der durch Zynismus, Gleichgültigkeit und Misstrauen geprägten Grundeinstellung unserer Zeit.“

Die Erzählung von der Unverständlichkeit des Krieges ist jedoch in weiten Teilen falsch. In Wahrheit begrüßten Millionen den Krieg in den Monaten vor seinem Ausbruch in 1914, denn sie sahen darin eine Sache von wahrhaft großer Bedeutung. Getragen von Opferbereitschaft im Angesicht der Gefahr meldeten sich zahllose junge Menschen freiwillig, denn 1914 hielten sie es für Wert im Dienst der Sache zu kämpfen und sogar dafür zu sterben. Natürlich wurde auf die Menschen auch starker Druck ausgeübt, damit sie sich im Krieg engagieren, ein Druck der manchmal an Zwang grenzte – aber zumindest in der frühen Phase des Kriegs hatte der Konflikt die Zustimmung einer breiten Öffentlichkeit.

Für viele Menschen der Arbeiterklasse, die dem Ruf zu den Waffen folgten, schien der Krieg eine Auszeit von der Routine und der Härte des normalen Lebens zu bieten. Das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts war zwar von materiellem Wohlstand geprägt, aber die westlichen Gesellschaften hatten Schwierigkeiten dem Leben einen Sinn zu geben. Während des so genannten goldenen Zeitalters der Sicherheit waren viele junge Menschen und Intellektuelle desillusioniert und litten unter der Leere ihrer Existenz. In dieser Zeit moralischer Verwirrung fanden viele orientierungslose Menschen in der vorherrschenden kriegstreiberischen Stimmung das Versprechen, es gebe im Leben mehr als nur den grauen Alltag.

Der weltbekannte österreichische Autor und Pazifist Stefan Zweig (1881-1942) beschreibt etwas verlegen die Aufregung und den Jubel der Menschen angesichts des im Sommer 1914 bevorstehenden Konflikts. „In diesem ersten Aufbruch der Massen lag etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches, dem man sich schwer entziehen konnte“, beobachtete er. Ein solcher Enthusiasmus angesichts der Aussicht bald in den Krieg zu ziehen, ist aus heutiger Sicht undenkbar. Die Reaktion der Öffentlichkeit, die in ihm etwas „Großartiges“ und „Hinreißendes“ sah, wird von den heutigen Kommentatoren als irrational abgelehnt und darauf zurückgeführt, dass die Menschen damals von den Medien manipuliert und somit einer Gehirnwäsche unterzogen gewesen seien.

Wenn also das gemeine Volk von unterschwelliger Propaganda manipuliert wurde, geschah dies auch mit Europas Künstlern und Intellektuellen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Eines der erstaunlichsten Phänomene auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg war die positive Haltung, mit der die Künstler und Intellektuellen den Konflikt begrüßten. Der Anlass beflügelte die Vorstellungen auch dieser Schicht der Gesellschaft, und zwar auf allen am Konflikt beteiligten Seiten. Zum Beispiel zog Max Weber, seinerseits ein „Vater“ der Soziologie, zu Hause seine deutsche Uniform an wenn er Gäste zum Abendessen empfing. Ein weiterer „Vater“ der Soziologie, Émile Durkheim, beteiligte sich aktiv an der französischen Kriegspropaganda. Der aufklärerisch gesonnene Autor Thomas Mann verkörperte den Typus des Intellektuellen, für den der Krieg ein sinnvolles, zielgerichtetes Leben in der Gemeinschaft bedeutete.

