17.06.2019

„Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben“

Von Hasso Spode

Titelbild

Foto: Riccardo Fissore via Unsplash (CC0)

Die Tabakbekämpfung (Tobacco Control) feiert Erfolge wie einst die Alkoholprohibitionisten und die Eugenik-Bewegung. Das wird nicht von langer Dauer sein

Hoffmann von Fallersleben konstatierte: „Der Tabak hat eine weltgeschichtliche Bedeutung. Jeder muss ihm das zuerkennen, ganz einerlei, ob er ihn für gesund oder schädlich hält, ihn liebt oder verabscheut.“ In der Tat – ein für die Geschichts- und Sozialwissenschaften höchst aufschlussreiches Thema. Um 1600 hatte der Tabak begonnen, die Welt zu erobern, und seither ist die Menschheit in Freunde und Gegner dieser Pflanze geteilt.1 Vierhundert Jahre später fassten Letztere den Entschluss, diesem Streit ein Ende zu setzen, indem sie sich anschickten, ihrerseits die Welt zu erobern und sie vom Tabak zu befreien. Waren es einst das Leitbild Europa und die Handelskompanien gewesen, die die globale Diffusion des Rauchens antrieben, so waren es jetzt das Leitbild Amerika und die Pharmaindustrie, die die globale Diffusion des Nichtrauchens antrieben. Hinzukam allerdings ein weiterer Faktor: Der Auftritt suprastaatlicher Akteure, voran der Weltgesundheitsorganisation, die die unterschwellige Abkehr vom Rauchen aufgriffen, wissenschaftlich gestützt radikalisierten und schließlich in internationales Recht überführten.

1967 hatte die WHO in New York eine amerikanisch dominierte „Weltkonferenz zu Rauchen und Gesundheit“ abgehalten2 – da lag der Tabakkonsum in den USA doppelt so hoch wie in Deutschland. Hauptredner war ein bekennender Pfeifenraucher, der US-Sanitätsinspekteur Luther L. Terry. Gestützt auf seine vielbeachtete Metastudie, den „Terry-Report“, warnte er vor beträchtlichen Gesundheitsrisiken, voran dem Lungenkrebsrisiko, durch die „Angewohnheit“ des Zigarettenrauchens und kündigte das baldige Ende der Ära der Zigarette an. Auf einer Folgekonferenz, wiederum in New York, ging es 1975 nicht mehr allein um das Inhalieren beziehungsweise die Zigarette: Tabakrauchen, hieß es plötzlich, sei eine Drogensucht; es diene einzig dazu, dem Gehirn Nikotin zuzuführen. Zudem schädige es auch die Nichtraucher schwer und sei als „asoziales Verhalten“ zu brandmarken und „auszumerzen“. Doch den starken Worten folgten kaum Taten; die Macht der Tabakmultis war noch nicht gebrochen. Erst 1989 wurde auf Druck des WHO-Drogen-Komitees, traditionell eine Domäne der protestantischen Temperenzkulturen, der Tabak – zusammen mit dem Kaffee – in die Liste der „abhängig machenden Drogen“ aufgenommen; noch 1974 hatte man ihn, da von geringer psychotroper Wirkung, ausdrücklich davon ausgenommen.

Wiederum geschah nach außen hin zunächst wenig. Doch 1998, unter der norwegischen Generalsekretärin Gro Harlem Brundtland, zauberte die WHO einen Masterplan für eine „tabakfreie Welt“ aus dem Hut: die Tobacco Free Initiative. Und flankierend traten weitere suprastaatliche Akteure auf den Plan: Die Weltbank, ansonsten Motor der neoliberalen Deregulierung, folgte mit einem Programm zur behördlichen „Eindämmung der Epidemie“ (Tabakkonsum gilt hier somit als Infektionskrankheit), wobei sie ihre Macht als Kreditgeber nutzt, um in den Nehmerländern strikte Gesetze durchzusetzen. Auch die milliardenschwere Gates-Stiftung, die elf Prozent des WHO-Etats finanziert, verschrieb sich der Tobacco Control („Tabakbekämpfung“, meist beschönigend mit „Tabakkontrolle“ übersetzt); ebenso die Stiftung des Finanzmoguls Michael Bloomberg.

