10.01.2017

Das Gespenst der Demokratie

Essay von Frank Furedi

Die Denker der Aufklärung hatten ein gespaltenes Verhältnis zur Volkssouveränität und sie misstrauten dem selbstbestimmten Individuum. Westliche Eliten sind noch immer von diesem Misstrauen geprägt.

Seit dem demokratischen Experiment des antiken Athens haben politische Denker und Aktivisten nun schon ein angespanntes Verhältnis zum Volk. Die Aufklärung, die mit dem Zeitalter der Vernunft zusammenfiel und in den Revolutionen in Amerika und Frankreich gipfelte, schien daher eine gute Gelegenheit, um die Rolle des demokratischen Volkswillens ernst zu nehmen. Diese Gelegenheit wurde unglücklicherweise nicht wahrgenommen. Stattdessen blieben die vorherrschenden intellektuellen und politischen Strömungen dem Volk und dem selbstbestimmten Handeln an sich gegenüber misstrauisch. Dass heutzutage so viele Menschen (und sogar Linke) dem Populismus misstrauen und seine Macht fürchten, ist zumindest teilweise ein Resultat der Aufklärung und ihrem angespannten Verhältnis zum Volk.

Aufklärung für einige Wenige

Der spannendste Beitrag der Aufklärung zur menschlichen Entwicklung war die Förderung des Denkens in historischen Zusammenhängen. Die klügsten Köpfe dieser Zeit beharrten darauf, dass die Gesellschaft keine fixen Eigenschaften habe, da alle sozialen Übereinkünfte stetiger Variation und konstantem Wandel unterworfen seien. Menschen wurde ein wichtiger Status als Subjekte des historischen Fortschritts zugesprochen – oder zumindest als dessen potenziellen Subjekte. Von Condorcet zu Saint-Simon verstanden Aufklärer die Geschichte als einen Prozess des ewigen Fortschritts und somit der Veränderung. Sie hatten eine neue Welt entdeckt; eine Welt, die von Menschen gemacht war. Allerdings waren sich fast alle Leitfiguren der Aufklärung unsicher, ob die neue Welt alle Menschen oder nur einige wenige einbeziehen würde. 1

Im 18. Jahrhundert haben die Protagonisten der Aufklärung ihre Hoffnung eher in einen reformierenden Gesetzgeber oder Machthaber als in den Anspruch des Volkes nach Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gesetzt. So wiesen eine Vielzahl von Philosophen, Kommentatoren und politischen Ökonomen dem Gesetzgeber die Rolle zu, das Volk aufzuklären und zu bilden, da sie jenem nicht zutrauten, die Vernunft aus eigener Kraft zu entwickeln. Der französische Gelehrte Louis de Jaucourt (1704–79) vertrat die Position, ein aufgeklärter Monarch müsste sicherstellen, dass die Staatsführung in vernünftiger Übereinstimmung mit dem Gesetz stünde. 2 Demnach kam aufgeklärten Despoten als „systematisch ausgebildeten und vernunftgeleiteten Regierenden“ eine entscheidende Rolle zu. 3

„Aufklärungskritiker der alten Ordnung wurden zumeist nicht von demokratischen Impulsen angetrieben“

Die Denker der Aufklärung neigten trotz ihrer Kritik an den Traditionen und Sitten der Vergangenheit zur Annahme, dass man letztlich nicht ganz ohne diese auskommen könne. Die Angst vor chaotischen Zuständen, die der Auflösung traditioneller Institutionen folgen würde, war der Hauptgrund für die Ambivalenz der Rationalisten gegenüber nicht-vernunftgemäßen Traditionen. Daher waren auch der französische Skeptiker des späten 17. Jahrhunderts, Pierre Bayle, und sogar der erzrationale deutsche Philosoph Immanuel Kant für die aufgeklärte Herrschaft eines absolutistischen Königs. Das Konzept der aufgeklärten Despotie des 18. Jahrhunderts verdeutlichte, dass für einige die Aufklärung viel mehr von dem Wirken eines klugen und gebildeten Herrschers abhängig war als von den intellektuellen Ressourcen des Volkes. Dass radikale Philosophen die Aufklärung mit der Abhängigkeit von einem Gewaltherrscher verbinden konnten, verweist auf ihre Skepsis gegenüber den demokratischen Freiheiten.