„Max Weber, seinerseits ein ‚Vater‘ der Soziologie, zog zu Hause seine deutsche Uniform an wenn er Gäste zum Abendessen begrüßte.“

Heute wird der Erste Weltkrieg den jungen Leuten meist in dem bitteren und depressiven Ton nahe gebracht, den die kriegsmüden Dichter Wilfred Owen und Siegfried Sassoon pflegten. Dabei wird leicht übersehen, dass vor der Verzweiflung in der späteren Phase eine enthusiastische Hoffnung herrschte. Die patriotische Lyrik von Rupert Brookes oder Jesse Pope fingen die Stimmung der Zeit ebenso ein, wie die Werke anderer Autoren, die gegen den Krieg waren. Der Dichter Edward Thomas brachte die von Künstlern und Intellektuellen bei Ausbruch des Krieges erlebte Ambivalenz eloquent zum Ausdruck. Sein um Weihnachten 1915 verfasstes kraftvolles Gedicht „This is no Case of Petty Right or Wrong“ offenbart seine innere Zerrissenheit zwischen der Unterstützung für die Kriegsmaßnahmen Großbritanniens und seiner Abneigung gegen den radikalen Nationalismus der Presse.

„I hate not Germans, nor grow hot
With love of Englishmen, to please newspapers.“

Obwohl er sich von der plumpen, chauvinistischen Propaganda distanzierte, die die politischen Kreise in 1915 dominierte, so sah er für sich dennoch keine andere Wahl als für England einzustehen. Sein Gefühl für Großbritannien, das ihm nicht nur als Land sondern auch als moralische Größe galt, koexistiert in seinen Werken mit einem unerbittlichen Hass auf den Feind. Sein Gedicht aus 1915 endet mit den Worten:

„But with the best and meanest Englishmen
I am one in crying, God save England, lest
We lose what never slaves and cattle blessed.
The ages made her that made us from dust:
She is all we know and live by, and we trust
She is good and must endure, loving her so:
And as we love ourselves we hate her foe.“


Mitunter heißt es, Thomas Entscheidung in die Armee einzutreten, sei eine Antwort an seinen guten amerikanischen Freund Robert Frost gewesen, der seine Unentschlossenheit kritisiert hatte. Einige Literaturkritiker meinen, Thomas hätte geglaubt, Frosts berühmtes Gedicht „The Road Not Taken“ sei allein zur Verhöhnung seiner Unentschlossenheit geschrieben worden. Vielleicht war es so. Andere führen sein Verhalten während des Krieges auf seine innere Zerrissenheit und seine emotionalen Konflikte zurück. Aber wenn man sich zu sehr auf die Psychologie konzentriert übersieht man leicht, dass Thomas sich in einer Sprache artikulierte, die die Empfindungen der Künstler dieser Zeit zum Ausdruck brachte. Sein Gedicht drückt eine Art zärtlicher Zuneigung für England aus, die heute als merkwürdig und realitätsfern empfunden würde. Thomas unterstrich seine Liebe zur eigenen Nation mit den Worten: „She is good and must endure“. Diese Liebeserklärung ermöglicht es ihm, sich mit der Tatsache abzufinden, dass er den Feind hassen muss. Seine Worte „and as we love ourselves we hate her foe“ zeigen die Leichtigkeit mit der eine ganze Generation von Künstlern und Intellektuellen sich emotional auf das Schlachtfeld Europas begab. Dieses Verhalten mit dem die „Liebe“ in ihr genaues Gegenteil verkehrt wurde ist einer der bemerkenswertesten Züge des Ersten Weltkriegs.

„Viele Intellektuelle genossen das neue Pflichtgefühl von dem sie hofften, es werde sie auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise führen.“

Zumindest am Anfang wurde der Erste Weltkrieg auch durch die kreativen und künstlerischen Ressourcen der westlichen Gesellschaft erfolgreich mitgetragen. Viele Intellektuelle genossen das neue Pflichtgefühl von dem sie hofften, es werde sie auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise führen. Die Suche nach Bedeutung war wichtig, und tatsächlich glaubten viele, die Erfahrungen in diesem gewaltsamen Konflikt würde ihnen klar zu Bewusstsein bringen, aus welchem Holz sie geschnitzt sind. Das Gedicht „Two Julys“ von Charles John Beech Masefield ist ein Zeugnis dieser Empfindungen:

I was so vague in 1914; tossed
Upon too many purposes, and worthless;
Moody; to this world or the other lost,
Essential nowhere; without calm and mirthless.
And now I have gained for many ends,
See my straight road stretch out so white, so slender,
That happy road, the road of all my friends,
Made glad with peace, and holy with surrender.