„Big Tobacco wurde unter tätiger Mithilfe der WHO von Big Pharma aus dem Felde geschlagen.“

Diese Akteure schufen – im Verbund mit diversen Vorfeldorganisationen – eine klandestine tabakpolitische Weltregierung, durch personelle Querverbindungen und „Kooperationen“ aufs engste verflochten mit den Global-Playern der Gesundheitsindustrie, an erster Stelle mit den Pharmariesen Novartis, Pfizer und GlaxoSmithKline. Auch wenn vieles noch im Dunkeln liegt, so zeichnet sich doch ab: Big Tobacco wurde unter tätiger Mithilfe der WHO von Big Pharma aus dem Felde geschlagen. Eine synthetische Pharmakologie des Alltags soll die pflanzenbasierte ablösen.3 Wichtigster Hebel zur Umsetzung des Masterplans wurde das „Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs“ (FCTC), das 2005 in Kraft trat und dessen Einhaltung von über 50 akkreditieren Lobbyorganisationen überwacht wird. Fast alle der 193 UN-Mitgliedsstaaten traten bei und überführten die Vereinbarung in nationales Recht – von der Öffentlichkeit größtenteils unbemerkt. Damit verpflichteten sie sich, den Tabakverbrauch – dies ist der entscheidende, in seiner Tragweite regelmäßig übersehene Punkt! – „kontinuierlich“ zu reduzieren, woraus logisch folgt, dass er irgendwann den Wert Null erreichen muss.

Totalitäre Tendenzen

Das gleiche kryptoprohibitionische Programm hatte die WHO schon 1993 bei der Alcohol Control einführen wollen, musste es aber auf Druck etlicher Staaten zumindest offiziell fallenlassen. Anders nun bei der Tobacco Control. Die hierbei einzusetzenden Mittel – die Kombination verhältnispräventiver Verbote und verhaltenspräventiver Aufklärung beziehungsweise  Volkserziehung – entsprechen grosso modo dem, was in den Vereinigten Staaten seit den späten 1970er-Jahren – als die Regierung den Tabak zum „Feind Nr. 1“ erklärte und einen „Kreuzzug gegen den Tabak“ ausrief – vorexerziert wird. Dabei haben just die USA (neben der Schweiz, Argentinien, Kuba und ein paar kleineren Staaten) die Unterschrift unter das Rahmenabkommen verweigert. Das Land bleibt uneins über den Tabak. Bereits um 1900 hatten mächtige Lobbyorganisationen nicht nur einen „Kreuzzug“ gegen den Alkohol entfacht, sondern auch gegen den Tabak: Die „Ausrottung“ des Alkohols sollte Hand in Hand gehen mit einem „rauchfreien Amerika“. Die beiden verschwisterten Bewegungen entstammten den puritanischen Mittelschichtmilieus der „Reformers“ und richteten sich primär gegen den Lebensstil und Einfluss der eingewanderten Unterschichten.4

Etliche Bundesstaaten erließen eine Tabakprohibition. Doch in den 1920er-Jahren – Alkohol war nun im ganzen Land verboten – sank der Stern der „Reformers“. In den urbanen Bildungsschichten schlug ihnen Spott und Hass entgegen – die Tabakverbote fielen und die USA wurden Weltmeister im Qualmen. Heute haben etliche Bundesstaaten und Kommunen, wie Kalifornien und New York City, die Tradition der „Reformers“ aufgegriffen und gehen radikal gegen Raucher und die Tabakkonzerne vor; anderseits aber haben ein Dutzend Bundesstaaten bislang nur sehr laxe Nichtraucherschutzgesetze erlassen. Die Steuersätze differieren (unvorstellbar in der EU) um neun Dollar pro Zigarettenpackung – das Trauma der 1933 unter großem Jubel aufgehobenen nationalen Alkoholprohibition ist nicht vergessen: Fragen der Lebensgestaltung werden nach dem Subsidiaritätsprinzip entschieden, d.h. nicht gesamtstaatlich, sondern auf Landes- oder Gemeindeebene.