Die anti-traditionalistischen Vorstellungen, die für das Zeitalter der Vernunft charakteristisch waren, wurden von einer intuitiven Auffassung gedämpft, dass die Auflösung einer traditionalistischen Gesellschaft chaotische Zustände heraufbeschwören würde. Daher fehlte der aufklärerischen Kritik an traditionellen Formen der Autorität eine konsistente demokratische Dimension. Grundsätzlich war sie von dem Streben relativ kleiner Gruppen gebildeter Fachleute und Unternehmer nach Freiheit motiviert. Aufklärungskritiker der alten Ordnung wurden zumeist nicht von demokratischen Impulsen angetrieben; häufig wollten sie lediglich die Herrschaft der alten Eliten durch ihre eigene ersetzen.

Protest der Gebildeten für politische Macht

Viele Untersuchungen der Aufklärungszeit kommen zum Schluss, dass neue Bewegungen von unten „die Form eines Protests der Gebildeten gegen ihre Ausgrenzung von politischer Macht durch privilegierte Minderheiten annahmen, die ihren Herrschaftsanspruch auf Tradition und Vorschrift gründeten.“ 4 Beispiele dafür sind der Bauernaufstand von 1775 in Böhmen oder die von Bauern unterstütze Revolte des Jahres 1773 in Russland um Yemelyan Pugachev. Gewöhnlich repräsentierten diese Bewegungen eine relativ begrenzte Anhängerschaft. In Frankreich bestand die Protestbewegung, die der Französischen Revolution voranging, zum Beispiel aus Teilen des Adels und der Juristerei.

Ähnlich verhielt es sich mit den sozialen Bewegungen in England, den Niederlanden und Genf: Auch diese „vertraten den Standpunkt der gebildeten, doch benachteiligten Menschen, die sich unrechtmäßig von der Beteiligung am politischen Geschehen ausgeschlossen fühlten.“ 5 Diese Bewegungen richteten sich nicht so sehr gegen das monarchisch-göttliche Herrschaftsrecht als vielmehr „gegen Oligarchien, deren Machtanspruch lediglich auf Tradition beruhte“. So trat die gemäßigte englische Bewegung für parlamentarische Reformen, die um 1779 begann, für Bürgerrechte ein, die „im Namen traditioneller Rechte verwehrt wurden.“ 6 Schon diese geringe Infragestellung der traditionalistischen Autorität führte in England zu Instabilität und Unruhen, was die herrschende Ordnung bedrohte. Der Ausbruch der Gordon Riots (1780), zunächst ein antikatholischer Protest in London, erinnerte die Eliten daran, dass die Massen einen eigenen Kopf hatten. Daher waren diejenigen, die nach parlamentarischen Reformen verlangten, beunruhigt, und nahmen von nun an eine viel konservativere Haltung gegenüber politischen Veränderungen ein.

Die Gordon Riots bewogen sogar den französischen Staatsmann Turgot, einen frühen Befürworter des ökonomischen Liberalismus, zur Aussage: „Zu welcher Stufe der Zivilisation hat sich die menschliche Art entwickelt, wenn wir in diesem Jahrhundert selbst in London solch einen Fanatismus mitansehen müssen?“ 7 In Frankreich war es noch schwieriger als in England, die Ansprüche der gebildeten Reformatoren der Mittelschicht mit der bestehenden Ordnung in Einklang zu bringen. Der Anspruch der französischen Reformatoren auf soziale Gleichheit im „begrenzten Sinn von Gleichheit zwischen bürgerlichen Ehrenmännern und Adeligen“ war darauf ausgerichtet, Bedingungen wie in Großbritannien zu schaffen. Während in Großbritannien solche Haltungen „im Namen der Tradition vertreten werden konnten“, bedurften sie in Frankreich „der Zurückweisung von Tradition im Namen abstrakter Prinzipien“. 8 Die Notwendigkeit, die öffentliche Meinung auf Basis moralischer Grundsätze und nicht auf der Grundlage des Vorangegangenen zu mobilisieren, ließ die Frage nach Konsens und Autorität zu. Unter solchen Umständen konnte die Gleichheitsforderung nicht einfach von einer Minderheit für sich beansprucht werden. Aus diesem Grund verwandelte sich die reformatorische Bewegung Frankreichs in eine revolutionäre.

