01.08.2022

Der Angriff auf die Person

Von Thilo Spahl

Titelbild

Foto: Santeri Viinamäki via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Eine „Ad-hominem-Kultur“ setzt in Debatten auf Diffamierung und den Ausschluss von Andersdenkenden. Wer sind die Treiber und wie ernst ist die Situation in Deutschland?

Was ist ein geeigneter Begriff, wenn man sich nicht mit dem Anglizismus begnügen will, um das zunächst in den USA beobachtete und beschriebene Phänomen der Cancel Culture zu bezeichnen? Löschkultur? Kultur des Ausstoßens? Abkanzelkultur? Abschusskultur? Zensurkultur? Es erscheint schwer, eine überzeugende Bezeichnung zu finden. Ich benutzte in diesem Text den Begriff „Ad-hominem-Kultur“, um auf einen bestimmten Aspekt des Phänomens abzuheben, der meiner Meinung nach den Kern ausmacht. Denn letztlich geht es darum, wie wir miteinander streiten. Als Argumentum ad hominem wird ein Argument bezeichnet, mit dem eine Aussage abgelehnt wird, indem man versucht, den Sprecher zu diskreditieren.

Streit ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie. Nur im offenen Wettstreit der Ideen kann sich jeder Einzelne eine Meinung bilden und entsprechend politisch handeln. In einer Demokratie haben wir also die Aufgabe, den Wettstreit der Ideen nicht nur zu dulden, sondern zu kultivieren. Dazu gehört, dass wir in der Sache hart argumentieren, dass wir uns dafür einsetzen, was unserer Meinung nach richtig oder falsch, sinnvoll oder sinnlos, angemessen oder unangemessen, nützlich oder schädlich ist, und dass wir die jeweilige Einschätzung sachlich begründen. Es gehört auch dazu, dass wir alles, was die Gegenseite zu sagen hat, zunächst einmal anzuhören bereit sind. Die Ad-hominem-Kultur lehnt diese Sachorientierung ab, sie setzt darauf, den Sprecher zu diffamieren und wenn möglich aus dem Diskurs auszuschließen. Das zur Legitimierung der Angriffe auf die Person herangezogene Merkmal der Menschen, gegen die sich die Ad-hominem-Kultur richtet, ist ihre falsche Gesinnung. Und falsch heißt hier immer: gefährlich oder schädlich für andere.

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat den Wert des zivilisierten Streits in Bezug auf das Thema „Immigration“ zutreffend beschrieben: „Es gilt Gräben zu vermeiden, die unweigerlich entstehen, wenn man andere beschimpft oder in eine Ecke stellt. Wer den Zuzug von Asylbewerbern begrenzen möchte, ist deshalb noch kein Nazi. Und wer weiterhin Flüchtlinge aufnehmen will, kein Volksverräter. Wer solches will, ist nicht zwangsläufig böse, ist nicht zwangsläufig dumm oder naiv. Sondern vielleicht einfach nur anderer Meinung.“ 1

In diesem Text will ich den Ad-hominem-Gedanken weiter ausführen und mit einigen Beispielen illustrieren, um so ein einigermaßen facettenreiches Bild der zu beklagenden Kultur zu zeichnen. Die meisten davon sind der Website www.cancelculture.de entnommen, auf der die Cancel Culture in Deutschland seit Anfang 2020 exemplarisch und chronologisch dokumentiert wird.

„Die Ad-hominem-Kultur setzt darauf, den Sprecher zu diffamieren und wenn möglich aus dem Diskurs auszuschließen.“

In der Rhetorik werden unterschiedliche Typen der Ad-hominem-Argumente unterschieden. Unterstellt werden wahlweise mangelnde Wahrhaftigkeit, mangelnde Vernunft oder Vorsicht, mangelnde Einsicht/Unwissenheit, mangelnde kognitive Fähigkeiten und mangelnde moralische Grundsätze. 2 Bei der Cancel Culture geht es in den meisten Fällen um mangelnde moralische Grundsätze, vulgo die falsche Gesinnung.

Aber woran erkennt man die falsche Gesinnung? Daran, dass sie sich nicht durch besondere Rücksichtnahme auf vermeintliche Schutzbedürfnisse sogenannter vulnerabler Gruppen auszeichnet. Es geht eigentlich immer um eine Gefährdung und den Schutz verletzlicher Personen. Das erscheint zunächst als lobenswertes Anliegen. Es gibt aber zwei Probleme. Erstens gilt jede Kleinigkeit als schlimme Verletzung. Und zweitens reichen schon hypothetische Verletzte aus.

Kult der Verletzlichkeit

Du bist Rassist, Sexist, Antisemit, islamophob, xenophob, homophob, transphob usw. So lauten die impliziten oder expliziten Anwürfe der Ad-hominem-Kultur. Der Beschuldigte soll verstummen, weil er durch seine Äußerungen anderen Schaden zufügt. Aber tut er das wirklich? Sind die Menschen wirklich so empfindlich, dass Witze, nicht mehr gebräuchliche Wörter, Vorurteile oder klischeehafte Darstellungen sie tatsächlich, wenn nicht körperlich, so doch psychisch verletzen? Einige wenige, ja: Einige sind den Weg der Prinzessin auf der Erbse gegangen und haben tatsächlich eine Überempfindlichkeit entwickelt. Aber es sind nur sehr wenige. Zum größten Teil wird den Betroffenen, die immer Angehörige einer Reihe von Minderheiten sein müssen, diese übersteigerte Verletzlichkeit nur von anderen angedichtet. Ob ihnen das recht ist oder nicht.

Ein Beispiel: Im März 2021 kommentiert der Sport-Reporter Jörg Dahlmann eine vergebene Gelegenheit des japanischen Rechtsverteidigers von Hannover 96, Sei Muroya, mit den Worten: „Es wäre sein erster Treffer für 96 gewesen. Den letzten hat er im Land der Sushis geschossen.“ Er verliert daraufhin seinen Job. 3 Dass ein einziger Japaner durch diese Bemerkung „verletzt“ wurde, kann ausgeschlossen werden, behaupte ich. Und ob sich einer verletzt FÜHLTE, darf bezweifelt werden.

Ein weiteres Beispiel: Das frühere Eiscafé Eiskimo in Berlin Lichterfelde heißt jetzt „Peter und der Wulf“. Geschäftsführer Peter Lichtel berichtet, warum: „Es gab vermehrt Hinweise darauf, dass der Begriff ‚Eskimo‘ als Schimpfwort verstanden wird. Firmen und Einzelpersonen aus einer Partei haben uns deshalb nicht mehr fürs Eis-Catering bestellt.“ 4 Wurden hier tatsächlich indigene Volksgruppen, die im Bereich der Arktis leben, verletzt? Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass der Sportreporter und der Eiscafébetreiber Rassisten sind, und dennoch wurde es ihnen unterstellt und sie wurden bestraft.

