08.03.2019
Das progressive Argument für Grenzen
Von Jon Holbrook
Grenzkontrollen sind nichts Unmoralisches, sondern liegen im legitimen Interesse von Nationen.
Befürworter von Grenzkontrollen gelten heutzutage als rückständig. Sie werden als bösartig, engstirnig, rassistisch und fremdenfeindlich eingestuft. Donald Trump, Nigel Farage, Marine Le Pen und andere „populistische Bewegungen der Rechten“ werden in diese Ecke gestellt. Andererseits stehen die Befürworter offener Grenzen im Ruf, fortschrittlich zu sein. Sie werden durchweg für gutherzig, aufgeschlossen, kosmopolitisch und tolerant gehalten. Die „offizielle Linke“ rechnet sich diesem Lager zu.
Doch das Narrativ hinter schwachen Grenzen ist keineswegs progressiver Natur. Denn es geht von einem einseitigen Gesellschaftsbild aus, das individuellen Rechten Vorrang vor kollektiven Interessen einräumt: das Recht des Einzelnen, in einer Nation seiner Wahl zu leben, das Recht des Einzelnen, die kollektiven und historischen Bemühungen dieser Nation zu beanspruchen, und das Recht des Einzelnen, die Verpflichtungen zu umgehen, die ein Heimatland mit sich mitbringt. Dies ist ein Gesellschaftsbild, das jahrhundertelanges gelehrtes liberales Denken über die Balance zwischen individuellen Rechten und kollektiven Interessen untergräbt.
Verfehltes Narrativ
Es handelt sich um ein Narrativ, das auf einer verfehlten Auffassung des Individuums beruht, die es als Mitglied der Menschheit ohne Merkmale betrachtet: als Person ohne die Vorstellungen, mit denen sie als Kind aufgezogen wurde, als Person ohne die Werte der Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist, und als Person ohne die politischen Ansichten, die im politischen Leben einer Nation geschmiedet wurden. Diese Person hat keine relevante Geschichte, keine Wurzeln und kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Da der US-Amerikaner, der Spanier und der Somalier Mitglieder derselben Menschheit sind, gelten sie im Kern als dasselbe. Dies ist ein Narrativ, das die Gemeinsamkeit des schlagenden Herzens kennt, die Unterschiede des denkenden Geistes aber nicht verstehen kann.
„Das Narrativ der schwachen Grenzen ist heute in westlichen Ländern weit verbreitet, die verfehlte Ansichten über die Gesellschaft, das Individuum, die Nation und die Wirtschaft verinnerlicht haben.“
Es handelt sich um ein Narrativ, das auf einer verfehlten Vorstellung der Nation beruht, die es als Ansammlung kultureller Unterschiede betrachtet: Großbritannien, Deutschland und Nigeria sind demzufolge im Kern dasselbe, abgesehen von historischen Zufällen, die zu unterschiedlichen Grenzziehungen auf der Weltkarte geführt haben. Wenn Millionen von Deutschen und Nigerianern nach Großbritannien einwandern würden (und eine ähnliche Zahl den umgekehrten Weg einschlüge), wäre das kein Problem, denn kulturelle, soziale und politische Unterschiede würden die Vielfalt der Nation erweitern. Diese Nation hat keine dauerhaften Normen, Kulturen oder Werte und keine von der Vergangenheit beeinflusste Zukunft. Es handelt sich nicht um eine Nation, die durch das kollektive Bestreben eines Volkes, das sich selbst als ein verbindendes „Wir“ betrachtet, aufgebaut wurde. Sie ist nur deshalb eine Nation, weil die Grenzlinien in einem Atlas dies besagen.
Das Narrativ basiert auf einer verfehlten Ökonomen-Sicht, die die politische Komplexität der Schaffung von Wohlstand zugunsten von Statistiken herunterspielt, mit denen Experten belegen wollen, dass Migranten hart arbeitende Menschen seien, die Steuern in einem angemessenen Verhältnis zu ihrer Nachfrage nach Gesundheitsversorgung, Bildung und andere öffentlichen Dienstleistungen entrichten. Dies ist ein Wirtschaftsverständnis, in dem Wohlstand eine Selbstverständlichkeit darstellt, die rund um den Globus verteilt werden muss. So argumentiert auch der Autor des etwas widersprüchlich betitelten Buches „Utopia for Realists“, dass „die Öffnung unserer Grenzen und sei es auch nur einen Spalt weit, bei weitem die stärkste Waffe ist, die wir im globalen Kampf gegen die Armut besitzen“. 1 Dies ist das Wirtschaftsverständnis einer Person, die die Zahlen auf einer Kalkulationstabelle manipulieren kann, aber nicht versteht, welchen Bezug sie zur Wirklichkeit einer politischen Ökonomie haben.