„In der EU wird ‚von oben‘ durchregiert. Subsidiarität und kulturelle Identität, stets weihevoll beschworen, bleiben auf der Strecke.“

Somit zählen die USA, im Ganzen betrachtet, nicht mehr zu den führenden Ländern im „Krieg gegen den Tabak“. Diese Rolle haben einerseits andere Temperenzkulturen übernommen, wie Großbritannien, Australien und Neuseeland, wo der Packungspreis bis 2025 auf hundert Dollar steigen soll, anderseits autokratische Regime in Tradition der „orientalischen Despotie“: die Türkei mit einer Unzahl kleinlicher, gleichwohl meist klaglos akzeptierter Verbote; Bhutan, das aus Angst vor schlechtem Karma nur privat eingeführte Zigaretten duldet; und voran Turkmenistan, wo es dem Präsidenten gefiel, Verkauf und Einfuhr gänzlich zu verbieten (wozu ihm WHO-Generalsekretärin Chan herzlich gratulierte). Nun ist die WHO-Rahmenvereinbarung jederzeit kündbar und Verstöße können nicht sanktioniert werden.

Anders im Fall der Europäischen Union. Deren Mitglieder sind doppelt daran gebunden: direkt als Unterzeichnerstaaten und indirekt über die EU – und Brüssel kann sehr wohl Sanktionen verhängen. Obschon nur ein Staatenbund und kein Bundesstaat, drängt die EU rastlos auf „Harmonisierung“. Da ihr das bei „großen“ Themen wie Zuwanderung, Finanzen, Energie und Soziales nicht gelingt, stürzen sich die zahlreichen EU-Kommissare auf „kleine“ Themen, die gleichwohl von alltagsrelevanter Kulturbedeutung sind.5 Staubsauger, Stickoxid, Strohhalme, Amalgam – nichts entgeht der zentralisierten Volksbeglückung. Manches mag da vernünftig sein, anderes absurd, doch der Souverän, das „Volk“, ist gar nicht befugt, darüber zu urteilen. Das Europaparlament ist machtloser als der deutsche Reichstag zur Kaiserzeit. Es wird „von oben“ durchregiert. Subsidiarität und kulturelle Identität, stets weihevoll beschworen, bleiben auf der Strecke – angesichts der grassierenden Europamüdigkeit ein Spiel mit dem Feuer. Exemplarisch hierfür die Tabakpolitik6: 1999 begann die EU-Kommission die in Maastricht vereinbarte nationale Zuständigkeit für die Gesundheitspolitik auszuhebeln, indem sie ihre Verantwortlichkeit für den Arbeitsschutz nutzte, um die Strategie der WHO in bindende „Richtlinien“ zum Nichtraucherschutz umzumünzen. Seither sind solche „Richtlinien“ Zug um Zug verschärft worden, zuletzt 2014: Ekelbilder, Mentholverbot und andere vom Nichtraucherschutz, dem ursprünglichen Interventionspunkt, gänzlich entkoppelte Vorschriften. Denn inzwischen sind die Maastricht-Versprechen nicht nur beim Euro Makulatur: Brüssel ist jetzt auch ganz offiziell für die Gesundheit zuständig. Europa ist mithin die einzige Weltgegend, in der Verstöße eines Landes gegen die WHO-Rahmenvereinbarung völkerrechtlich wirksam geahndet werden können.