Tabuisierung

Das vorgebliche Ziel der Cancel Culture ist immer der Schutz irgendwelcher Opfer vor irgendwelchen Gesinnungstätern. Es geht aber auch ganz ohne Opfer. Und ggf. auch ohne Täter. Und natürlich auch ohne böse Absicht. So darf man beispielsweise Hitler nicht zitieren. Und auch nicht parodieren.

„Das zur Legitimierung der Angriffe auf die Person herangezogene Merkmal der Menschen, gegen die sich die Ad-hominem-Kultur richtet, ist ihre falsche Gesinnung. Und falsch heißt hier immer: gefährlich oder schädlich für andere.“

Die Cambridge Union, der Debattierclub der Cambridge University und der älteste studentische Debattierclub der Welt, erstellt seit Kurzem eine Liste von Gastrednern, die nie wieder eingeladen werden sollen. Einer der ersten auf der Liste ist der Kunsthistoriker Andrew Graham-Dixon. Sein Vergehen? Die beliebte Fernsehpersönlichkeit hatte vor der Cambridge Union über das Thema „guter Geschmack“ referiert. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, parodierte er Hitler. Mit deutsch-österreichischem Akzent rief er wild gestikulierend auf Englisch: „Die moderne, schreckliche Kunst wurde von den Juden gefördert. Sie war kubistisch, sie war inspiriert von der Kunst der Neger. Diese Stammeskunst, igitt – wie furchtbar ist das? Wir müssen das aus unserem Deutschland verbannen … Unser Geschmack muss rein sein.“ 5

Ein Youtube-Nutzer veröffentlicht im November 2020 vier Ausschnitte einer Lesung des 1986 verstorbenen Kabarettisten Helmut Qualtinger aus Hitlers „Mein Kampf“. Youtube sperrt daraufhin zunächst die Videos, dann den ganzen Kanal. Laut Google ist die Sperrung zwingend, da die Lesung volksverhetzende Äußerungen enthalte. Qualtingers Ziel war es aber, wie das ZDF, das die Sendung vor über 30 Jahren produziert hatte, auf Anfrage ausführt, „die Primitivität und Bösartigkeit des Hitler-Buches zu enthüllen“. Ihm ging es, so der Sender, „um das genaue Gegenteil einer Volksverhetzung“. Ähnlich sieht das auch der Suhrkamp Verlag, der die Aufnahme 2016 neu veröffentlichte: „Indem Qualtinger zwischen Sachlichkeit und schriller Hysterie changiert, entlarvt er den menschenverachtenden Größenwahn des Diktators“, heißt es auf der Internet-Seite des Verlags. 6

Der E-Commerce-Gigant Amazon muss das neue Logo seiner mobilen App, das sein Markenzeichen, ein Lächeln mit einem gezackten blauen Band auf einem braunen, abgerundeten Rechteck, zeigte, in ein Lächeln mit einem blauen, in der Ecke gefalteten Band auf einem braunen, abgerundeten Rechteck umwandeln, weil es nach Meinung der Internetnutzer an das Gesicht Hitlers erinnerte. 7

RTL feuert die Dragqueen Nina Queer aus der „Dschungelshow“. Grund ist eine etwas exzentrische Selbstbezeichnung. „Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen und unserer Haltung, jegliche Form von Antisemitismus, Rassismus sowie Diskriminierung klar zu verurteilen, können und wollen wir jemanden, der sich selbst ‚Hitler-Transe‘ nennt, keine Plattform in einer Unterhaltungssendung bieten. […] Hier gibt es keine Grauzone. Wir erkennen Nina Queer als Künstlerin an, aber wer öffentlich solche Begrifflichkeiten wählt, ob als bloße Provokation gedacht oder nicht, dem wollen wir konsequenterweise keine Bühne bieten“, erklärt RTL-Geschäftsführer Jörg Graf. 8

„Das vorgebliche Ziel der Cancel Culture ist immer der Schutz irgendwelcher Opfer vor irgendwelchen Gesinnungstätern.“

Wer wird hier wovor geschützt? Und wie angemessen sind diese Reaktionen? Wie man auf solches Gebaren am besten reagiert (wenn man es sich leisten kann), zeigt der Comedy-Veteran John Cleese. Er schrieb nach Bekanntwerden der Liste der Cambridge Union am 10. November 2021 auf Twitter: „Ich hatte mich darauf gefreut, am Freitag in der Cambridge Union mit Studenten zu sprechen, aber ich habe gehört, dass jemand dort auf die schwarze Liste gesetzt wurde, weil er Hitler nachgeahmt hat. Ich bedauere, dass ich dasselbe in einer Monty-Python-Show getan habe, also setze ich mich selbst auf die schwarze Liste, bevor es jemand anderes tut.“ 9

Opfer und Täter

In der Ad-hominem-Kultur muss dem „Täter“ nicht bewusst sein, dass er etwas Böses gesagt hat, und er muss es auch nicht in böser Absicht getan haben. Das Opfer genießt das Privileg, selbst definieren zu dürfen, was es als moralisch verwerflichen Angriff empfindet. So wird ein Herrschaftsanspruch formuliert und oft erfolgreich eingelöst, indem man sich als Opfer präsentiert oder als Opferanwalt geriert. Der Opferstatus ist zu einer Quelle von Anerkennung, Autorität und Macht und damit fatalerweise attraktiv geworden. Ob man diesen Status beanspruchen kann, hat nichts mit dem individuellen Schicksal zu tun, sondern immer mit der Gruppe, der man zugeordnet wird.

Da das eigentliche Delikt nicht die vermeintlich verletzende Äußerung ist, sondern die unterstellte Gesinnung, ist Nachsicht wegen Geringfügigkeit nicht vorgesehen. Wenn ich jemandem mit dunkler Hautfarbe frage, woher er komme, dann offenbare ich mich als Rassist. Der Begriff der Mikroaggression macht klar, dass kleinste Belanglosigkeiten im Zweifelsfall genügen, um Rassismus, Sexismus etc. zu unterstellen. Die Doktrin ist, dass Menschen tatsächlich Schaden nehmen. Wer zu sagen wagt, sie sollten nicht so empfindlich sein, ist ein Verharmloser und damit zumindest Steigbügelhalter der Gesinnungstäter.

