31.08.2017

Demokratiekrise und Volksentscheide

Analyse von Ilka Bühner

Titelbild

Foto: Arnaud Jaegers via Unsplash / CC0

Statt Teile der Wählerschaft zu verspotten und zu fürchten, weil sie z.B. den Brexit, Trump oder die AfD befürworten, sollte die etablierte Politik mehr Volksentscheide einführen.

Die Demokratie steckt in der Krise. Weltweit gehen Menschen auf die Straßen, demonstrieren, protestieren, lehnen sich gegen das bestehende System auf und sie wählen Politiker, die als Populisten bezeichnet werden könnten. In den USA ist es Donald Trump, in der Türkei ist es Recep Tayyip Erdoğan, in Ungarn Viktor Orban usw. In Deutschland haben die Populisten ebenfalls an Zulauf gewonnen, wenn auch nicht so stark wie in anderen Ländern. Aber die „Bedrohung“ ist für viele spürbar. So werden Parteien wie die AfD verteufelt und alle ihre Wähler unter Verdacht gestellt.

Politik und Gesellschaft wähnen sich in einem Albtraum, hadern mit Wahlergebnissen, die der AfD Zulauf bescheren, und sie fragen sich: Wenn sich so viele Wähler auf diese „Bauernfänger“ einlassen, kann man ihnen überhaupt noch eine Wahl anvertrauen? In diesem Zusammenhang zweifeln manche Politiker an der Mündigkeit der Wähler oder appellieren an sie, die eigene Stimme nicht an eine Partei wie die AfD zu verschenken.

Schon vor Jahren hat der damalige Frankfurter FDP-Chef Dirk Pfeil seine Zweifel an der Wahlmündigkeit der Wähler artikuliert. In einem Interview sagt er der Frankfurter Neuen Presse: „Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine politische Bildung genossen hat. Die Masse ist meinungslos, sprachlos.“ Auf die Frage, ob die Wähler zu ungebildet seien, um die FDP zu verstehen, antwortet er: „Die Masse ja.“ Außerdem verzweifle er „am mangelnden Willen der Wähler, sich ein bisschen schlauer zu machen.“

„Es wird verzweifelt nach einem Sündenbock gesucht.“

Zunehmend gilt der Wähler als wahlunmündig. Er informiert sich nicht und verschenkt seine Stimme an Populisten. Dabei sind es meist nicht alle Wähler, die in Verdacht stehen, „falsch“ zu votieren. Es sind bestimmte Gruppen, die verantwortlich gemacht werden, wie etwa Alte. Analysen, die Aufschluss darüber geben, wer wen wählt, sind populär wie nie. Das Interesse daran wächst und es scheint, als würde verzweifelt nach einem Sündenbock gesucht, der für diese politischen Entwicklungen verantwortlich gemacht werden kann.

In sozialen Netzwerken und auch in der Öffentlichkeit nimmt das Bashing der vermeintlich Schuldigen immer größere Ausmaße an. AfD-Anhänger werden verhöhnt, geblockt und „entfreundet“. Bei öffentlichen Veranstaltungen der Partei sind mittlerweile Hundertschaften der Polizei nötig, um aggressive Gegendemonstranten im Zaum zu halten. Auch Trump- Anhänger werden geächtet, so wie im Falle eines Burgerbuden-Betreibers aus Essen. Nachdem er sich öffentlich als Trump-Sympathisant erklärt hatte, kamen keine Kunden mehr und seinem Geschäft droht die Pleite.

Es gibt in den Augen vieler zwei Arten von Wählern: gute und schlechte. Die Guten klopfen sich auf die Schulter und loben sich dafür, das einzig Richtige zu tun. Die Bösen werden beschimpft, ausgeschlossen und zur nationalen Bedrohung hochstilisiert. Mittels eines Sündenbocks lassen sich solche Probleme leicht erklären. Wie es allerdings zu den Problemen gekommen ist und was sich dagegen tun ließe, bleibt außen vor. Die Ursachen für unliebsame Wahlentscheidungen werden zwar von den Medien immer wieder thematisiert, ein Umgang damit wird aber nicht oder nur zögerlich gefunden.

„Populisten bekommen den Zuspruch jener, die sich schon jahrelang nicht gehört und beachtet fühlen.“

Bei der Trump-Wahl und der Brexit-Entscheidung spielten auch gemeinsame Triebfedern eine Rolle: Trotz und Rache. Nach jahrelangem politischen Einheitsbrei, der vielen Bürgern nicht geholfen, sondern ihre Lage nach und nach eher verschlimmert hat, ist das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den Eliten stetig gewachsen. Ebenso wurde der Wunsch, selbige in ihrem Wirken zu stören und die Macht zurück zu erlangen, immer größer.

Viele fühlten sich vergessen von der Politik und hatten das Gefühl, keinen Wert, keine Stimme mehr zu haben. Und wenn einzelne Stimmen nicht gehört werden, suchen sie sich einen, der ihnen eine Stimme gibt. Ungeachtet dessen, ob dieser dann auch in Gänze fähig und willens wäre, die Interessen dieser Stimmen durchzusetzen. Erfolgreiche Populisten geben einer nennenswerten Zahl an trotzigen Bürgern eine Stimme. Sie sprechen aus, was viele denken, benutzen die Worte des einfachen Mannes und verstecken sich nicht hinter Politiker-Floskeln. So sprechen sie mit ihren Worten und Argumenten den wütenden Bürgern aus der Seele und bekommen den Zuspruch jener, die sich schon jahrelang nicht gehört und beachtet fühlen.