„Sogar radikale französische Aufklärer misstrauten dem Vermögen des Volkes, selbst zu denken und sich vernünftig zu verhalten“

Tatsächlich hatte die Aufklärungskritik an der alten Ordnung Frankreichs viel mehr revolutionäre Folgen als anderswo in Europa, da es unmöglich war, Veränderung ohne Volksbeteiligung zu bewirken. Die Französische Revolution von 1789 repräsentierte den Wendepunkt des Verhältnisses zwischen der aufstrebenden Mittelschicht, die die Sprache der Aufklärung sprach und denjenigen, die ihr gesellschaftlich untergeordnet waren. Im 19. Jahrhundert gewann die Frage, wie der Wille des Volkes zu repräsentieren sei (beziehungsweise das, was als „öffentliche Meinung“ bekannt wurde), an Bedeutung und richtete sich an jene, die damit beschäftigt waren, eine vernünftige, aufgeklärte Gesellschaft voranzutreiben.

Sogar radikale französische Aufklärer misstrauten dem Vermögen des Volkes, selbst zu denken und sich vernünftig zu verhalten. Darunter Jean-Jacques Rousseau, ein politischer Philosoph, der gewöhnlich mit dem radikalen Flügel der Aufklärung assoziiert wird. Trotz seines romantischen Blicks auf die menschliche Natur war er zutiefst pessimistisch, was das Verhalten realer Menschen betraf. Er vertrat den Standpunkt, es bedürfe eines Erziehers, um dem Volk eine Richtung zu geben. Auch Maximilien Robespierre, der Anführer der Französischen Revolution, teilte Rousseaus Skepsis gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten des Volkes. Seines Erachtens waren Individuen machtlos, sich gegen den Einfluss von Vorurteil und sozialem Druck zu wehren. „Menschliche Autorität kann immer von menschlichem Hochmut befallen werden“, behauptete Robespierre. Er befand, dass es dem Volk an Denkvermögen mangele und es daher „durch das religiöse Empfinden, das der Seele den Gedanken einer Bestätigung moralischer Prinzipien durch eine dem Menschen übergeordnete Macht aufprägt“ geleitet werden müsse. Dass ein radikaler Anführer der Französischen Revolution von einer „dem Menschen übergeordneten Macht“ sprach, veranschaulicht die zögerliche Haltung des Zeitalters der Vernunft in Hinblick auf das Verhältnis von individueller Freiheit und Autorität. Der optimistische Glaube an das Potenzial der Bildung, das Individuum zu befreien, existierte parallel zu einer pessimistischen Haltung gegenüber dem Individuum. 9

Zurück zur Religion

Der Großteil der Intellektuellen und politischen Kommentatoren des 20. und 21. Jahrhunderts betrachtete und betrachtet weiterhin die öffentliche Meinung, wenn nicht mit Unbehagen, so zumindest mit gemischten Gefühlen. Aus ihrer Sicht mangelt es den gewöhnlichen Leuten an intellektuellen Fähigkeiten und unabhängigen Gedanken, sodass sie leicht durch die Medien und kommerzielle Werbung manipuliert werden können. Darüber hinaus neigen sie, im Unterschied zu ihren gebildeten Führern, zu rückständigen, irrationalen und fremdenfeindlichen Ansichten. Diese Haltung gegenüber der öffentlichen Meinung, die auch heutzutage weit verbreitet ist, hat also im 18. Jahrhundert ihren Ursprung.

Die meisten Philosophen des 18. Jahrhunderts waren gegenüber der Macht und dem Einfluss der öffentlichen Meinung ambivalent eingestellt. Einige von ihnen bekannten sich offen dazu, diese zu fürchten. Rousseau sah die öffentliche Meinung als korrumpierenden Einfluss an, vor dem Kinder zu schützen waren. 10 Wie viele seiner Zeitgenossen beschäftigte auch er sich mit der Fragestellung, wie Meinung zu beeinflussen und in eine konstruktive Richtung zu lenken wäre. Daher trat er für die Zensur der Presse ein.

„Die meisten Philosophen des 18. Jahrhunderts waren gegenüber der Macht und dem Einfluss der öffentlichen Meinung ambivalent eingestellt“

Der schottische Philosoph David Hume glaubte ebenso wie Rousseau, dass die „Herausbildung einer vernünftigen politischen Meinung die fundamentalste politische Aufgabe wäre“. Seine Schriften waren dem Verstehen und der Verwaltung ebenjener Meinung gewidmet. 11 Humes Einstellung gegenüber der Macht der politischen Meinung wurde, übereinstimmend mit der vorherrschenden Stimmung des politischen Denkens in Europa, zunehmend defensiv und frustriert. Dies zeigte sich in seiner Angst vor dem Einfluss der Presse, obwohl er ursprünglich einen pragmatischen Denkansatz gegenüber der Pressefreiheit vertreten hatte. Zwar hatte Hume wenig Verständnis für „das Volk“, jedoch glaubte er, dass unter der Führung eines intellektuellen Vorgesetzten Einfluss auf die Richtung seines Denkens genommen werden könnte:

„Ein Mann liest ein Buch oder Flugblatt allein und mit Bedacht. Es ist niemand anwesend, von dem er sich mit Leidenschaft anstecken könnte… Daher kann die Pressefreiheit, wie auch immer sie missbraucht wird, kaum je öffentliche Aufruhr anregen… die Menschen sind keine gefährlichen Monster. In jedem Fall ist es besser, sie wie vernünftige Kreaturen zu führen, als sie wie rohe Untiere zu leiten.“ 12

Aufklärer zweifeln an der Vernunft des Volkes

Als Hume seinen Essay „Of the Liberty of the Press“ (1741) publizierte, hoffte er, der Essay könne als effektives Gegengewicht zu der Willkürherrschaft des Monarchen dienen. Er verteidigte die Presse als grundlegende Instanz für die Aufrechterhaltung bürgerlicher Freiheiten und somit als wesentlich für eine „freie und unabhängige Regierung“. Jedoch wurde Humes Vertrauen in die Presse mit den Unruhen 1760 und 1770 in England und den Revolten, die auf den Ausschluss des radikalen Journalisten John Wilkes aus dem Parlament (1764) folgten, erschüttert. Als sein Essay 1770 neu aufgelegt wurde, korrigierte Hume seine ursprünglich positive Bewertung der Pressefreiheit und fügte einen letzten Satz hinzu, der diese als „eines der gesellschaftlichen Übel“ bezeichnete, mit der die Gesellschaft leben musste. 13 Hinter dem radikalen Wandel der Haltung Humes gegenüber der Presse verbarg sich die Angst, die Öffentlichkeit könnte von gefährlichen Demagogen in die Irre geführt werden.

Die Jahrzehnte, die auf die Französische Revolution folgten, waren von der Wehmut französischer Liberaler gezeichnet, die nun auf die Zeiten, als noch Religion und Tradition das öffentliche Verhalten beeinflussten, durch eine rosafarbene Brille zurückblickten. Der liberale französische Politiker Benjamin Constant warnte davor, dass viele Anhänger der Revolution „die potentiellen Gefahren der öffentlichen Meinung und die Zwänge der historischen Traditionen“ nicht anerkennen würden. 14 Dies war kaum eine Überraschung, da die meisten politischen Denker des 18. Jahrhunderts zu der Annahme neigten, die ungebildeten, niederen Klassen seien von den Irrationalitäten der Vergangenheit, durchdrungen. Daher befürworteten viele Anhänger der Aufklärung die Religion als Mittel gegen das unvorhersehbare Verhalten des Volkes, obwohl sie die Religion persönlich für ein obsoletes Vorurteil hielten. So schrieb Harold Laski über Voltaire, dass dieser „religiösen Fanatismus verachtet; aber er die Religion für eine Notwendigkeit für das Volk hält, falls die Reichen nicht im Bett ermordet werden wollen […] der Gott Voltaires ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung; ohne ihn gäbe es keine Schranken für das menschliche Verhalten“. 15

Viele Leitfiguren des Zeitalters der Vernunft waren in der Anwendung ihrer Prinzipien recht selektiv. Obschon sie sich gegen den Traditionalismus auflehnten, waren sie nicht überzeugt, dass die Vernunft und ihr institutioneller Ausdruck auch Stabilität und Ordnung gewährleisten konnten. Selbst einige der radikalsten Anhänger der Französischen Revolution kamen zu dem Schluss, dass eine umgewandelte Form der Religion notwendig sei, um die Loyalität der Massen sicherzustellen.