In gewisser Hinsicht schafft sich die Cancel Culture aber auch eine reale Basis in Form von gesteigerter Verletzlichkeit von Menschen, die durch andere in ihrem Umfeld so sehr auf ihre Opferrolle festgelegt oder in ihr bestätigt werden, dass sie beginnen, sie zu leben. Inzwischen gibt es offenbar tatsächlich eine gewisse Anzahl von vorwiegend jungen Menschen, die es wahrhaftig nicht ertragen, im selben Raum mit Personen zu sein, denen sie eine falsche Gesinnung unterstellen. Diese Menschen täuschen Betroffenheit nicht vor, um andere zu terrorisieren, sie fühlen sich tatsächlich verletzt, wenn jemand zum Beispiel behauptet, es gäbe biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, oder wenn jemand das Wort „Indianer“ verwendet. Diese außergewöhnliche Verletzlichkeit ist ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen. Man sollte versuchen, den Betroffenen zu helfen. Aber wir sollten ihre Hypervulnerabilität nicht zum Maßstab für unser Verhalten machen. Und wir sollten versuchen, die Jugend darauf vorzubereiten, in ihrem Leben mit Meinungsverschiedenheiten, Risiken, Widrigkeiten, Animositäten und auch Verletzung umzugehen.

„Der Opferstatus ist zu einer Quelle von Anerkennung, Autorität und Macht und damit fatalerweise attraktiv geworden.“

Diffamierung und Ausschluss

Die Ad-hominem-Kultur zielt darauf, Andersdenkende wenn möglich auszuschließen. So sollen auch die von ihnen vertretenden Meinungen und vorgebrachten Argumente verschwinden. Man beschränkt die Debatte, indem man den Bereich des Sagbaren verkleinert. Wer etwas Falsches sagt, wird aus der Gemeinschaft des legitimen Diskurses ausgeschlossen. Oft beginnt es mit einem Schuss vor den Bug. Es wird eine Entschuldigung und das Gelöbnis der Besserung gefordert. Wenn beispielsweise die Kandidatin der Grünen für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in Berlin auf dem Parteitag erzählt, sie wäre als Kind gern „Indianerhäuptling“ geworden, dann bekommt sie noch eine Chance. Sie kann sich von ihren „unreflektierten Kindheitserinnerungen“ distanzieren, in der Videoaufzeichnung wird die entsprechende Passage gelöscht und erläutert, dass an dieser Stelle ein Begriff benutzt wurde, „der herabwürdigend gegenüber Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen ist“, und dann ist wieder alles gut.

Wer aber der Meinung ist, er könne auf ein Bußritual verzichten, und das Fortbleiben in Gestalt des Schweigens oder der Selbstzensur verweigert, der wird markiert. Ihm werden Etikette angeheftet und immer wieder erneuert. Das Allzwecketikett ist dabei „rechts“. Denn die meisten Hüter des legitimen Diskurses sehen sich selbst als „links“. Ein prominentes Beispiel hierfür aus den Reihen der Grünen ist Boris Palmer, der in der eigenen Partei ein Verwarnungsabonnement hat, das inzwischen schon bis zum Ausschlussverfahren führte. Die Etikettierung ist mitunter ein Ausschluss auf Raten. Das Erfolgsrezept von Denunziation und Diffamierung ist, dass selbst bei wackerer Gegenwehr immer etwas Dreck hängen bleibt.

Die Meinungsäußerung wird nicht als solche nach ihrem Inhalt bewertet und ggf. kritisiert. Sie wird vielmehr als Beleg für die falsche Gesinnung und damit moralische Verdorbenheit und Gefährlichkeit genommen. Der Beweis ist häufig ein Diskursschnipsel, ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat. Oft ist dieses einem Post in den sozialen Medien entnommen und wird auch über dieselben Kanäle weiterverbreitet, womit ein sehr niedrigschwelliges Angebot besteht, sich durch Likes, zustimmende Kommentare und Teilen an dem Angriff auf die Person zu beteiligen.

Dabei geht es auch immer darum, die Person einzuschüchtern und an ihr ein Exempel zu statuieren, um andere abzuschrecken. Wer etwas Falsches sagt oder mutmaßlich denkt, der bekommt Ärger. Und zwar in der Regel eher nicht mit Personen, mit denen er zu tun hat, sondern von Fremden, die ihn herauspicken, um selbst in Erscheinung zu treten. Das Ziel ist nicht, jemanden durch bessere Argumente zu überzeugen oder auch öffentlich in Verlegenheit zu bringen. Ziel ist typischerweise die Denunziation bei einem Arbeit- oder Auftraggeber o.ä. Das Mindeste ist die Aufforderung, sich für die angekreidete moralische Verfehlung öffentlich zu entschuldigen, also Buße zu tun und Unterwürfigkeit zu demonstrieren.

„Die Meinungsäußerung wird nicht als solche nach ihrem Inhalt bewertet und ggf. kritisiert. Sie wird vielmehr als Beleg für die falsche Gesinnung und damit moralische Verdorbenheit und Gefährlichkeit genommen.“ 

Der Ausschluss kann bis zum physischen Vertreiben gehen. Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future ruft am 27. November 2021 zu einer Demo in Berlin auf mit dem Slogan „Solidarisch durch die Krise. Verschwörungstheorien raus aus dem Kiez“. Da man Theorien nicht verjagen kann, sind offenbar Menschen gemeint, die Zweifel an der Covid-Impfung haben. Man fragt sich zweierlei. Erstens: Was hat das mit dem Klima zu tun? Zweitens: Wer ist der Adressat dieser Forderung? Man kann es eigentlich nur so verstehen, dass die allgemeine Bevölkerung aufgerufen wird, Impfkritiker zu vertreiben. Man demonstriert den Willen zum Ausschluss, weil man diesen Willen für eine Tugend hält.

Wer sind die Treiber?

Cancel Culture ist weder links noch rechts, sie wird von einer kleinen Gruppe gepflegt, deren Angehörige das Privileg genießen, von vielen als Sprecher der „Unterprivilegierten“ anerkannt zu werden. Viele Kritiker sehen in der Cancel Culture jedoch nicht nur einen Angriff auf die Meinungsfreiheit, sie betrachten sie auch in Hinblick auf die Interessen von Minderheiten als kontraproduktiv.