Die jeweilige Wählermehrheit mag man als wütend und verdrossen beschreiben, als dumm und ungebildet sollte man sie nicht betrachten. Sie wollten wieder eine Stimme haben, sie wollten etwas bewegen können, und sei es durch eine sehr kontroverse Entscheidung. Statt der Mehrheit abzusprechen, wahlfähig zu sein, geht es vielmehr darum, die Bürger mehr in demokratische Entscheide mit einzubinden – viel früher und transparenter. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten zu jeder Zeit eine Stimme haben und die Entscheidungen im Sinne der Mehrheit getroffen werden.

„Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten zu jeder Zeit eine Stimme haben.“

Wenn sich wichtige Teile des Volkes nicht richtig vertreten fühlen, rächen sie sich, und es ist an der Politik, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Aber wie kann das gehen? Wie lässt sich die Systemkrise überwinden? Sucht man nach den Ursachen für diese Krise, erkennt man im Unmut der Bürger den Wunsch nach mehr Mitbestimmung und politischer Transparenz. Viele wollen nicht mehr ausschließlich durch eine Partei vertreten werden, sondern selbst ein Mitbestimmungsrecht haben.

Staaten wie die Schweiz machen vor, wie es gehen kann. Hier gibt es eine direkte Demokratie. Die Stimmbürger aller Gemeinden, Kantone und Bundesstaaten gelten als oberste Gewalt und entscheiden in Sachfragen abschließend. Viermal jährlich finden Volksabstimmungen statt, in welcher die Bürger in bis zu zehn Entscheiden über Sachfragen, Gesetze und auch über Haushaltsvorschläge abstimmen können. Die direkte Demokratie gehört zu einer der beliebtesten Grundlagen des Schweizer politischen Systems. Sie bindet die Bürger stärker in das politische Geschehen mit ein. Sie bietet eine Beteiligung an der Gesetzgebung und somit auch eine bessere Bindung an das politische Gemeinwesen. Das hat eine höhere Identifikation mit dem demokratischen System zur Folge und lässt die Kluft zwischen Bürgern und Politikern schrumpfen. Außerdem sind die Bürger eher bereit, eine politische Entscheidung zu akzeptieren, an der sie selbst beteiligt waren. Die direkte Demokratie wäre auch ein Weg, um politische Schnellschüsse umkehren zu können.

Auch in Deutschland gibt es Volksabstimmungen, allerdings nur in den Kommunen und Ländern und auch das nur in überschaubarer Zahl. Aber es gab bereits nennenswerte Erfolge, wie das Plebiszit über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Die 2011 durchgeführte Volksabstimmung konnte den erbitterten Streit um den Umbau schlichten und schließlich beilegen.

„Wie Stuttgart 21 exemplarisch zeigt, ist das Volk mit Entscheidungen über komplexe Projekte keineswegs überfordert.“

Volksentscheide auf Bundesebene lässt die Gesetzeslage nicht zu (außer bei Länderneugliederungen). Momentan zieht die AfD mit dem Thema Volksgesetzgebung in den Wahlkampf, vorher waren es die Linken, die Grünen und auch die SPD. Doch bisher sind alle Vorschläge für eine Ausweitung gescheitert, da sich die CDU dagegen positioniert. Als Grund wird angeführt, dass komplexe Sachverhalte nicht in eine Ja/Nein-Entscheidung gepresst werden könnten und man Vereinfachern keine Plattform bieten dürfe. Wie Stuttgart 21 exemplarisch zeigt, ist das Volk mit Entscheidungen über komplexe Projekte keineswegs überfordert. Die Bürger stimmten mehrheitlich für den weiteren Ausbau und entzogen somit den langen Streitigkeiten jede Basis. Alle betroffenen Parteien konnten zufrieden sein. Jahre später waren selbst die Gegner zu 80 Prozent mit der Entscheidung des weiteren Ausbaus einverstanden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht bei Plebisziten das Risiko in einer Mehrheit der Desinteressierten, was zu niedriger Beteiligung führe, so dass keine Entscheidung des gesamten Volkes zustande käme. Dafür sprechen Studien, die belegen, dass Volksentscheide vor allem von einer bildungshöheren Schicht genutzt werden. Dies trifft allerdings ebenso auf die jetzige Situation zu. Desinteressierte gehen auch nicht wählen, geben ihre Stimme keiner Partei. Somit ist der jetzige Bundestag nur das Ergebnis einer Wahlbeteiligung von ca. 70 Prozent. Bundestags-, Europa-, Landtags- oder Kommunalwahlen aber werden nicht in Frage gestellt, egal wie niedrig die Wahlbeteiligung ausfällt.

Eine höhere Identifikation mit dem Staat und der Gesellschaft lässt sich übrigens gerade durch Referenden erreichen, wie z.B. eine Studie aus dem Jahre 2013 zeigt. Und die beschworene Gefahr von staatlichen Mehrausgaben durch Volkswünsche erweist sich als unbegründet. In Staaten, in denen Volksabstimmungen durchgeführt werden, nimmt die öffentliche Verschuldung nämlich ab. Zudem kann man beobachten, dass die Steuermoral der Bürger höher liegt, wenn sie selbst über die Finanzen mitbestimmen können.

Während die Bürger durch mehr Mitbestimmung viel gewinnen können, müssten die Politiker umdenken. Ihre Entscheidungen wären durch Plebiszite angreifbar und sie hätten nicht mehr die Entscheidungsgewalt, die sie momentan innehaben. Wohl auch daher ist die Lobby gegen Volksentscheide mächtig. Selbst Befürworter des Volksentscheids wie die SPD kommen mit der Zeit ins Wanken. Es geht die Furcht um vor für sie missliebigen Ergebnissen (wie dem Brexit) und die Angst, eine noch tiefere Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen. Dass ein Kurswechsel hin zu mehr direkter Demokratie Staat und Volk wieder näher zusammenrücken lassen könnte, bleibt dabei außen vor.

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