29.01.2021

Das lange Leben schlechter Ideen (2/2)

Von Mark Feldon

Titelbild

Foto: John Duffy via Flickr / CC BY 2.0

Die Gegenwart der USA könnte die nahe Zukunft Deutschlands sein. Medien, Konzerne und Unis leugnen dort tatsächliche soziale Fortschritte, während bestehende Probleme als Beweis für die Unreformierbarkeit des Systems dienen.

Der sanfte Totalitarismus schlechter Ideen

Schlechten Ideen ist nicht nur ein langes Leben beschieden, sie neigen auch dazu, sich zu aggregieren. „Linguistischer Determinismus“, „gelebte Erfahrung“ und „unbewusste Vorurteile“ bilden intellektuelle Zutaten für staatliche und private Maßnahmen, die der liberalen Demokratie unversöhnlich gegenüberstehen und ihr Fortleben aufs Spiel setzen. Der Schriftsteller Rod Dreher1 spricht in dem Zusammenhang von sanftem Totalitarismus, John McWhorter von einer neuen Religion, der Geograph Joel Kotkin2 von der Ideologie des neofeudalen Klerus. Der Essayist Wesley Yang sieht die „progressive“ Weltanschauung den modernen Liberalismus ideologisch ablösen. Fand die Auseinandersetzung mit aufklärungsfeindlichen Theorien in den 1990er Jahren noch ausschließlich an westlichen Universitäten („Science Wars“) statt, so haben die schlechten Ideen von heute längst den Sprung in andere zentrale Institutionen geschafft.

Abigail Schrier3 beschreibt, wie etwa amerikanische Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Kinderkliniken und psychologische Vereinigungen in den Bann von Aktivisten geraten sind, die einen Entrismus im Auftrag einer radikalen Genderideologie betreiben. Rufmordkampagnen, Drohungen und tätliche Angriffe haben die kritischen Stimmen von Wissenschaftlern, Ärzten und Betroffenen weitgehend verstummen lassen. Im Juni dieses Jahres wurden weiße Angestellte der Stadt Seattle genötigt, an einer segregierten Schulung mit dem Titel „Internalisierte Rassische [sic!] Überlegenheit und Weißsein stören“ teilzunehmen. Die Anwesenden mussten sich von Diversity-Trainern als Rassisten beschimpfen lassen und wurden aufgefordert, ihr „Weißsein aufzulösen“ und ihre „Sicherheit aufzugeben“. Zum Schluss mussten sie sich brieflich bei „marginalisierten Menschen“ für ihre Sünden entschuldigen. Mitarbeiter der Sandia National Laboratories, der nationalen Einrichtung für den Bau von Atomwaffen, mussten an Diversity-Schulungen teilnehmen, in denen „harte Arbeit“ und „Erfolgsstreben“ als Teil einer „weißen männlichen Kultur“ denunziert wurden. Angestellte erfuhren, dass „weiße männliche Kultur“ mit rassistischen Massenmorden verbunden sei. In einer Schulung des Ministeriums für Innere Sicherheit bezeichnete ein Diversity-Trainer das Bekenntnis zur Farbenblindheit nach Martin Luther King als „Fundament von Rassismus“.

„‚Linguistischer Determinismus‘, ‚gelebte Erfahrung‘ und ‚unbewusste Vorurteile‘ bilden intellektuelle Zutaten für staatliche und private Maßnahmen, die der liberalen Demokratie unversöhnlich gegenüberstehen und ihr Fortleben aufs Spiel setzen.“

Das Center for Disease Control (die zentrale staatliche Einrichtung zur Erforschung von Infektionskrankheiten) führte während der Corona-Pandemie eine mehrwöchige Schulung auf Grundlage der radikalen Kritischen Rassentheorie (Critical Race Theory) durch. In direkter Missachtung einer Verordnung des Präsidenten wurden in Zeiten einer nationalen Gesundheitskrise kostbare Ressourcen und Steuergeld verschwendet, um eine polarisierende und letztlich menschenfeindliche Ideologie zu etablieren. Das Finanzministerium lud mehrfach einen Diversity-Trainer ein, der den Beamten mitteilte, alle Weißen seien Komplizen eines Systems weißer Vorherrschaft und aufgrund ihrer Hautfarbe privilegiert. Die Behörde ließ sich die Propagandaschulung fünf Millionen Dollar kosten.