Die Juristin und Tagesspiegel-Redakteurin Fatina Keilani veröffentlicht im Januar 2021 einen Meinungsbeitrag mit dem Titel „Kampf gegen Rassismus. Wenn Weiß-Sein zum Makel gemacht wird“, in dem sie, wie sie später zusammenfasst, die These vertritt, „dass die Art, wie antirassistisches Engagement derzeit läuft, nur wenigen nützt. Vor allem denen, die damit ihr Auskommen sichern. Während es die vielen anderen, die von Rassismus betroffen sind, nicht weiterbringt, sondern im Gegenteil verhindert, dass Menschen unbefangen mit ihnen umgehen können, weil sie immer befürchten müssen, gleich wieder in eine Falle zu laufen.“

Die Reaktionen auf diese Kolumne schildert Keilani eine Woche später in dem Text „Im Shitstorm. Was ich erlebte, als ich über Antirassismus schrieb“. Sie erfuhr „persönliche Angriffe aller Art, Beschimpfungen, die Unterstellung, dass ich ein Rassist wäre, außerdem ein Antisemit, was man aus meinem arabisch klingenden Namen ableiten wollte.“ Über die neuen Bekannten, die sich auf Twitter über sie hermachten, schreibt sie: „Diese meinungsstarke Gruppe ist eine Gefahr für die Pressefreiheit, davon bin ich inzwischen überzeugt. Sie ist bestens in den Redaktionen vernetzt und entwickelt ungeheure Diskursmacht, mit der sie tief in die öffentliche Meinungsbildung eingreift. […] Die Eiferer auf Twitter halten sich für die besseren Menschen, sind dabei aber gnadenlos intolerant. Ich kann mir jetzt vorstellen, dass Autoren sich einen Text wie meinen eher verkneifen, um sich Ärger zu ersparen.“

Ihre Kollegin Hatice Akyün, erklärt ihr daraufhin auf Twitter, „dass Keilani offenbar nicht weiß, mit wem sie sich verbündet hat“ (und meint damit wohl Applaus von der „falschen“ Seite). Sie hofft auf die Fürsorge der Chefs: „Offenbar gibt es niemanden in ihrem privaten Umfeld, der sie vor sich selbst schützt. Ich vertraue der Chefredaktion, dass sie das richtige in dieser Situation tun wird. Für Keilani hoffe ich, dass sie jemanden hat, der sie darüber aufklärt, dass das kein Kinderspiel ist.“ Wenige Monate später verlässt Keilani den Tagesspiegel (die Gründe sind dem Autor nicht bekannt). 10

„Es geht immer auch darum, die Person einzuschüchtern und an ihr ein Exempel zu statuieren, um andere abzuschrecken.“ 

Zur kleinen Gruppe der berufenen Gesinnungswächter gesellt sich die Herde der Mitläufer, in der man emsig bemüht ist, immer auf dem neuesten Stand des Political-Correctness-Reglements zu sein. Ein Beispiel: Die Geschäftsführung der Düsseldorfer Tonhalle weigert sich, für ein anstehendes Konzert des 82-jährigen Schlagersängers Heino zu werben. Grund dafür ist der gewählte Titel der Veranstaltung: „Heino goes Klassik – Ein deutscher Liederabend“.

„Wir werden den Abend mit diesem Titel nicht bewerben, da er fachlich und politisch nicht korrekt gewählt ist“, erklärt Intendant Michael Becker gegenüber der Bild. Mit dem Begriff „ein deutscher Liederabend“ rücke sich Heino „in eine ungemütliche Ecke“. Zwar sei es korrekt, die von Heino gewählten Werke wie „Guten Abend, gut’ Nacht“ oder „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn“ als „deutsches Lied“ zu bezeichnen. Der Tourtitel „Ein deutscher Liederabend“ hingegen bezeichne ein „imaginäres Konzertformat“, so Becker: „Wir müssen damit rechnen, dass es so verstanden wird, dass es sich hier etwa um einen Liederabend für Deutsche handelt. Der Begriff ‚ein deutscher Liederabend‘ tümelt, und er ist fachlich nicht korrekt. Zumal in der klassischen Szene, der Heino sich ja andient.“ 11

Ein weiteres Beispiel: Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte beschließt auf Antrag von SPD und Grünen, die Mohrenstraße umzubenennen. Die SPD spricht via Twitter von einem „tollen Erfolg“. Nach heutigem Demokratieverständnis sei „der bestehende rassistische Kern des Namens belastend und schadet dem nationalen und internationalen Ansehen Berlins“. Anti-Rassismus-Initiativen begrüßen die Umbenennung. Berlin schreibe „Weltgeschichte“, erklärt die Initiative Berlin Postkolonial. Der Deutschlandfunk berichtet von der Umbenennung der „seit Jahren rassistisch verschrienen Mohrenstraße“. 12

Kult der Sicherheit

Insbesondere während der Corona-Krise wimmelte es in der öffentlichen Debatte von Zensurforderungen im Namen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes. Es ging so weit, dass Redakteure des Spiegel dem Moderator Markus Lanz vorwarfen, „für den Tod von tausenden von Menschen“ verantwortlich zu sein, weil er in seiner Show wiederholt den Virologen Hendrik Streeck (Uni Bonn) und den Epidemiologen Alexander S. Kekulé (Uni Halle) zu Gast hatte, die sich kritisch zu einzelnen Aspekten der Lockdown-Politik äußerten. 13 Der Fernsehkasper und Hobbymeinungsqualitätskontrolleur Jan Böhmermann forderte in diesem Zusammenhang per Tweet vom 05. September 2021: „Meinungen im öffentlichen Raum sollten einer strengen, umfassenden medialen und gesellschaftlichen Qualitätskontrolle standhalten. Die öffentliche Repräsentation von Meinungen muss nach Qualität erfolgen.“

„Zur kleinen Gruppe der berufenen Gesinnungswächter gesellt sich die Herde der Mitläufer, in der man emsig bemüht ist, immer auf dem neuesten Stand des Political-Correctness-Reglements zu sein.“ 

In ähnlicher Weise geht es auch den Grünen in Gera darum, Schaden abzuwenden, und zwar einerseits vom durch Erwärmung bedrohten Planeten Erde und andererseits von Hotels. Als der Verein „Europäisches Institut für Klima & Energie“ (EIKE) in der Stadt, in der er auch seinen Sitz hat, im November 2021 seine Jahrestagung abhalten möchte, schreiben sie alle in Frage kommenden Veranstaltungsorte an, um ihnen klarzumachen, dass es für ihren guten Ruf sehr schädlich sein könnte, wenn sie nicht mithelfen, Menschen, die sich kritisch mit der Klimapolitik auseinandersetzen, daran zu hindern, sich zu treffen. 14 Vergleichbare und noch massivere Drohungen werden regelmäßig von Aktivisten gegen Hotels ausgesprochen, die bereit wären, die AfD bei sich tagen zu lassen.