Das Narrativ der schwachen Grenzen ist heute in westlichen Ländern weit verbreitet, die verfehlte Ansichten über die Gesellschaft, das Individuum, die Nation und die Wirtschaft verinnerlicht haben. Sie prägt die Freizügigkeitsrechte, die die Europäische Union 500 Millionen Bürgern gewährt, die das Recht haben, in einem der 28 EU-Mitgliedstaaten zu leben und zu arbeiten. Sie prägt die Flüchtlingskonvention, die das Recht jeder Person garantiert, in einen Unterzeichnerstaat einzureisen, wenn sie dessen Grenze erreichen kann und einen Asylantrag stellt. Sie prägt auch die mangelnde Bereitschaft der westlichen Nationen, diejenigen auszuweisen, die illegal einreisen oder sich weiterhin illegal in einem Land aufhalten.
Liberalismus und Demokratie
Selten wird eine Welt ohne Grenzen in ihrer reinsten Form gefordert, außer von Libertären, die sich zugunsten der Kräfte des Marktes von der politischen Bühne zurückgezogen haben. Die Antipathie der Europäischen Union gegenüber den Binnengrenzen ist jedoch ziemlich eindeutig und wurde vom Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, bekräftigt, als er nationale Grenzen „die schlimmste Erfindung aller Zeiten“ nannte. Politiker, die den Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig sind, haben Probleme, das Narrativ der schwachen Grenzen zu formulieren und zu verteidigen, aber die Praxis der Massenmigration in westliche Nationen spricht für sich. Das zeigt sich in der Unfähigkeit dieser Länder, ihre Grenzen zu kontrollieren und diejenigen auszuweisen, die sich dort illegal aufhalten.
„In Ermangelung von Argumenten für schwache Grenzen tendieren die Grenzgegner zum Moralisieren, indem sie sich selbst als großzügig und gutherzig stilisieren.“
In Ermangelung von Argumenten für schwache Grenzen tendieren die Grenzgegner zum Moralisieren, indem sie sich selbst als großzügig und gutherzig stilisieren – eine Tendenz, die sich nicht auf die vielen Prominenten beschränkt, die sich für die Sache eines Asylbewerbers einsetzen wollen. Nachdem sie sich selbst als moralisch tugendhaft dargestellt haben, stempeln sie die Befürworter von Grenzen – bestenfalls – als herzlose Spießer und – schlimmstenfalls – als Rassisten und Fremdenfeinde ab. In Wahrheit verrät das Narrativ der schwachen Grenzen, das von Emotionen angetrieben und mit Moralismus gerechtfertigt wird, dass eine echte Begründung fehlt.
Schlechte Argumente können sich ohne weiteres durchsetzen, wenn sie nicht von besseren Argumenten entkräftet werden. Es ist daher notwendig, dass das progressive Argument für Grenzkontrollen sich auf die beiden Merkmale der liberalen Demokratie bezieht, nämlich Liberalismus und Demokratie. Der Liberalismus hat immer die Notwendigkeit erkannt, individuelle Rechte mit kollektiven Interessen in Einklang zu bringen. Der Wunsch nach Auswanderung ist ein wichtiges individuelles Recht, das liberale Staaten längst anerkannt haben. Das Problem besteht nicht darin, dass die Bedeutung dieses Rechts gewürdigt wird, sondern darin, dass es nicht mit den ebenso wichtigen kollektiven Interessen einer Nation in Einklang gebracht wird.
Liberale Staaten haben traditionell auch die Bedeutung der Grenzen als Mittel zur Eindämmung der Einwanderung entsprechend den kollektiven Interessen der Nation erkannt. Erst seit den letzten Jahren ist es umstritten, dass das Recht des Einzelnen auf Auswanderung (Ausreise) und das Recht der Nation, die Einwanderung (Einreise) zu stoppen, gegeneinander abgewogen werden sollten. Die sprachliche Unterscheidung zwischen Auswanderung (Ausreise) und Zuwanderung (Einreise) ist in den letzten Jahren aus der Mode gekommen. Der heutige Diskurs über „Einwanderung“ basiert auf der Überhöhung individueller Rechte und dem Herunterspielen kollektiver Interessen. Mit anderen Worten wurden Vorstellungen, die eigentlich zur „Auswanderung“ gehören, in die Vorstellung von „Einwanderung“ übertragen. Die Migrationsfrage kann nur in einem politischen Rahmen verstanden werden, der individuelle Rechte und kollektive Interessen ausgleicht. Und wenn von Einwanderung und nicht von Auswanderung die Rede ist, sollten die kollektiven Interessen der Nation im Vordergrund stehen.