Globale Entwicklung und Eugenik

Wie in anderen „westlichen“ Kulturen ist auch in den EU-Ländern der Zigarettenkonsum mehr oder weniger rückläufig. Global hingegen ist eine Zunahme zu verzeichnen, allen voran in China, das ein Viertel der Weltproduktion erzeugt; Mao und der greise Deng Xiaoping waren Kettenraucher, doch hier setzt allmählich ein politisches Umsteuern ein (zumal die WHO und Big Pharma ins Land geholt wurden, um das marode Gesundheitssystem zu entstaatlichen). Anders in vielen Entwicklungsländern, wo die Zigarette noch ein knappes, prestigeträchtiges Gut ist. Über kurz oder lang dürften sie sich aber den derzeit vorherrschenden Bewertungsmustern in den hoch entwickelten Ländern annähern, weniger aufgrund vertraglicher Verpflichtungen als vielmehr dank der latenten Leitbildfunktion des „Westens“ – und hier zumal der missionarischen Temperenzkulturen –, die auch dann wirksam sind, wenn sie vehement abgelehnt werden. Eine ganz andere Frage ist, welche Alltagspharmakologie dann im „Westen“ im Trend liegen wird. Neuro-Enhancer, Cannabis?

„Die historische Analyse zeigt zudem, dass die gegenwärtige Anti-Tabak-Bewegung dereinst Schiffbruch erleiden wird.“

Wie weit die Tabakbekämpfung noch gehen soll, bleibt umstritten, ethisch wie grundrechtlich. Geht es nach der WHO, der EU und der Pharmaindustrie, bis hin zur Prohibition, die freilich nicht mehr so genannt wird und nicht mehr schlagartig eingeführt werden soll, sondern sukzessive durch Steuererhöhungen und eine eskalierende Nadelstichtaktik. Passionierte Raucher, weiterhin eine bedeutende Minderheit, sehen da mit Bangen in die Zukunft. Zweifellos werden die Schrauben noch weiter angezogen (nicht allein bei der Tobacco Control, sondern auch – nach deren Vorbild – auf anderen präventionspolitischen Feldern, allen voran beim Alkohol). Viele Raucher werden noch kapitulieren und wie Millionen andere Exraucher feststellen, dass sie gesundheitlich „wohler“ sind (wenn auch nicht „glücklicher“, wie Sigmund Freud den Verzicht auf seine Zigarren kommentierte). Die Endzeitstimmung engagierter Tabakfreunde ist also für sich genommen unbegründet. Die Utopie einer Welt ohne Tabak ist so folgenschwer nicht wie ihre Vorgänger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: pharmakologisch nicht so einschneidend wie die einer vom Alkohol befreiten Welt und politisch nicht so verheerend wie die einer von „Minderwertigen“ befreiten, wie sie die Rassenhygiene beziehungsweise Eugenik betrieben hatte.

Allerdings ist es grundsätzlich bedenklich, ein altes Kulturgut „auszumerzen“ (einst ein Lieblingswort der Rassenhygieniker), ohne dessen Leistungen7 auch nur zur Kenntnis zu nehmen – zumal wenn es sich dabei erneut um eine primär symbolische Gesundheitspolitik handelt: Der Tabak steht erneut pars pro toto für einen „falschen“ Lebensstil und Wertekanon. Den Konsumenten wird daher das Recht und (mit Hilfe der Suchttheorie) die Fähigkeit abgesprochen, über sich selbst zu bestimmen. Kein Wunder, wenn sie in vehemente Abwehrhaltung gegen solche „Bevormundung“ verfallen. Gleichsam Schützenhilfe erhalten sie aus der autonomen, soziokulturellen Forschung, die die verborgenen Antriebe solcher Kreuzzüge, ob gegen Alkohol, Drogen, Prostitution oder Tabak, und die verborgenen Funktionen der von diesen attackierten Praktiken untersucht. Die historische Analyse zeigt zudem, dass die gegenwärtige Anti-Tabak-Bewegung dereinst Schiffbruch erleiden wird. Ihr neuartiger transnationaler Charakter und die neuartige Verflechtung mit den Interessen einer mächtigen Wirtschaftsbranche verleihen ihr zwar größere Stabilität als ihre Vorgänger sie hatten, doch auch sie bleibt abhängig von sozialen und mentalen Randbedingungen, von Strukturen langer Dauer, auf die sie kaum Einfluss hat. An erster Stelle ist hier das Präventionsparadox zu nennen und das damit verbundene Gesetz des zyklischen Wechsels der Dominanz restriktiv-asketischer und permissiv-hedonistischer Konzepte vom „richtigen Leben“:

Die ältere Anti-Alkohol-Bewegung (und mit ihr die erste Anti-Tabak-Bewegung) war an ihrem Erfolg gescheitert: Enthaltsamkeit wurde Pflicht und hatte damit als Ausweis moralischer Überlegenheit ausgedient. Die Freiheit zum – auch ungesunden – Genuss avancierte stattdessen zum Leitwert, und der riesige Apparat „alkohologischer“, sprich: epidemiologischer und medizinischer Forschungen, der die Prohibition legitimiert hatte, wurde als falsch oder unwichtig ad acta gelegt – darunter auch durchaus valide Erkenntnisse. Das gleiche Schicksal ereilte dann die Rassenhygiene, die nicht zuletzt auch den Antialkoholismus legitimiert hatte: Nach dem Krieg wurden die eugenischen Zwangsgesetze suspendiert; die „streng wissenschaftliche“ Rassenhygiene entpuppte sich als ein schrecklicher Wahn.

Die Zukunft des Tabaks

Es ist nicht ersichtlich, wie die derzeitige Anti-Tabak-Bewegung dem Fluch des Scheiterns durch Erfolg entrinnen könnte. Dies umso weniger, als sie sich (anders als noch Luther Terry) nicht darauf beschränkte, den besonders gesundheitsschädlichen Konsumpraktiken den Kampf anzusagen. Stattdessen entfachten „Moralunternehmer“ (J.R. Gusfield) erneut einen protestantisch grundierten „Kreuzzug“, der sich die totale „Ausmerzung“ des Tabaks auf die Fahne schrieb. Die „Verquickung von Wissenschaft, Moral und Politik“ (H. Frenk / R. Dar) macht die Tobacco Control zu einer „verkappten Religion“ (C.C. Bry) – und genau dies lässt sie als im Innersten fragil erscheinen, hilflos dem jeweiligen Zeitgeist ausgeliefert. Heute bildet er ihren Nährboden. Doch wie heißt es so schön bei Schopenhauer: „Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist morgen verwitwet.“ Dreht sich irgendwann der Wind, und die der Chimäre eines risikofreien Lebens nachjagende „Besorgnisgesellschaft“ (G. Ropohl) wendet sich wieder dem Prinzip des „rechten Maßes“ beziehungsweise dem präventiven Grenznutzen zu, verliert die Tobacco Control ihr soziokulturelles Umfeld und wieder wird es heißen: „Der Kaiser ist ja nackt!“ Ihre Vorgänger betrieben eine Eskalation der Rhetorik und der Mittel, bis hin zu einer machttrunkenen Raserei, die sich schließlich selbst ad absurdum führte. Blind gegen die Lehren der Geschichte, bewegt sich die Tobacco Control längst auf denselben Geleisen.

„Der Überschuss des Wollens über das Wissen und der entsprechende Tunnelblick sind riskant.“