Voraussetzungen der Cancel Culture

Cancel Culture durch eine kleine Gruppe funktioniert nur, wenn gleichzeitig in einer großen Gruppe Political Correctness als unproblematische oder sogar begrüßenswerte Entwicklung des Zeitgeists akzeptiert ist. Akte der Cancel Culture erfolgen zum größten Teil im Namen von Menschen bestimmter ethnischer Herkünfte, bestimmter religiöser Überzeugungen, bestimmter sexueller Präferenzen, bestimmter Geschlechtsidentitäten sowie von Frauen und Kindern. In letzter Zeit auch häufiger im Namen „der Wissenschaft“ und des Planeten. Wichtig ist, dass relevante gesellschaftliche Gruppen die jeweilige Anmaßung, im Namen dieser Gruppen zu sprechen, akzeptieren. Das wiederum setzt voraus, dass den Gruppen pauschal ein Opferstatus zugestanden wird.

Audi veröffentlicht ein Werbemotiv, bei dem ein kleines Mädchen mit einer Banane in der Hand am Kühlergrill eines Audi lehnt. Einige Twitter-Nutzer entrüsten sich: „Gerade kleine Kinder würden im Straßenverkehr immer häufiger schlicht übersehen, auch weil die Maße der Autos in den vergangenen Jahren deutlich zugelegt hätten und diese zudem immer stärker motorisiert seien. Es sei geschmacklos, gerade eines dieser potenziellen Opfer vor einem Kühlergrill zu zeigen und damit für das Auto zu werben, so der Tenor“, schreibt der Spiegel. 15 Zudem wird wegen der Banane Sexualisierung bemängelt. Audi zieht das Bild zurück und entschuldigt sich: „Wir entschuldigen uns aufrichtig für dieses unsensible Bild und versichern, dass es in Zukunft nicht mehr verwendet werden wird. Wir werden auch umgehend intern prüfen, wie diese Kampagne zustande gekommen ist und ob in diesem Fall Kontrollmechanismen versagt haben.“

„Cancel Culture durch eine kleine Gruppe funktioniert nur, wenn gleichzeitig in einer großen Gruppe Political Correctness als unproblematische oder sogar begrüßenswerte Entwicklung des Zeitgeists akzeptiert ist.“ 

Das Verhalten ist für Konzerne typisch. Sobald der Vorwurf irgendeiner „unsensiblen“ Äußerung oder Darstellung im Raum steht, kommt sofort die Entschuldigung. Und nicht nur die, sondern auch die Versicherung, die Schuldigen suchen zu wollen und die Kontrollmechanismen zu prüfen und, wenn nötig, zu ertüchtigen.

Das Reputationsmanagement ist zu einem immer wichtigeren Teil der Unternehmensführung geworden. Und dabei geht es nicht nur um das unbedachte Abbilden von Bananen. Es geht auch um jedes Wort, dass die Unternehmenslenker öffentlich (oder auch nicht öffentlich, aber im Zweifelsfall von irgendjemandem öffentlich machbar) von sich geben. Es ist weit mehr als früher genau zu bedenken. So ist es beispielsweise kaum mehr vorstellbar, dass ein Auto-Vorstand sich kritisch zur Strategie äußert, die Welt müsse durch Elektroautos vor der Klimakatastrophe gerettet werden. Die Zeiten, in denen man sich zum Verbrenner bekennen konnte, sind vorbei. Die moralische Entrüstung darf nicht riskiert werden, weil Moralismus und Kommerz inzwischen aufs Engste verbunden sind.

In amerikanischen Verlagen kommt mittlerweile routinemäßig sogenanntes Sensitivity Reading zum Einsatz. Dabei geht es darum, Texte daraufhin zu prüfen, ob sie Aussagen oder Begriffe enthalten, die geeignet sind, moralische Entrüstung bei Menschen, die bestimmten Minderheiten angehören, oder bei Aktivisten hervorzurufen. Auch in Deutschland finden sich entsprechende Angebote, etwa auf der Website sensitivity-reading.de. Die fünf Frauen, die dort Unterstützung anbieten, verfügen über folgende Qualifikationen: „migrantische, muslimische Frau“, „Woman of Color“ (Asiatin), „pansexuell und panromantisch“, Rollstuhlfahrerin und intersektionale Feministin, Erfahrung mit Posttraumatischer Belastungsstörung. Jede benennt also ein Spezialgebiet, auf dem sie aufgrund ihrer individuellen Erfahrung literarische Texte auf Angemessenheit der Darstellung von Personen prüfen kann. Eine solche Prüfung mag für Autoren durchaus hilfreich sein. Wenn man den Anspruch hat, eine fiktive Person überzeugend darzustellen oder ein Milieu treffend zu beschreiben, ist eine Recherche und das Hinzuziehen von Menschen, die in diesem Bereich mehr Erfahrung haben als man selbst, sinnvoll. Aber darum geht es hier nicht. Sensitivity Reading wird ja nicht von Leuten mit spezifischen Erfahrungen als Arbeitsloser, Katholik, Rocker, Freimaurer oder Kneipenbesitzer angeboten. Sensitivity Reading wird empfohlen bei „Themen, die gesellschaftliche Auswirkungen auf marginalisierte Menschen haben.“ Denn bei diesen „sollte man mit besonderer Akkuratesse an das Manuskript herangehen.“ So lesen wir es auf der genannten Website. Und fragen uns, ob „Akkuratesse“ hier wirklich das richtige Wort ist. Denn es wird noch ein anderes Ziel genannt, nämlich Themen „weniger schädlich“ darzustellen. Das scheint der Kern des noch jungen Metiers zu sein, Literatur – oder eben wie im Fall Audi auch Werbung – auf potenzielle Schädlichkeit zu prüfen.

„Die moralische Entrüstung darf nicht riskiert werden, weil Moralismus und Kommerz inzwischen aufs Engste verbunden sind.“

Aus Sicht von Audi, wo das Sensitivity Reading „Kontrollmaßnahmen“ heißt, geht es natürlich nicht darum, Schaden von Kindern, Pansexuellen oder Muslimen abzuwenden, sondern Schaden für das eigene Unternehmen, der durch einen Shitstorm entstehen könnte.

Tugendbolde

Eine unterstützende Komplementärbewegung zur Ad-hominem-Kultur ist das Virtue Signalling: die unaufgeforderte Demonstration von Political Correctness, etwa durch das Umbenennen von Exponaten in Museen, das Umschreiben von Büchern, das Einfärben von allem Möglichen in Regenbogenfarben oder indem man sich der sogenannten gendergerechten Sprache befleißigt. Wie man mit dem Finger auf jene zeigt, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, so präsentiert man sich selbst als einen, der stets auf der richtigen Seite steht – indem er die herrschende Meinung reproduziert, die bekanntlich immer die Meinung der Herrschenden ist, ohne deren Licet und Placet es nicht geht.

Vielleicht ist das Virtue Signalling oder Moral Posing auch die eigentliche Bewegung und die Cancel Culture nur eine Begleiterscheinung, ein hässlicher Auswuchs. Vielleicht geht es zuallererst darum, moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Personen, die es trifft, indem man sich moralisch über sie erhebt, sind dann weniger Opfer als vielmehr Kollateralschaden.