„Das Recht des Volkes, Entscheidungen über Grenzkontrollen zu treffen, wurde aufgehoben oder eingeschränkt.“
Das zweite Kennzeichen der liberalen Demokratie ist die Demokratie. Der Liberalismus hat zur Demokratie nicht immer ein einfaches Verhältnis gehabt, da viele Liberale die beiden Ansätze als unvereinbar ansehen. Der reaktionäre liberale Ausruf „Vertraut dem Volk nicht“ hat den heutigen Diskurs über schwache Grenzen geprägt – nicht indem er dem Volk offen das Recht auf Kontrolle seiner Grenzen verweigert, sondern indem er es ihnen heimlich per Gesetz nimmt. Das britische Volk wurde nie gefragt, ob es wünscht, dass nach 1997 eine große Zahl von Europäern und Asylbewerbern nach Großbritannien einreisen. 2010 wählte es eine Regierung, die sich verpflichtete, die Nettozuwanderung auf jährlich Zehntausende zu begrenzen (wo sie bis 1998 auch jahrzehntelang gestanden hatte). Danach mussten die Menschen bald feststellen, dass die Regierung nicht in der Lage war, etwas gegen die Nettozuwanderung zu unternehmen, die sich auf über 300.000 Personen pro Jahr belief.
Das Narrativ der schwachen Grenzen hat die Demokratie gefesselt, indem es Institutionen für sich eingenommen hat, die sich der direkten demokratischen Kontrolle entziehen: die rechtlichen Institutionen, insbesondere jene mit supranationalem Charakter. Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist im Vertrag von Lissabon verankert. Durchlässige Landesgrenzen werden durch die Flüchtlingskonvention sichergestellt. Und die verbleibende Fähigkeit der Nationen, ihre Grenzen zu kontrollieren, wird durch zeitgenössische juristische Interpretationen der Europäischen Menschenrechtskonvention und durch zeitgenössische juristische Blickwinkel auf UN-Verträge (wie die UN-Kinderrechtskonvention) eingeschränkt. In den USA wird, wie Präsident Trump feststellen musste, die Kontrolle der Grenzen durch zeitgenössische juristische Interpretationen der amerikanischen Verfassung eingeschränkt.
Bei all diesen rechtlichen Fesseln geht es nicht darum, ob man im Bereich der Grenzkontrollen richtige Entscheidungen getroffen hat, sondern darum, dass das Recht des Volkes, über seine gewählten Vertreter zu entscheiden, aufgehoben oder eingeschränkt wurde. Supranationale Institutionen wie die UNO, die EU und der Europarat (der die Europäische Menschenrechtskonvention überwacht) haben den Richtern, insbesondere in Europa, eine beispiellose Macht verliehen, um Fragen der Grenzkontrolle dem demokratischen Zugriff zu entziehen.
„Eine Mauer zu errichten, um die illegale Einwanderung aus Mexiko zu verhindern, ist nicht die Politik eines Rassisten oder Fremdenfeindes.“
Eine liberale Demokratie, die es versäumt, auf die verbreiteten und berechtigten Sorgen der Bevölkerung über das Ausmaß der Einwanderung einzugehen, verliert das Recht, als Demokratie bezeichnet zu werden. Und eine liberale Demokratie, die die Notwendigkeit versäumt, individuelle Rechte mit kollektiven Interessen aufzuwiegen, läuft Gefahr, die Idee des Liberalismus selbst zu zerstören. Das Problem wird sich nur noch verschärfen durch eine Elite, die auf die Unbeliebtheit ihrer schwachen Grenzen dadurch reagiert, dass sie ihre Kritiker als rassistisch und fremdenfeindlich bezeichnet, statt auf die Problematik einzugehen.
Als das britische Volk im Juni 2016 dafür stimmte, die EU zu verlassen, wollte es unbedingt die Kontrolle über seine Grenzen zurückerobern. Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit gehörten dabei nicht zu seinen Motiven. In ähnlicher Weise war Trumps Wahl in den USA eine Antwort auf das hohe Niveau der illegalen Einwanderung, das Republikaner und Demokraten über viele Jahre hinweg nicht in Angriff genommen hatten. Eine Mauer zu errichten, um die illegale Einwanderung aus Mexiko zu verhindern (eine Politik, die darauf abzielt, eine unwirksame Grenze in eine wirksame zu verwandeln) und sich wie Trump für die Rechtsstaatlichkeit und gegen 11 Millionen illegale Einwanderer einzusetzen, ist nicht die Politik eines Rassisten oder Fremdenfeindes. Es wäre die Politik des liberal-demokratischen Mainstreams gewesen, bis sich diese Politiker in den Teil einer Elite verwandelten, die sich durch ihre Verachtung für die Ansichten normaler Menschen auszeichnet.
Der heutige Wunsch der Bevölkerung, Grenzen zu kontrollieren, ist weder rassistisch noch moralisch fragwürdig. Vielmehr stellt er ein richtiges Verständnis der Notwendigkeit dar, individuelle Rechte mit kollektiven Interessen auszugleichen. Es gibt keinen Grund, das Urteil des Volkes darüber zu fürchten, wie diese Balance ausfallen soll. Es ist die einseitige Nutzung individueller Rechte zur Schwächung der Grenzen, die sowohl den Liberalismus als auch die Demokratie bedroht.