Gegenwärtig sonnt sie sich in ihren Erfolgen. Nachdem die Zigarette in den 1980er-Jahren ohnehin ihren Zenit erreicht hatte, hat die Anti-Tabak-Bewegung in der Tat den Rückgang des Rauchens stark beschleunigt, und zwar indem sie die funktionalen Aspekte des Tabakkonsums ausblendet und die somatischen Folgeschäden nicht nur minutiös aufzeichnet, sondern auch propagandistisch überzeichnet. Wie der einstigen Anti-Alkohol- und der mit ihr verbandelten Eugenik-Bewegung gelingt es ihr erneut, durch die schiere Masse an Studien, Resolutionen und Verlautbarungen eine Omnipräsenz zu erzeugen8, die selbst offenkundig Absurdem eine Aura unbestreitbarer Evidenz verleiht.9 Doch der Überschuss des Wollens über das Wissen und der entsprechende Tunnelblick10 sind riskant. Die Politik hat sich von Daten abhängig gemacht, die bereits heute in Teilen umstritten sind und morgen womöglich als obsolet gelten, sei es aufgrund innerwissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen. Dies setzt die Legitimität einer als wertfrei deklarierten Tobacco Control aufs Spiel, die das Rauchen nicht mehr – wie in der Vormoderne – als Sünde oder – wie noch weit ins 20. Jahrhundert – als Belästigung bekämpft, sondern sich auf vermeintlich objektive, „wissenschaftlich bewiesene“ Sachzwänge beruft. Geraten nun zentrale Theoreme ins Wanken – etwa die Mär vom hoch toxischen Nikotin11 –, können Restriktionen, die derzeit noch mehrheitlich begrüßt werden, als „Paternalismus“ empfunden werden und wieder eine Resistenzhaltung provozieren, die sich der tradierten Symbolik des Tabaks als Zeichen gegen Bevormundung bedient.12

Was bedeutet dies nun für die Zukunft des Tabakkonsums? Darüber lassen die historischen Befunde nur informierte Vermutungen zu. Die „tabakfreie Welt“ der WHO-Strategen wird es aber nicht geben. Eine seit einem halben Jahrtausend in der Pharmakologie des Alltags verankerte Substanz lässt sich nicht „ausmerzen“; nicht auszuschließen ist hingegen, dass sie für eine ungewisse Zeit in die Halb- oder Illegalität gedrängt wird (wobei sich der Schwarzmarkt aufgrund der milden Wirkung im Vergleich zu „harten“ Drogen in Grenzen halten dürfte, und eine Legalisierung von Cannabis Tabak- beziehungsweise Rauchverbote unterlaufen könnte). Offen ist auch, welche Konsumpraktiken in fernerer Zukunft überwiegen werden. Die gesundheitsschädlichste und am wenigsten ritualisierte Konsumform – die Zigarette – ist jedenfalls ganz unabhängig von Verboten und Ekelbildern auf dem Weg zum sinkenden Kulturgut. Im Prinzip hatte Terry Recht, als er vor einem halben Jahrhundert ihr Ende verkündete, nur war das etwas voreilig. Doch irgendwann dürfte ihr Niedergang auch die letzten „bildungsfernen“ Milieus erreichen.

„Pfeife oder Zigarre könnten eine Renaissance erleben.“

Dann aber kann Tabakabstinenz nicht mehr als Mittel sozialer Distinktion fungieren. Das Spiel könnte von neuem beginnen. Nicht schon der bloße Gebrauch, sondern – wie in der einstigen Medizin – der Missbrauch stünde in der Kritik, und man dürfte die angenehmen Effekte des Nikotins wieder legitim genießen. Pfeife oder Zigarre könnten eine Renaissance erleben. Berücksichtigt man allerdings weitere, nichtzyklische Strukturen langer Dauer, nämlich die seit 1800 kontinuierlich wachsende Sensibilität gegenüber Gerüchen und Luftschadstoffen und die sukzessive Zurückdrängung des Feuers seit Einführung der elektrischen Beleuchtung und der Zentralheizung, scheint es mindestens ebenso denkbar, dass „heiße“ Konsumformen dauerhaft marginalisiert werden. Das spräche für Snuff und Snus; mehr noch könnte das elektrische „Dampfen“ nikotinhaltiger Liquids diese Lücke füllen. Es imitiert Symbolik, Pharmakologie und Rituale des „heißen“ Konsums, ohne nach bisheriger Kenntnis nennenswerte gesundheitliche Nachteile aufzuweisen; es ist freilich technisch noch unausgereift und daher bevorzugt ein Steckenpferd männlicher Exraucher. Sein Potenzial lässt sich allerdings daran ablesen, dass die WHO nachgerade panisch versucht, das Dampfen zu ächten.

