18.08.2025
Den Westen kann man nicht erklären
Von Kolja Zydatiss
Demokratie statt Diktatur, Israel statt Islam, Route 66 statt Roter Platz: Die Vorzüge des Westens waren einst so offensichtlich, dass es kaum nötig war, für sie zu werben. Was ist schief gelaufen?
Zumindest die Ästhetik stimmte, als Donald Trump am Freitag seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin auf einer Luftwaffenbasis in Alaska empfing. Der Kremlchef steht wie ein Schuljunge eingeklemmt inmitten des körperlich deutlich größeren US-Präsidenten und mehreren geparkten F-22-Raptor-Kampfjets, die das aufgestellte Podium bedrohlich zu umzingeln scheinen. Über ihren Köpfen donnern ein B-2-Bomber (das ist der Flugzeugtyp, mit dem die USA kürzlich die iranischen Atomanlagen angegriffen und das Programm um Jahre zurückgeworfen haben) und weitere Kampfjets in Formation, während sich Trump zu Putin beugt und sagt: „This ain't Ukraine, buddy.“
Ja, der „hässliche Amerikaner“ war zurück – zumindest schien es für kurze Zeit so. Denn bei dem bilateralen Treffen zur Lösung des Ukraine-Konflikts konnte Trump bei allem Flexen nach fast einhelliger Meinung der Beobachter kaum Einfluss auf den Kremlchef nehmen, der ohne größere Zugeständnisse abreiste.
Nun beeilen sich deutsche Medien, die gesamte Veranstaltung mit Inbrunst zu verurteilen, und skandalisieren banale Dinge, wie dass Trump Putin buchstäblich den roten Teppich ausgerollt hat (protokollarische Gepflogenheit) oder den russischen Präsidenten seinen „Freund“ genannt hat (wohl in etwa so ernst gemeint, wie wenn der Dönermann zu mir „Bruder“ sagt). Sie ignorieren dabei, dass der Republikaner eine geschwächte USA, die das Reagansche „Peace through strength“-Prinzip nur noch schwer aufrechterhalten kann, von seinen Vorgängern nur geerbt hat.
Verlorene Welt
So etwas wie den Herbst der Weltordnung, in der die USA die unangefochtene Führungsmacht eines westlichen Bündnisses waren, das sich als selbstverständlichen Höhepunkt der menschlichen Zivilisation sah, habe ich als Kind noch bewusst miterlebt. Geboren bin ich 1989 im amerikanischen Sektor von West-Berlin, in einer Familie, in der fast jeder mütter- und väterlicherseits gut Englisch sprach und zum einen oder anderen Zeitpunkt für die in West-Berlin stationierten amerikanischen oder britischen Soldaten gearbeitet hatte. Im Radio liefen noch bis 1993 der RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor), wie täglich von den Ansagern bekräftigt „eine freie Stimme der freien Welt“, sowie bis 1999 der deutschsprachige Dienst der BBC, dessen Funkhaus am Charlottenburger Savignyplatz ich bei einem Tag der offenen Tür besichtigen konnte.
„Donald Trump hat eine geschwächte USA von seinen Vorgängern nur geerbt.“
Ich wuchs auf mit Geschichten über die Alliierten. Wie sie mit der heldenhaften Luftbrücke Stalins Blockade von West-Berlin gebrochen und im Laufe der Jahrzehnte von Besatzern zu engen Freunden und Beschützern geworden waren. Mein Vater hatte mit einem Stipendium der Stiftung Luftbrückendank studiert, und so gehörten auch deren Veranstaltungen zu meiner Kindheit: Händchenschütteln mit Gail Halvorsen, dem Air-Force-Veteranen und ursprünglichen „Candy Bomber“ der während der Luftbrücke die Praxis eingeführt hatte, im Landeanflug Süßigkeiten mit kleinen Fallschirmen für die West-Berliner Kinder abzuwerfen. Gedenkkonzert für die an 9/11 getöteten New Yorker Feuerwehrleute. Und mit Mama und Papa, Oma und Opa am alten Flughafen Tempelhof amerikanische und schwarz-rot-goldene Fähnchen schwenken, als Bill Clinton und Helmut Kohl eine neue C-17-Transportmaschine auf den Namen „Spirit of Berlin“ tauften.
Ich besuchte die bilingualen deutsch-englischen staatlichen Europaschulen, deren Konzept mein Vater als Bildungsforscher im Auftrag des Berliner Senats mitentwickelt hatte und wissenschaftlich betreute, und hatte Lehrer aus Großbritannien, Kanada, den USA und Australien. In der Schule lernte ich über Rosa Parks, Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung und verstand schon früh, dass der Westen zwar dunkle Flecken in seiner Geschichte hatte, viele, auch privilegierte Menschen jedoch bereit gewesen waren, sich diesen ehrlich zu stellen und Missstände zu überwinden.