Im September 2020 macht der Politische Geschäftsführer der Piratenpartei in Sachsen auf Twitter darauf aufmerksam, dass auf einer Straßenbaustelle im Ort Naußlitz ein Bagger mit der Aufschrift „Der Fahrer spricht ausschließlich Deutsch“ steht. Der Tweet lautet: „@stadt_dresden auf eurer Baustelle (Altnaußlitz) arbeiten offen Rechtsradikale. #dresden #FCKNZS #sucksen.“ Nach Prüfung lässt die Stadt das Baufahrzeug wenige Tage später durch das zuständige Unternehmen entfernen und kündigt an, in Zukunft genauer darauf zu achten, welche Baufirmen eingesetzt werden. 16

Im Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts hängt ein Plakat „für maskenfreie Schulen“. Der Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel, Lorenz Maroldt, postet das Bild auf Twitter (sowie im Tagesspiegel Newsletter Checkpoint) und schreibt: „Plakat von Corona-Schwurblern in der ‚Partnerfiliale‘ der Post in Glienicke-Nordbahn.“ Die Post ist offenbar entschlossen, dafür zu sorgen, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden, und antwortet: „Vielen Dank für den Hinweis. Wir nehmen umgehend Kontakt mit dem Partner auf.“ 17

„Vielleicht ist das Virtue Signalling oder Moral Posing auch die eigentliche Bewegung und die Cancel Culture nur eine Begleiterscheinung, ein hässlicher Auswuchs.“ 

Das Schöne am Virtue Signalling: Es ist sehr billig zu haben. Der britische Journalist James Bartholomew, der den Begriff prägte, schreibt: „Niemand muss tatsächlich etwas tun. Tugend entsteht durch bloße Worte oder sogar durch stillschweigend gehegte Überzeugungen. Es gab eine Zeit, in der die Menschen glaubten, man könne nur tugendhaft sein, wenn man etwas tut: dem Blinden über die Straße hilft; sich um seine alten Eltern kümmert, anstatt sie in einem Heim abzuladen; in einer nicht ganz perfekten Ehe bleibt, um der Kinder willen. Diese Dinge erfordern Anstrengung und Selbstaufopferung. Das klingt hart! Es ist viel bequemer, Tugendhaftigkeit zu erreichen, indem man seinen Hass auf diejenigen zum Ausdruck bringt, die glauben, dass das Gesundheitswesen durch die Einführung von Wettbewerb verbessert werden könnte.“ 18 Die politische Autorin Angela Nagle spricht von einer Entwicklung hin zu „kompetitivem Virtue Signalling“. 19 Auf Deutsch könnten wir von einem Wetteifern der Tugendbolde und Tugendboldinnen (inzwischen aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit mit eigenem Eintrag im Duden: „weibliche Person, die sich besonders tugendhaft gibt“) sprechen. In den letzten Jahren wird auch häufig der Begriff der „Gutmenschen“ verwendet.

Während der Begriff „Virtue Signalling“ sich kritisch auf das Bezeichnete bezieht, finden wir im Deutschen interessanterweise nur das positiv konnotierte Pendant „Haltung zeigen“.

Ächtung heute und gestern

Aber war das nicht immer so? War nicht immer jener im Vorteil und vor Diffamierung geschützt, der Denken und Reden geschmeidig der herrschenden Ideologie anpasste? Gewiss. Aber die herrschende Ideologie hat sich noch nie durch ein solch hohes Maß an Künstlichkeit und Konstruiertheit ausgezeichnet wie heute. Es gab immer und gibt auch heute von der Mehrheit geteilte Moralvorstellungen oder Benimmregeln, deren Missachtung sanktioniert war.

Cancel Culture ist etwas anderes. Leute, die Cancel Culture betreiben, kann man treffend als Gesinnungswächter bezeichnen. Früher hatten wir es dagegen eher mit Moralwächtern zu tun. Die Ächtung bezog sich eher auf Praktiken – von der männlichen Langhaarigkeit und dem weiblichen Hosen – oder später Minirocktragen über das Hören von „Negermusik“, wovor in den 1950er Jahren von Kirchen, Schulbehörden und Politikern gewarnt wurde, bis zur Homosexualität etc. Während wir die alten Moralwächter immer weiter in ihre Schranken verweisen konnten und die Gesellschaft in fast allen Lebensbereichen sehr viel toleranter geworden ist, scheint es nun leider den Gesinnungswächtern zu gelingen, sich zunehmend im öffentlichen Leben und den Institutionen festzusetzen.

„Die herrschende Ideologie hat sich noch nie durch ein solch hohes Maß an Künstlichkeit und Konstruiertheit ausgezeichnet wie heute.“ 

Frühere Moralwächter waren die Stimme der Mehrheit, die sich gegen Minderheiten richteten. Heutige Gesinnungswächter sehen sich dagegen als Anwälte von Minderheiten und als eine Art Avantgarde, die der Gesellschaft die neuen Benimmregeln beibringen will: durch Eintrichtern, etwa bei der „gendergerechten Sprache“, durch Virtue Signalling und durch öffentliche Diffamierung. „Damit wird der normale kulturelle Mechanismus auf den Kopf gestellt“, schreibt der Journalist Damon Linker. „Normalere Formen der Annullierung finden statt, weil die Menschen die anerkannten Normen von richtig und falsch, gut und schlecht, edel und unedel, schön und hässlich, rein und unrein, heilig und profan akzeptieren und sie dann gemeinschaftlich in der Gegenwart durchsetzen, normalerweise ohne viel bewusstes Nachdenken. […] Was jetzt mit der ‚Cancel Culture‘ geschieht, ist etwas anderes. Eine kleine Anzahl von progressiven Online-Nutzern hat sich selbst zur moralischen Vorhut ernannt und versucht, mit den Methoden eines digitalen Mobs eine Form von puritanischem Egalitarismus durchzusetzen, der nur von einigen wenigen bejaht wird. Jeder Schriftsteller, Entertainer oder jede andere Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, der/die von diesem moralischen Standard abweicht, indem er/sie nicht genügend Sensibilität und Rücksicht auf die Gefühle von Mitgliedern bestimmter geschützter Klassen zeigt, wird ausgestoßen. Die Progressiven haben damit den Schritt der Überzeugungsarbeit auf breiter Basis übersprungen und sind direkt zum Endpunkt des Versuchs übergegangen, eine neue öffentliche moralische Norm mit Gewalt durchzusetzen.“ 20