Dem investigativen Journalisten Christopher Rufo ist es zu verdanken, dass das Ausmaß dieser Indoktrinationsbemühungen aufgedeckt wurde. Laut seinen Recherchen gab es vor Trumps Anordnung, bei Bundesbehörden auf derlei zu verzichten, nur mehr wenige Institutionen, die sich aktivistischen Programmen wie der Kritischen Rassentheorie oder IATs widersetzen, und die Biden-Administration hat bereits angekündigt, das Verbot noch am ersten Tag des Amtsantritts rückgängig zu machen. Es ist zu erwarten, dass sich dann wieder abertausende von staatlichen Angestellten demütigenden öffentlichen Verhören stellen müssen, die den berüchtigten Kampf- und Kritiksitzungen aus dem maoistischen China gleichen. Mit dem Unterschied, dass der Klassenfeind von heute der privilegierte Weiße ist und der Imperialismus durch das System weißer Vorherrschaft ersetzt wurde. Eine systematische Untersuchung über den Einfluss schlechter Ideen, wie sie Rufo geleistet hat, steht hierzulande noch aus. Es ist zu hoffen, dass bald ein talentierter und mutiger Journalist sich der Sache annimmt, denn die deutschen Vielfalts-Manager, Vorurteils-Tester oder Leitfadenproduzenten stehen ihren amerikanischen Vorbildern in nichts nach.

Der Weg in die Regenbogenrepublik Deutschland

Dass Berlin in der Institutionalisierung schlechter Ideen eine Avantgarderolle einnimmt, ist zu nicht geringen Teilen seinem Justizsenator, Dirk Behrendt (Grüne), zu verdanken. Auf seine Initiative gehen etwa das neue Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) sowie der „Leitfaden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung zum diversitysensiblen Sprachgebrauch“ zurück. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter sieht in dem LADG einen Generalverdacht „gegen den gesamten öffentlichen Dienst“.4 In der Beweiserleichterung des Gesetzes erkennen Kritiker eine Beweislastumkehr – die bei der Verfolgung von Verbrecher-Clans weiterhin verboten ist. Die Vorlage des Gesetzes ist ganz dem postmodernen Jargon verpflichtet, weshalb allenthalben von „struktureller Diskriminierung“ die Rede ist, und nicht von nachweisbaren Einstellungen oder Handlungen echter Personen. Das Gesetz zielt auf die Transformation des gesellschaftlichen Zusammenlebens und geht deshalb weit über ein, als „unwirksam“ bezeichnetes, Verbot von Diskriminierung hinaus. Es spricht sich offen für die Stärkung einer „intersektionalen Perspektive“ aus und erklärt die Schaffung einer „Kultur der Wertschätzung von Vielfalt“ zum Ziel. Selbstredend gilt dem Freund dieser schönen neuen Kultur staatliche Neutralität als diskriminierend und die verschleierte Staatsanwältin als wichtiges Zeichen multikulturellen Fortschritts. Wenige Tage vor Inkrafttreten des LADG fand die Generalprobe statt: Mitglieder eines arabischen Clans bezeichneten die Aufforderung der Polizei den Gehweg freizugeben, als rassistische Schikane.

„Die deutschen Vielfalts-Manager, Vorurteils-Tester oder Leitfadenproduzenten stehen ihren amerikanischen Vorbildern in nichts nach.“