Unwissenschaftliche Tabakforschung

Clemenceau meinte, der Krieg sei eine zu ernste Angelegenheit, um ihn den Militärs zu überlassen. Doch genau dies geschieht im „Krieg gegen den Tabak“. Die Militärs, das sind hier die Experten der Tobacco Control, des transnationalen Geflechts aus Politik, Verbänden und Wissenschaft, als dessen akademisches Rückgrat die epidemiologisch-medizinische Tabakforschung fungiert. Diese Wissenschaft ist eng limitiert: keine breite, wissbegierige Tabakforschung, sondern bloße Tabakfolgeschädenforschung, nach eigenem Verständnis dazu berufen, die Welt zu retten – deren Komplexität sie freilich nicht einmal erahnt. Im Gegensatz dazu sieht sich die Geschichtswissenschaft nicht als unmittelbar involvierter Akteur, der verkündet – was er schon immer wusste –, wie die Dinge sein sollen und daher widersprechende Befunde als Bedrohung fürchten muss und womöglich als Machwerk böswilliger „Leugner“ auszugrenzen trachtet, sondern als Beobachter, der versucht zu ergründen, wie die Dinge sind und daher Widersprechendes für den Erkenntnisfortschritt nutzen kann. Auch dies soll helfen die Welt zu verbessern, doch wie jede Grundlagenforschung ist die Historie gerade deshalb gehalten, Abstand zu wahren gegenüber den Forschungsgegenständen und die Verwertung ihrer Resultate nicht selbst zu organisieren, sondern anderen gesellschaftlichen Akteuren anheimzustellen.

Genau dies ist bekanntlich die bewährte Funktion der „reinen“ Wissenschaft, und genau daran fehlt es der „tabakkritischen“ Forschung seit ihren Kindertagen. Diese angewandte Disziplin ist es, die derzeit den Diskurs und die Agenda prägt. Doch ihr mangelt es an Autonomie und Selbstreflexivität, die ein Handwerk erst zu einer Wissenschaft machen. Stattdessen folgt sie allzu oft einem hemmungslosen Utilitarismus, der jedes Mittel gutheißt, wenn es nur das erwünschte Resultat erbringt. Der Primat des Gestaltenwollens, der Wille zur Macht verleitet sie nicht allein zur Produktion von Absurditäten bis hin zur platten Lüge. Er begründet ihre essentielle Fragilität, die – vergleichbar mit der einstigen „Alkohologie“ und der Rassenhygiene – nur im Niedergang enden kann, frei nach Homer: „Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben.“ (OD I,7) Manche empirischen Studien werden von Bestand sein, andere als ideologischer Unsinn entsorgt werden; vor allem aber sind kaum zentrale Erkenntnisse über komplexe Zusammenhänge zu erwarten, die über den Tag hinaus reichen. Dies können nur Ansätze leisten, die der wissenschaftlichen Ethik verpflichtet sind – voran der offenen Debatte und der relativen Autonomie13 –, und die den Tabakkonsum nicht aufs Biologische – und hierbei aufs Schreckliche – reduzieren, sondern ihn ganzheitlich auffassen und in den „Zusammenhang mit großen Weltveränderungen“14 stellen. Und indem die Geschichtsforschung methodisch kontrolliert Abstand zu ihrem Gegenstand hält, hilft sie uns auch Abstand zum Getöse des Hier und Heute zu gewinnen und die Gegenwart aus ihrer „Selbstverständlichkeit zu erlösen“ (N. Elias). Auf diese Weise schrumpfen die Horrorzahlen der Tabakfeinde und ihre utopischen Hoffnungen wieder auf Normalmaß. Ebenso die Verlustängste und Untergangsvisionen der Tabakfreunde.

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