Unsere Reisen führten uns häufig nach Schottland, wo meine Eltern beide eine Zeit lang gelebt hatten, bevor sie sich kennenlernten, zu unserem Ferienhaus in Südfrankreich sowie in die USA und Kanada (2000) und nochmal die USA (2004), wo meine Eltern seit den 1980ern Kontakt zu Freunden aus dem internationalen Austauschprogramm für Erwachsene „Friendship Force“ gehalten hatten. Ausflüge in eine buchstäblich „neue Welt“ auf der anderen Seite des Atlantiks, die mich als Kind und Teenager tief beeindruckte.
„Ich wuchs auf mit Geschichten über die Alliierten.“
Mein Opa und, auf seinen Schultern, meine Mutter, waren live dabei gewesen, als John F. Kennedy 1963 vor dem Rathaus Schöneberg seine berühmte „Ich bin ein Berliner“-Rede gehalten hatte, erklärte man mir stolz. Amerikaner seien „oberflächlich“, pflegten meine CDU-nahen Großeltern mütterlicherseits zu sagen, aber als West-Berliner seien wir ihnen zu ewigem Dank verpflichtet, denn sie hatten uns vor dem schlimmen Schicksal eines Lebens in einer aus Moskau gelenkten sozialistischen Diktatur bewahrt.
Mein Onkel erzählte vom größten Abenteuer seiner Jugend, einem Austausch mit Israel in den 1970ern, für den meine Oma und Opa, Gärtner und Hausfrau, lange gespart hatten. Später hatte er als Fahrer für das britische Militär gearbeitet, britische Generäle in West-Berlin und zu Treffen mit ihren sowjetischen Pendants im Ostteil der Stadt kutschiert. Noch heute erinnert er sich gerne an die wöchentlichen Nachmittage, an denen die Briten großzügig die Autowerkstatt ihrer Kaserne öffneten und Soldaten und deutsches Zivilpersonal gemeinsam an ihren Privatwagen herumschrauben konnten.
Ja, das Umfeld, in dem ich aufwuchs, war die personifizierte deutsche Westbindung. Eine Heimat und ein moralischer Konsens, der trotz des beachtlichen Einflusses teils rabiat antiwestlicher Alt-68er in Berlin, der für Deutschland typischen, lagerübergreifenden Ablehnung einiger Aspekte der amerikanischen Lebensweise wie dem Waffenrecht und eines gewissen Befremdens auch in meiner Familie über den beginnenden „War on Terror“ in meiner Erinnerung zumindest in seinen Grundprämissen kaum hinterfragt wurde und der mir als Kind so ewig und selbstverständlich erschien wie die Luft, die wir atmeten.
„Mein Opa und, auf seinen Schultern, meine Mutter, waren live dabei gewesen, als Kennedy 1963 vor dem Rathaus Schöneberg seine berühmte ‚Ich bin ein Berliner‘-Rede gehalten hatte, erklärte man mir stolz.“
Stationen des Niedergangs
Das Verblassen der beschriebenen Weltordnung hat viele Gründe, die hier nur kurz angeschnitten werden sollen. Zu ihnen gehören große Fehler in Afghanistan und im Irak, wo die westlichen Militärinterventionen aber immerhin dazu führten, dass das in seiner mittelalterlichen Menschenfeindlichkeit kaum zu übertreffende Taliban-Regime fiel, ein mit goldenem Löffel im Mund geborener saudischer Massenmörder in primitiven Verstecken untertauchen musste und schließlich getötet wurde und ein fanatischer Judenhasser mit Mittelstreckenraketen namens Saddam Hussein dem Galgen zugeführt wurde – alles wahrlich keine großen Verluste für die Menschheit.
Zu den Gründen gehört auch maßgeblich die Selbstschwächung durch eine postmoderne, „woke“ Ideologie, die den Westen auf Schandflecke wie Rassismus und Sklaverei reduziert und all seine Errungenschaften ausblendet. Diese radikale Selbstkritik, die zuletzt vom Establishment auf beiden Seiten des Atlantiks massiv vorangetrieben wurde, scheint in den USA unter den Demokraten-Regierungen von Barack Obama und Joe Biden ihren (vorläufigen?) Höhepunkt erreicht zu haben (in die Amtszeit von „Sleepy Joe“ fällt auch, wenig überraschend, Russlands Invasion der Ukraine).
Die woke Kulturrevolution, zu der es in Russland, aber auch in China, Indien und der islamischen Welt, keine Entsprechung gibt, wird derzeit von der neuen republikanischen US-Administration erfreulicherweise wieder abgewickelt. Doch auch der rechte Flügel des amerikanischen politischen Spektrums muss in die Pflicht genommen werden. Denn dessen Anführer wie Donald Trump und sein Vize J.D. Vance haben sich einem für die Republikaner eigentlich untypischen Isolationismus zugewandt, der alte und neue Verbündete zu Recht beunruhigt.
„Die ‚woke‘ Ideologie reduziert den Westen auf Schandflecke wie Rassismus und Sklaverei. Doch auch der rechte Flügel des amerikanischen politischen Spektrums muss in die Pflicht genommen werden.“
In Europa ist es vor allem Deutschland, das eine regressive und zerstörerische Rolle spielt. Die hierzulande von Karl May über Adolf Hitler bis Katrin Göring-Eckardt tief verwurzelte Islamophilie und Orientverkitschung haben dazu geführt, dass die Integrierbarkeit muslimischer Migranten massiv überschätzt und an den selbstgeschaffenen Pull-Faktoren, die die destabilisierende Masseneinwanderung aus einschlägigen Weltregionen aufrechterhalten, kaum etwas geändert wird.