Berliner Behörden sind aufgefordert, das Bekenntnis zur Vielfalt bereits beamtensprachlich widerzuspiegeln. Zu dem Zweck beauftragte der Senat den Verein Neue Deutsche Medienmacher (Vorstandsmitglied Daniel Bax schlug schon mal vor, den Ruhetag als Zeichen des Goodwills auf den Freitag zu legen) mit der Produktion eines Diversity-Leitfadens. In ihm können Angestellte des Landes nachlesen, welche Ausdrücke, Vergleiche oder Bilder der aktuellen Nomenklatur angehören, und welche Ausweis falschen Bewusstseins sind. „Armutsmigration“ bezeichnet demnach eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“, die auch weiterhin „gesetzlich ausgeschlossen“ ist, weshalb fürderhin nicht mehr von Armutsflüchtlingen, sondern von „Arbeitseinwanderung“ die Rede sein soll. Als veraltet gilt auch der Ausdruck „Flüchtling“, denn er reduziert Flüchtlinge auf ihre Fluchterfahrung. Stattdessen schlägt der Leitfaden etwa Geflüchtete vor, was den Aspekt der Flucht sprachlich elegant kaschiere.

People of Colour (Poc) wird als „politische Selbstbezeichnung“ beschrieben, „die alle annehmen können, die negativ von Rassismus betroffen sind.“ Kann man denn auch positiv von Rassismus betroffen sein? Und wie sollen fortan Schwarze sprachlich eingeordnet werden, die keinen Rassismus erfahren haben? Das mit der Selbstbezeichnung ist natürlich eine glatte Lüge. People of Colour ist in Deutschland eine rein akademische Schöpfung, mit der Aktivisten ihr richtiges Bewusstsein unter Beweis stellen. Den nicht-akademischen Bürgern mit dunklerer Hautfarbe dürfte der Begriff ebenso unbekannt sein wie das grässliche Latinx amerikanischen Latinos (nur 3 Prozent der der Amerikaner mit lateinamerikanischem Herkunft benutzen ihn, was aber keinen Aktivisten umstimmen kann).

Mit diesen Wortneuschöpfungen sollen heterogene, aus Individuen bestehende Gruppen homogenisiert werden, damit Aktivisten sich als legitime Sprecher und Vollstrecker eines kollektiven Willens profilieren können. Wer glaubhaft für eine Masse spricht, verleiht der Forderung nach staatlichen Zuwendungen das nötige Gewicht. Das alles erinnert nicht von ungefähr an den kommunistischen Agitatoren der Vergangenheit, dessen Interesse am Proletarier auch nicht immer selbstlos war.

„Mit diesen Wortneuschöpfungen sollen heterogene, aus Individuen bestehende Gruppen homogenisiert werden, damit Aktivisten sich als legitime Sprecher und Vollstrecker eines kollektiven Willens profilieren können.“

„Schwarz“ gilt den Autoren des Leitfadens nicht mehr als schnödes Farbadjektiv, sondern als „eine politische Selbstbezeichnung für Menschen, die Rassismuserfahrungen machen“. Damit dieser Umstand auch sprachlich zur Geltung kommt, muss die Grammatik ein paar Opfer bringen. Die Macher des Leitfadens fordern nämlich, dass das Adjektiv groß geschrieben werden soll, damit der Leser gar nicht erst auf den Gedanken kommt, das Wort neutral zu lesen. Vielmehr soll ihm vorgeführt wird, welche soziale Klasse im Besitz der sprachlichen Produktionsmittel ist. Da Weiße unmöglich Diskriminierung erfahren können, soll „weiß“ auch weiterhin klein geschrieben werden.

Aber der Leitfaden spricht nicht nur Fans der dystopischen Literatur an, sondern auch solche des Reklamekitsches. Ein Bild zeigt zwei junge Frauen (eine schwarz, die andere weiß) die grinsend ihre Hände zu einem Herzsymbol formen. Bildkommentar: Dieses Bild zeigt ein lachendes Frauenpaar, das zusammen ein Herzsymbol mit den Händen formt. Ein gutes Beispiel für ein authentisches Foto. Auch bei den Themen Geschlecht und Sexualität weicht der Leitfaden nicht vom aktivistischen Neusprech ab. Unter dem Stichpunkt Transgeschlechtlichkeit kann man etwa nachlesen, dass es nicht-binäre Personen gibt, dass wer sich als Junge fühlt, auch einer ist, und Menschen nicht etwa mit einem von zwei Geschlechtern zur Welt kommen, sondern eins „zugewiesen“ bekommen. Wenn sich schon Rechtschreibung und Ästhetik den Wünschen der Neuen Deutschen Medienmacher unterwerfen müssen, warum nicht auch gleich die Biologie?