„Viele Leitfiguren des Zeitalters der Vernunft waren in der Anwendung ihrer Prinzipien recht selektiv“

So kam es, dass der Nationalkonvent am 7. Mai 1794 erklärte, dass „das französische Volk Gott und die Unsterblichkeit der Seele anerkenne“ und mahnte, „dieses höhere Wesen anzubeten“. Robespierre, der Vorsitzende des Konvents, glaubte, dass seine neu erfundene Religion die französischen Bürger „unabhängig von ihren persönlichen religiösen Ansichten“ einen würde. 16 Robespierre erachtete das menschliche Vernunftvermögen als zu schwach, als dass es allein den gewöhnlichen Bürger anleiten könnte. Daher fungierte die Religion für ihn als Ergänzung der Vernunft durch „eine Macht, die höher ist als der Mensch selbst“. 17 Trotz des extrem polarisierten politischen Klimas des späten 18. Jahrhunderts waren sich sowohl Befürworter als auch Gegner der Französischen Revolution einig, dass irgendeine Art von Religion nötig wäre, um das öffentliche Verhalten zu lenken. Das Misstrauen gegenüber dem Volk war letztlich größer als die Kluft zwischen den Aufklärern und ihren Gegnern, denn beide Parteien versuchten die Religion zum Erhalt der sozialen Ordnung zu instrumentalisieren.

Jonathan Israels berühmter Studie „Enlightenment Contested“ zufolge versuchte eine kleine Minderheit der Aufklärer einzig auf die Autorität der Vernunft zu setzten, jedoch wurden sie von dem „gemäßigten Mainstream“ überstimmt, der sich für eine Kombination aus Vernunft sowie „Glaube und Tradition“ entschied. 18 Sogar Baron d’Holbach vertrat den Standpunkt, dass ein Wertesystem als Alternative zur christlichen Religion nötig wäre, da er, wie viele seiner intellektuellen Kollegen, gegenüber der öffentlichen Meinung skeptisch war. Und das, obwohl Holbach seit der Veröffentlichung seines Werks „Das System der Natur“ als Atheist galt und Voltaire ihn als zu extrem empfand. In seinem 1773 veröffentlichten Buch „Système social“ (zu Deutsch: „Das Gesellschaftssystem“), sprach er sich dafür aus, dass nur ein Mann mit Eigentum damit betraut werden dürfte, die öffentliche Meinung zu repräsentieren. „Ordnung“, so Holbach, „lastet auf den Schultern derjenigen Männer, die durch ihren Besitz an den Staat gebunden und somit daran interessiert sind, ihre Besitztümer sowie die Freiheit zu erhalten.“ Seine Angst vor der öffentlichen Meinung gründete auf der Annahme, dass es einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft, nämlich ebenjenen ohne Besitztum, an moralischer und intellektueller Ausstattung fehlte, die für aufgeklärte Verhaltensweisen notwendig wäre. Allerdings glaubte er an die Bildung und dass diese einen erheblichen Teil der Gesellschaft aufklären könnte. Diese Aufgabe sollte ein Staatssouverän übernehmen. 19

Für die Nation sprechen

Die größte politische Herausforderung der Aufklärung bestand darin, die Rolle der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung zu bestimmen. Die Wegbereiter der Aufklärung vertrauten während des 18. Jahrhunderts auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung, um Entgegenkommen seitens der alten Ordnung zu erreichen. So behaupteten sie wiederholt, die moralische Autorität der öffentlichen Meinung wäre jener der Monarchie übergeordnet. Ebenso beanspruchten sie für sich, im Namen der Öffentlichkeit zu sprechen und zu handeln. Ungeachtet des Unbehagens, das die aufklärerischen Eliten gegenüber dem Volk verspürten, waren sie dennoch gezwungen, einen Weg zu finden, es zu repräsentieren und in seinem Namen zu sprechen.

Die Aufklärung fiel mit dem Zeitpunkt zusammen, als die Regierung und die Regierenden das Volk ernst nehmen mussten, weil sie zunehmend öffentlicher Kontrolle und Druck ausgesetzt waren. So stellte sich für die Regierenden die Frage, wie die abstrakte öffentliche Meinung, die sie zu repräsentieren behaupteten, zu einer grundlegenden Autoritätsquelle umgewandelt werden könnte. Sie fanden eine vorübergehende Lösung in der Neuausrichtung des öffentlichen Willens als den einer Nation, wodurch die moderne Kategorie des „Staatsbürgers“ entstand. In der Folge konnten sich die Individuen voneinander lösen und sich als Mitglieder einer neuen Gemeinschaft, der Nation, neu verbinden. Somit veränderte die Französische Revolution die bestehenden Verhältnisse zwischen Regierenden und Regierten auf eine grundlegende Weise.