Proud, proud we fling to the winds of Time our token,
And in our need there wells in us the power,
Given England’s swords to keep her honour clean.
Which they shall be which pierce, and which be broken,
We know not, but we know that every hour
We must shine brighter, take an edge more keen.“


Masefield war bei weitem nicht der einzige Intellektuelle, der die eigene Sprachlosigkeit eintauschte gegen die Teilhabe am Optimismus der Gemeinschaft auf dem ihnen allen gemeinsamen Weg, gleich einem ausgelassenen Spaziergang mit Freunden. Es schien so als wären alle an der Front. Masefield und andere heute bekanntere Kriegsdichter, wie Owen und Sasson, kämpften miteinander gegen andere Künstler und Intellektuelle. Das weist darauf hin, dass es im Ersten Weltkrieg nicht bloß um geopolitische Rivalitäten ging. Es war auch ein Krieg der Ideen und bis zu einem gewissen Grad ein kultureller Krieg.

Krieg der Kulturen

Der Historiker A.J.P. Taylor verweist auf die große Bedeutung der Mobilisierung der „intellektuellen Kräfte“ für den Erfolg der Propaganda in diesem Krieg, der auch ein Krieg der Ideale war. Er zeigt, dass Thomas Mann „die Überlegenheit der deutschen Kultur“ demonstrierte, während H.G. Wells meinte dies sei „ein Krieg, der alle Kriege beenden soll“. Unterdessen „bewiesen die Historiker mit Genugtuung die Kriegsschuld des Feindes und die Unschuld des eigenen Landes“ und die Dichter verfassten Hasstiraden.

Bei diesem Trend gab es sehr wenige ehrenwerte Ausnahmen. „Für diejenigen von uns die den Krieg weiterhin ablehnten war es eine bittere Erfahrung, wie einstimmig die amerikanischen Intellektuellen angesichts der Krise des eigenen Landes die Kriegstreiberei unterstützen“, schrieb der radikale Essayist Randolph Bourne. In seinem Essay von 1915, „Der Krieg und die Intellektuellen“, verurteilt er die amerikanischen Intellektuellen für ihre freiwillige Mithilfe bei der Kriegspropaganda. Beunruhigt war er vor allem darüber, dass die Intellektuellen sich gar an die Spitze der Fürsprecher des Krieges gestellt hatten. „Sie behaupten selbstgefällig, dass sie sich schon entschieden für den Krieg ausgesprochen haben, als die unterbelichteten demokratischen Massen Amerikas noch zögerten“, schreibt Bourne und kommt zu dem Schluss, es handele sich um einen „Krieg der vorsätzlich von Intellektuellen herbeigeführt wurde“.

Aber viele Künstler und Intellektuelle, die den Krieg so enthusiastisch begrüßt hatten, merkten schnell, dass er die Probleme die er eigentlich hätte lösen sollen nur schlimmer machte. In Tod und Zerstörung verbargen sich weder tiefere Erkenntnis noch höherer Sinn. Der Enthusiasmus schlug bald in Verbitterung und Demoralisierung um. Gerade weil der Krieg so sehr mit Hoffnungen und Emotionen aufgeladen war, gestaltete sich die nachträgliche Reaktion auf den Ersten Weltkrieg so dermaßen moralistisch. In dieser Situation schlug die Enttäuschung vom Krieg in Verbindung mit der fortbestehenden Bedeutungslosigkeit des Alltags oft in eine irrationale Ablehnung von allem um, was mit der Vergangenheit zu tun hat.