International viel Vertrauen gekostet hat auch die traditionelle Russlandnähe deutscher Regierungen seit dem Ende des Kalten Krieges, vor allem in Ländern wie Polen, Tschechien und dem Baltikum, die eigentlich zu unseren engsten Partnern gehören müssten, aber auch anderswo. (Unvergesslich bleibt eine Szene aus Trumps erster Amtszeit, als dieser Deutschland in der UN-Generalversammlung für seine energiepolitische Abhängigkeit von Russland rügte und die deutsche Delegation um den damaligen Außenminister Heiko Maas darüber nur lachen konnte. Aber nur wer zuletzt lacht, lacht am besten.)
Der Westen spricht für sich
In meiner Kindheit sprachen die Vorzüge und Errungenschaften des Westens für sich. Man musste sie den wenigsten Westlern, ob nun demokratischen US-Politikern, britischen Soldaten, kleinbürgerlichen West-Berlinern oder unseren neuen Freunden in Ländern wie Polen, ausdrücklich erklären oder groß für sie werben. Außer im von rechten und linken Totalitarismen leidgeprüften Ostmitteleuropa, wo die Mehrheit schon vor der „Wende“ Freiheit und Blue Jeans besser als Kommunismus fand und seit 1990 zuverlässig dafür sorgt, dass Ideologen mit weltfremden Menschheitsbeglückungsfantasien keine zweite Chance bekommen, scheinen diese Zeiten aber vorbei zu sein.
„In meiner Kindheit musste man die Vorzüge und Errungenschaften des Westens den wenigsten Menschen ausdrücklich erklären.“
Immer mehr Menschen im Westen scheinen ernsthaft nicht erkennen zu können, dass das pulsierende, lebensfreudige Tel Aviv für die Menschheit wertvoller ist als ein Gazastreifen, in dem Schwule exekutiert und junge Leute für den islamischen „Märtyrertod“ abgerichtet werden. Dass die „rechten“ USA mit ihren zutiefst jüdisch geprägten Metropolen New York, Los Angeles und Miami und ihren Cowboy-Politikern, die mal eben über Nacht das Atomwaffenprogramm der vernichtungsantisemitischen Mullahs kaputt bomben, offenbar mehr aus der Geschichte gelernt haben als das selbstgefällige „linke“ „Nie-wieder ist jetzt“-Deutschland, wo die Berliner Polizeipräsidentin davor warnt, sich auf der Straße als jüdisch zu erkennen zu geben, und Hardcore-Islamisten zum hunderttausendsten „zivilgesellschaftlichen Dialog“ geladen werden.
Ein sich linksliberal gebendes Bildungsbürgertum träumt indes lieber von einer Postwachstumsgesellschaft mit staatlicher Rationierung und persönlichem CO2-Budget als von Motorrädern und Roadtrips auf der Route 66, während einer der prominentesten Meinungsmacher im republikanischen Lager allen Ernstes die von Stalins Zwangsarbeitern erbaute und von Putin gut in Schuss gehaltene Moskauer Metro als angeblichen Beleg dafür heranzieht, wie vorbildhaft und lebenswert Russland im Vergleich zu den USA sei. (Ja, auch rechts gibt es immer mehr antiwestliche Spinner, eine „woke right“, die sich von Liberalismus und Demokratie abgewandt hat und ihr Heil unter anderem in Putins orientalischer Despotie sucht.)
Den Yankee in uns finden
„Then conquer we must, when our cause it is just”, heißt es in der (selten gesungenen) vierten Strophe der amerikanischen Nationalhymne: „Dann müssen wir erobern, wenn unsere Sache gerecht ist.“ Immer weniger Westler, ob in den USA oder anderswo, würden einer solch chauvinistischen Aussage heute noch zustimmen. Tatsächlich war die Welt, als der Westen noch weniger von Selbstzweifeln geplagt und mit der Supermacht USA als ultimativem Vollstrecker die Welt beherrschen wollte, aber bei allen Mängeln sicherer, stabiler, zivilisierter und lebenswerter als in der nun entstehenden „multipolaren“ Ordnung, deren erste vergiftete Früchte man in Mariupol, Bachmut oder Soledar besichtigen kann.
Mit ihrem Kampf gegen Woke und Antisemitismus, ihrer Unterstützung für Israel und ihrer Wiederbelebung des Prinzips „Peace through strength“ hat die Trump-Regierung die USA im besten Sinne des Wortes „amerikanischer“ gemacht und Menschen weltweit Hoffnung gegeben, die noch an so etwas wie die westliche Zivilisation glauben. Damit daraus mehr wird als unterhaltsame Fototermine, bei denen der russische Präsident symbolisch gedemütigt wird, müssen auch wir in Europa den Yankee in uns finden.