„Hegels Schriften zeigen die Hinwendung der Aufklärung zum Staat“

Der allgemeine, öffentliche Wille drückte sich nunmehr in Gestalt der Nation aus, deren Grundsätze in der französischen Verfassung (1791) verankert wurden. Sie hielt fest: „Die Souveränität ist einheitlich, unteilbar, unveräußerlich und unverjährbar. Sie gehört der Nation. Kein Teil des Volkes und keine einzelne Person kann sich ihre Ausübung aneignen.“

Während der Revolutionszeit wurde die Souveränität des Volkes, verkörpert in der Nation, als das moralische Gegenteil der Autorität dargestellt, die auf göttlichem Erlass oder Vererbung und Tradition gründete. Der Triumph des Volkes über das Ancien Régime und die Zerstörung der Macht der Kirche und des Adels sorgten dafür, dass diese neue Form von Souveränität durch das Urteil der Geschichte gestützt wurde. Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) besagt Folgendes: „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.“

Zeitgleich mit dem Ausruf der Nation als Quelle souveräner Autorität kam es zu einem Ausbruch von Begeisterung in Hinblick auf die menschliche Freiheit und die Rechte des Individuums. Der neue Grundsatz, dass „alle souveräne Autorität der Nation als einem Ganzen entspringt und dass die Regierung die einzige Instanz ist, die befugt ist, diese Autorität auszuüben“ wurde durch die Amerikanische und die Französische Revolution sowie durch den wachsenden Einfluss liberaler und humanistischer Vorstellungen bestärkt. 20

Die Entwicklung der Vorstellung von nationaler Souveränität lieferte den Eliten der Aufklärung die Möglichkeit, sich nicht mit den Fragen des öffentlichen Konsenses und der Demokratie auseinanderzusetzen. So konnten die Institutionen, die geschaffen wurden, um die Nation zu repräsentieren, souveräne Autorität ausüben, ohne eine direkte Beziehung zum Volk aufzubauen. Der Nationalstaat als Institution, durch welche die Souveränität eine Bedeutung erhielt, entstand um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts. Die Schriften Hegels, der den Nationalstaat als die Realisierung menschlicher Vernunft präsentierte, fangen die Hinwendung der Aufklärung zum Staat auf nachdrückliche Weise ein.

„Den Denkern der Aufklärung erlaubte die Entdeckung der Nation, sich der Herausforderung der Volksherrschaft zu entziehen“

Den Denkern der Aufklärung erlaubte die Entdeckung der Nation, sich der Herausforderung der Volksherrschaft zu entziehen. Trotz der Beschränkungen wurde die Frage der Souveränität in Dokumenten wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ernst genommen. Das Funktionieren der nationalen Souveränität konnte auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, jedoch schloss es zumindest nicht grundsätzlich die Einrichtung von Institutionen aus, welche auf der Zustimmung des Volkes gründeten.

Heutzutage stellt die Vorstellung von Herrschaft eine fortwährende Herausforderung dar, sodass sie von einigen politischen Eliten als unbequem empfunden wird. Nationale Souveränität wird in Europa auf ungünstige Weise kosmopolitischen Institutionen wie der Europäischen Union gegenübergestellt. Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem Populismus gehen heute Hand in Hand mit Feinseligkeit gegenüber nationaler Herrschaft. Die Haltung der Aufklärer gegenüber der öffentlichen Zustimmung war häufig unvollständig und sogar feige; der Vergleich mit den antidemokratischen Empfindsamkeiten der europäischen Technokraten des 21. Jahrhunderts rückt sie jedoch in ein positives Licht.

Es ist unbestritten, dass viele Aufklärer und politische Aktivisten in Konfrontation mit der Aussicht auf Volksdemokratie ihre Nerven verloren haben. Trotz der Versuche, sich hinter dem großen Gesetzgeber oder dem höheren Wesen zu verstecken, kamen die Philosophen des 18. Jahrhunderts nicht umhin, die öffentliche Meinung mit moralischer Autorität auszustatten. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Ancien Régime traten Themen wie Konsens und Souveränität ins Blickfeld, denn auch die Idealisierung der Nation und die Vergöttlichung des Staates konnten nicht verbergen, dass die Souveränität direkt oder indirekt mit der Zustimmung der Bevölkerung zusammenhing. In diesem Sinne bedeutete die Aufklärung trotz Ausflüchten und Auslassungen einen entscheidenden Schritt nach vorne. Heutzutage, in einer Zeit, in der die Souveränität fast routinemäßig abgewertet wird, ist es wichtig, dieses Erbe aus dem 18. Jahrhundert zu bewahren. Noch wichtiger ist es allerdings, aufzuhören, der Frage nach der Volksherrschaft auszuweichen und den Volkswillen ernst zu nehmen.

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