Löschen und Sperren

Teil der Cancel Culture ist auch das Löschen und Sperren durch die Plattformbetreiber. Der amerikanische Journalist Nick Gillespie analysiert dieses Phänomen: „Die Cancel Culture funktioniert auf mindestens drei verschiedenen Ebenen: der persönlichen, der unternehmerischen und der politischen. Eine Ebene ist beunruhigender als die andere, weil jede ein breiteres Netz auswirft und mehr und mehr Optionen ausschließt. Es ist eine Sache, meinen Twitter-Account zu löschen, nachdem ich als moralisch verdorben angegriffen wurde. Noch schlimmer ist es, dauerhaft von der Seite geworfen zu werden, weil die Moderatoren entschieden haben, dass ich nicht mehr zu retten bin, und noch beunruhigender ist es, wenn die Regierung Twitter abschaltet, weil dort meine schrecklichen Äußerungen erlaubt wurden.“ 21

Aus Sicht der Verfechter der Cancel Culture handelt es sich um Hygienemaßnahmen, um Säuberungen. Die freie Meinungsäußerung als Auswuchs eines freien Denkens widerstrebt ihrem starken Bedürfnis nach geistiger Hygiene.

Das Ausmaß des mehr oder weniger willkürlichen Löschens ist insbesondere im Verlauf der Corona-Krise beständig gewachsen. Im September 2021 löschte Facebook eine Woche vor der Bundestagswahl entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 150 Konten und Gruppen, die der Querdenken-Bewegung „zugeordnet werden“ auf Facebook und Instagram, darunter das des Querdenken-Gründers Michael Ballweg. Gelöscht wurden zudem Verlinkungen auf externe Webseiten. Es sei weltweit die erste gezielte Aktion, die sich gegen eine Gruppierung richte, die eine „koordinierte Schädigung der Gesellschaft“ (Coordinated Social Harm) hervorrufe, sagte Facebook-Manager Nathaniel Gleicher der dpa. Es handele sich um „bedrohliche Netzwerke“, die aus „koordinierten Gruppen mit authentischen Konten“ bestünden. 22

„Frühere Moralwächter waren die Stimme der Mehrheit, die sich gegen Minderheiten richteten. Heutige Gesinnungswächter sehen sich dagegen als Anwälte von Minderheiten und als eine Art Avantgarde, die der Gesellschaft die neuen Benimmregeln beibringen will.“

Einige Wochen später wurde die Schwelle der Bedrohlichkeit noch deutlich weiter gesenkt: Auf Instagram konnte man das offizielle Profil der Cochrane Collaboration nicht mehr verlinken. Jeder, der versuchte, „Cochrane“ zu taggen, bekam eine Warnmeldung angezeigt. Cochrane habe „wiederholt Inhalte gepostet, die gegen unsere Gemeinschaftsleitlinien zu falschen Inhalten über COVID-19 oder Impfstoffe verstoßen“. Das ist schon sehr kurios. Denn: „Die Stiftung erstellt hochwertige systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen, um Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren interessierten Personen die evidenzbasierte Entscheidungsfindung in Gesundheitsfragen zu erleichtern. Cochrane-Arbeiten gelten gemeinhin als der Goldstandard für wissenschaftliche und gesundheitliche Erkenntnisse. Bei jeder systematischen Übersicht werden die Ergebnisse vieler Studien und Versuche berücksichtigt, die rigorosesten Analysen von Cochrane werden als ‚Level-1-Beweis‘ bezeichnet, die höchstmögliche Evidenzstufe in der Gesundheitsforschung“, wie Kolja Zydatiss in seiner wöchentlichen Sammlung „Ausgestoßene der Woche“ erklärt. 23

Aber nicht nur „falsche Inhalte“ werden gelöscht, auch allerlei Volkstümliches gerät ins Visier der Zensur. So stufte im September 2021 Facebook das Volkslied „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ aus dem 16. Jahrhundert als „Hate Speech“ ein, löschte es und wies auch eine Beschwerde des Nutzers ab, wie dieser mit einem Screenshot belegt. Ein Nutzer kommentiert: „Und schon wieder gibt es uninformierte (oder bösartige) Idioten, die Fehlinformationen darüber verbreiten, dass sich die Farben Schwarz und Braun auf die Farben der NSDAP beziehen, obwohl das Lied weit vor der Nazi-Zeit spielt. Schwarz und braun bezieht sich auf eine typische Frau aus der Arbeiterklasse, die schwarzes Haar hat und braungebrannt ist, weil sie den ganzen Tag auf einem Bauernhof arbeitet, im Gegensatz zu einer adligen Frau, die blass und blond ist. Ein wenig Recherche genügt, um dies zu klären.“ Auf der weniger zensurfreudigen Plattform Odysee findet man ein Re-Upload des anstößigen Videos, versehen mit dem Disclaimer: „All videos are apolitical and this channel is against any form of extremism or hatespeech!“

Die Löschfabriken von Facebook, Youtube und Twitter mitsamt den von ihnen beauftragten „Faktencheckern“ sind die Apparate einer systemischen Cancel Culture. Eine weitere Spielart der Cancel Culture ist es, dafür zu sorgen, dass missliebige Meinungsäußerungen nicht mehr reichweitenstark veröffentlicht werden können. Auch dafür gibt es inzwischen unzählige Beispiele. Es geschieht vorwiegend durch Löschung von Posts auf Social-Media-Kanälen, durch Shadow Banning (Maßnahmen, die bewirken, dass bestimmte Inhalte im Internet über Suchmaschinen nur noch schwer gefunden werden können), durch Sperrung von Profilen und Löschung von ganzen Kanälen.

„Die Löschfabriken von Facebook, Youtube und Twitter mitsamt den von ihnen beauftragten ‚Faktencheckern‘ sind die Apparate einer systemischen Cancel Culture.“ 

Aber auch in der nicht-digitalen Welt finden sich Beispiele. Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister und Vizeministerpräsident Jan Philipp Albrecht drohte im August 2021 der Firma Ströer, bei der viele der Plakatflächen der grünenkritischen Plakatkampagne „Grüner Mist“ gebucht wurden. In einem später gelöschten Tweet schrieb er: „Wenn Ströer nicht offenlegt, wer die von ihnen veröffentlichte Hetzkampagne gegen Grüne finanziert hat, sollte dies in jeder Kommune und jedem kommunalen Unternehmen zum Anlass genommen werden, dieser Firma keine weiteren Aufträge mehr zu erteilen.“ Der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz warf Ströer auf Twitter vor, „zu Lasten von Rechtsstaat und Demokratie“ zu handeln. Sein Parteikollege Arndt Klocke, Landtagsabgeordneter in NRW, sagte seine Teilnahme an einer Podiumsdiskussion ab, die Ströer zum Thema Verkehrswende organisierte. Das Bündnis „Köln gegen Rechts“ rief sogar zu einer Kundgebung vor dem Unternehmenssitz von Ströer in Köln-Sürth auf. Der Erfolg blieb nicht aus: Im September 2021 kündigte Ströer an, keine Aufträge für politische Werbung mehr annehmen zu wollen. Das Unternehmen begründete diesen Schritt mit „persönlichen Anfeindungen und Drohungen gegenüber eigenen Mitarbeitern, Boykottaufrufen gegen das Unternehmen und Sachbeschädigungen von Firmeneigentum aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Meinungsrichtungen“. 24

Wie ernst ist die Lage?