Die Mehrheit der deutschen Bürger lehnt die Anreicherung ihrer Sprache mit solchen Ideologemen bekanntlich ab (auch Frauen sprechen sich mehrheitlich gegen „Gendersprache“ aus), weshalb die Umsetzung auch niemals organisch, durch allmählichen Wandel im Sprachgebrauch erfolgt, sondern auf administrativem Weg und durch eine „Tyrannei der Minderheit“. Der akademischen Expertenklasse dienen Vielfalts-Verordnungen und Sprachpolitik der Kohäsion der eigenen Klasse und der Distinktion gegenüber den – als rückständig und erziehungsbedürftig imaginierten – Proleten. Mit dem Soziologen Pierre Bourdieu5 gesprochen: Der vermeintlich diskriminierungsfreie Jargon dient als inkorporiertes Kulturkapital, das der Besitzer mühsam erlernt und verfeinert, damit er es zum späteren Zeitpunkt in ökonomisches, soziales oder symbolisches Kapital konvertieren kann. „Strukturelle Diskriminierung“ sagen, sozialen Status meinen.

„Der akademischen Expertenklasse dienen Vielfalts-Verordnungen und Sprachpolitik der Kohäsion der eigenen Klasse und der Distinktion gegenüber den – als rückständig und erziehungsbedürftig imaginierten – Proleten.“

Welcher Anteil der Anhänger dieser Politik eher von hehren Motiven als von der Aussicht auf Geld und Macht getrieben ist, lässt sich schwer sagen. Der Weg in die Regenbogenrepublik Deutschland ist aber ebenso wie derjenige in die Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert und entscheidend ist auch hier, was hinten rauskommt. Die Gegenwart der USA könnte durchaus die nahe Zukunft Deutschlands sein. Medien, Soziale Netzwerke, Universitäten, Konzerne und Stiftungen haben sich dort so sehr dem ‚linken‘ Kulturpessimismus verschrieben, dass tatsächliche soziale Fortschritte geleugnet werden, während bestehende Probleme als Beweis für die Unreformierbarkeit des Systems dienen. Die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung, die wachsende Zahl von Mischehen, die steigende Repräsentation von Schwarzen in Politik, Justiz, Wirtschaft, die Existenz einer breiten schwarzen Mittelschicht werden entweder ignoriert oder gar als integraler Teil der rassistischen Struktur denunziert. Stattdessen verbreiten Aktivisten und Medien ein Amerikabild, in dem die Revolution zum Erhalt der Sklaverei geführt, die Abolition eine Marginalie ist, ein polizeilicher „Genozid“ gegen Schwarze stattfindet und Weiße grundsätzlich privilegiert und Träger eines rassistischen Systems sind. Die amerikanische Nation war seit dem Bürgerkrieg nicht mehr so zerrissen, ihre Bürger scheinen in vollständig getrennten Welten zu leben.

„Das Überleben der Gesellschaft hängt daran, dass ein bestimmtes Maß an Unterschieden zwischen einer vorherrschenden Theorie und der widerspenstigen Realität nicht überschritten wird. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Gleichheitstheorien überprüft werden, wenn sie das berauschende Gefühl verschaffen, einer unbedarften Gesellschaft überlegen zu sein.“ Der Ökonom Thomas Sowell,6 vom dem das Zitat stammt, hat sich wie kein Zweiter bemüht, die Folgen linker Sozialutopien aufzuzeigen. Seine Texte seien jedem Interessierten ans Herz gelegt, für das Entlarven schlechter Ideen reicht in den meisten Fällen jedoch der gesunde Menschenverstand. Es gilt, sich nicht von akademischen Titeln, Neologismen, Geschichtsfälschungen und moralischen Erpressungsversuchen blenden zu lassen und mit der progressiven „Religion“, der „Ideologie des neuen Klerus“, dem „sanften Totalitarismus“ ebenso zu verfahren wie mit dem schädlichen und geistlosen Aberglauben der Vergangenheit: Écrasez l’infâme!

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