„In Tod und Zerstörung verbargen sich weder tiefere Erkenntnis noch höherer Sinn. Der Enthusiasmus schlug bald in Verbitterung und Demoralisierung um.“

Vom heutigen Standpunkt aus gesehen, erscheint der von Intellektuellen und Künstlern betriebene Kulturkrieg als ein Moment des Wahnsinns – einer den man glücklicherweise als „dunkle Vergangenheit“ abschreiben kann. Die Künstler und Intellektuellen des 21. Jahrhunderts brüsten sich damit, dass sie solche patriotischen Aufrufe und ausländerfeindliche, nationalistische Propaganda ablehnen. Abgesehen von muslimischen Universitätsabsolventen, die sich dem Jihad anschließen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Studenten, Intellektuellen und Künstler unserer Tage freiwillig melden würden um ihr Land zu verteidigen. Sie argumentieren zwar noch gegen angeblich moralisch unterlegene Staaten – wie Serbien, Libyen oder Syrien – aber das Kämpfen überlassen sie doch lieber anderen.

Die Kulturkriege unserer Tage werden kaum noch von Nationalismus oder Militarismus befeuert. Stattdessen werden kulturelle Konflikte durch das Gerede über „andere Lebensweisen“ und die Forderung nach mehr „Humanismus“ gerechtfertigt. Diese scheinbar ethischen Gründe dafür, in fernen Ländern das „Böse“ zu bekämpfen, mögen zwar auf den ersten Blick von den patriotischen Begründungen des ersten Weltkriegs unterscheiden, aber die Konsequenzen sind dennoch oft gleichermaßen zerstörerisch und tödlich. Auch heute gibt es Intellektuelle, die ihren Vorgängern aus dem Jahr 1914 in ihrer Suche nach moralischer Klarheit in nichts nachstehen. Ein Beispiel ist die Begeisterung mit der die heutigen Intellektuellen in den 1990er-Jahren eine militärische Intervention gegen die Serben befürwortet haben. „Ich war nie in Sarajevo“, schrieb Salman Rushdie 1994. „Aber ich habe das Gefühl, als würde ich dort auf eine gewisse Weise hingehören“. Viele andere westliche Intellektuelle in den 1990er-Jahren fokussierten sich bei ihrer Sinnsuche auf den Zusammenbruch des Balkans. Andere haben sich woanders umgeschaut. Bernard-Henri Lévy, der französische Philosoph, hatte 2011 einen maßgeblichen Einfluss bei der Entscheidung des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Libyen zu intervenieren.

Das Fehlen eines ernsthaften Hinterfragens der Konsequenzen der humanitären Interventionen des Westens fällt mit der starken Abgrenzung vom Erbe des Ersten Weltkriegs zusammen. Im Zuge der heutigen Kriege werden keine Fahnen geschwungen und die Aufopferung auf dem Schlachtfeld wird nicht glorifiziert. Wenn die Kriegstrommeln heute schlagen – wie kürzlich in Syrien – dann wird der Bezug auf militärische oder nationalistische Beweggründe unsicher vermieden. Heute geben sich die Armeen des Westens den Anschein eines Heeres humanitärer Sozialarbeiter, denen es nur darum geht Kinder, Frauen und andere „wehrlose Menschen“ zu beschützen. Aber in einer Welt, in der sich der durch Risikoaversion bedingte Widerwille, die Sache wirklich ernst zu nehmen, in Begriffen artikuliert wie etwa „Mission Creep“ – zu deutsch etwa „schleichende Einsatzausweitung“ –, verstummt der Trommelschlag genauso schnell wie er gekommen ist – und lässt die Menschen in Syrien, Libyen, Afghanistan und anderswo in einem Trümmerfeld zurück.

Wenn die Kommentatoren heute also den Ersten Weltkrieg unermüdlich als unbegreifliches Massaker darstellen, so sollte mach sich darüber im Klaren sein, dass diese Darstellungen weit mehr über unsere heutigen Moralvorstellungen und die Schwäche unserer heutigen Politik aussagen als über die tatsächlichen Ereignisse vor einem Jahrhundert. Wenn die Ansichten und Empfindungen, die entscheidend zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen haben, rundweg abgelehnt und verleugnet werden, dann führt das keineswegs zu einer aufgeklärteren Welt; vielmehr wird so lediglich die heutige Generation der Möglichkeit beraubt, die Gefahren der Politisierung von Kultur zu erkennen, wie sie vor einem Jahrhundert wirksam war und es auch heute noch ist.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 - I/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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