Natürlich steht es jedem frei, das Phänomen zu definieren, wie es ihm gefällt, und dann ggf. auch zu dem Schluss zu kommen, das Gerede von der „sogenannten Cancel Culture“ sei eine bedeutungslose „moralische Panik“, wie es etwa der an der Stanford University lehrende Germanist Adrian Daub konstatiert, oder eine Erfindung weinerlicher Rechter, wie es so mancher deutsche Twitteraktivist sieht.

Laut Daub haben wir es nur mit einigen wenigen Studenten zu tun, die es in ihrem jugendlichen Überschwang vielleicht ein wenig weit treiben, aber letztlich keinerlei Einfluss auf die Gesellschaft haben. Und die immer gleichen Beispiele, die in Deutschland angeführt würden, seien Lappalien: „Schauergeschichten für die Boomerseele“ zur Illustrierung einer „vom Feuilleton erfundenen“ Cancel Culture. 25 Cancel Culture reihe sich in ein Muster ein: „Aufregung unter Rechten in den USA wird Futter fürs liberale deutschsprachige Feuilleton.“ Außerdem sei das alles ein alter Hut: „Die Tendenz, anhand einer kleinen Anzahl Vorgänge an Liberal Arts Colleges und Ivy-League-Universitäten eine angebliche Welle linker Intoleranz diagnostizieren zu wollen, ist mittlerweile sogar vierzig Jahre alt, fast so alt wie ich“, schreibt Daub.

Haben wir es tatsächlich mit einer moralischen Panik zu tun? Daub vergleicht das Phänomen mit der Reaktion auf Jugendkulturen. Früher seien es „Mods, Rocker, Heavy-Metal-Fans“ gewesen, von denen sich die Leute bedroht gefühlt hätten, „und jetzt eben ‚woke‘ Studenten.“ Aber ist das wirklich so? Haben früher Behörden, Parteien, Schulen, Universitäten, Verlage, Sportvereine und Konzerne Sichtweisen, Sprachregelungen und Befindlichkeiten von Mods, Rockern und Heavy-Metal-Fans übernommen und für ihre Durchsetzung gesorgt?

Was Daub offenbar verkennt, ist, dass es nicht um die „intellektuellen Vorlieben von zwanzigjährigen Drittsemestern aus Oberlin“ geht. Es geht nicht um die kleine Zahl der Aktivisten, die in ihren Twitterblasen oder dem Safe Space eines entlegenen Eliteuni-Campus woke Ideen verbreiten, sondern um ein Phänomen, das in den Medien, Verlagshäusern und Kultureinrichtungen längst tief verankert ist.

„Wenn die Cancel Culture von einer Jugendbewegung getragen wird, dann sind hier Jugendliche am Werk, die nicht erwachsen werden wollen und fordern, Erwachsene wie Kinder zu behandeln.“

Es mag sich um eine Jugendkultur handeln. Dann wäre es aber eine, die sich in wesentlichen Eigenschaften von den bisherigen unterscheidet. Eine, die Sicherheit fordert und Freiheit einschränken möchte. Eine, die an Autoritäten appelliert, um für sich eine Sonderbehandlung zu erwirken und die eigenen Bedürfnisse gegen andere durchzusetzen. Und eine, die Denunziation und Diffamierung als legitime Mittel erachtet. Es mag in der Vergangenheit solche Bewegungen gegeben haben. Aber es waren eher nicht Mods, Rocker oder Metal-Heads.

Laut Daub machen sich die deutschen Medienunternehmen, die immerzu von Cancel Culture fabulieren, „zum Teil einer Propagandamaschine“, die von von „reichen US-Sponsoren“ eingerichteten „Institutionen und Stiftungen“ befeuert wird, „die Anekdoten sammeln und diese, häufig verdreht und tendenziös aufbereitet, an überarbeitete Redaktionen“ verklappen, „die diese dann willfährig übernehmen“. Da wir auf cancelculture.de nur dokumentieren, was wir im deutschsprachigen Raum finden, können wir diesen Vorwurf getrost zurückweisen. Wir werden nicht von reichen US-Sponsoren gefüttert.

Radikale Meinungsfreiheit

Wer es mit der Meinungsfreiheit ernst meint, darf nicht zurückrudern, wenn es um hässliche Meinungen geht und wenn diese nicht nur unterstellt, sondern tatsächlich ausgesprochen werden. Wir müssen als Gesellschaft so selbstbewusst sein, auch hässliche, abwegige und „gefährliche“ Meinungen nicht zu unterdrücken, sondern ihnen im hellen Licht der Öffentlichkeit und im Vertrauen auf die Urteilsfähigkeit unserer Mitmenschen zu begegnen. Wir sollten die Cancel Culture ersetzen durch eine Kultur des Vertrauens in die Urteilsfähigkeit unserer Mitmenschen und durch eine Kultur der offenen Debatte. Betreutes Denken mag bequem sein, aber es führt in die Unmündigkeit. Nur wenn wir uns der Meinungsvielfalt ungefiltert aussetzen, lernen wir wirklich, unterschiedliche Sichtweisen selbst einzuordnen. Diese Aufgabe sollte sich jeder zumuten, statt sie an ein Wahrheitsministerium, sogenannte Faktenchecker oder die Internetkonzerne zu delegieren.

Früher gab es nur den Jugendschutz. Bestimmte Inhalte sollten nicht allgemein zugänglich sein, weil man sie für geeignet hält, das Wohl Heranwachsender zu gefährden, die noch nicht reif genug sind, damit zurechtzukommen. Sie sollen geschützt werden vor Material, das sie verstören, verführen oder manipulieren könnte. Heute scheint das Erwachsensein nicht mehr generell auszureichen, um annehmen zu dürfen, dass die Person mit extremen Ansichten, Darstellung von Gewalt und Sexualität, Lügen und hässlichen Äußerungen umzugehen gelernt hat. Wenn die Cancel Culture von einer Jugendbewegung getragen wird, dann sind hier Jugendliche am Werk, die nicht erwachsen werden wollen und fordern, Erwachsene wie Kinder zu behandeln.

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