16.08.2017

„Das Geschlecht lässt kaum Vorhersagen zu“

Interview mit Cordelia Fine

Titelbild

Foto: Aislinn Ritchie via Flickr / CC BY-SA 2.0

Sind Männer wirklich vom Mars und Frauen von der Venus? Ein Interview mit der Psychologin Cordelia Fine über Gender, Rollenbilder und „Neurosexismus“.

Novo: „Es ist keine Neuigkeit, dass Frauen empathischer und fürsorglicher als Männer sind“, schrieb kürzlich eine Zeitungskommentatorin. Der Glaube an maßgebliche, neuronal-bedingte Geschlechtsunterschiede ist zu einer Binsenweisheit geworden. Sind Behauptungen wie „Frauen sind empathischer als Männer“ oder „Männer sind rationaler als Frauen“ wissenschaftlich haltbar?

Cordelia Fine: Es gibt bei solchen Aussagen zwei wesentliche Probleme. Trotz durchschnittlicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei einigen Merkmalen gibt es normalerweise eine große Überschneidung. Das biologische Geschlecht lässt also kaum Vorhersagen zu, wenn es darum geht, ob ein Individuum stereotyp „männliches“ Verhalten (Streben nach sozialem Status, Einfluss oder Dominanz) oder vermeintlich „weibliches“ Verhalten (wie Fürsorglichkeit) an den Tag legen wird. Eine Studie in 70 Ländern zeigte, dass die Geschlechtsunterschiede in diesen Bereichen meistens so gering ausfallen, dass der Vorhersagewert des Geschlechts gegen Null geht.

Zweitens blenden solche Aussagen aus, wie Unternehmenskultur und Normen menschliches Verhalten und Beförderungsentscheidungen beeinflussen. Wer sagt „wir müssen fürsorglicher, aufmerksamer und weniger aggressiv werden, also lasst uns eine Frau herholen“, fördert die Vorstellung, dass das Problem nicht im System liegt, sondern in der unumgänglichen Tatsache, dass „Jungs Jungs sind“. Natürlich sollten wir trotzdem versuchen, die Anzahl von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. In männerdominierten Unternehmen können Frauen hyper-maskulinen Normen entgegenwirken und vermeintlich „weibliche“ Werte und Verhaltensweisen destigmatisieren. Doch wir sollten Männer nicht mit der Unterstellung beleidigen, dass sie nur zu aggressivem, autokratischen und gefühllosem Verhalten fähig sind.

„Trotz durchschnittlicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es normalerweise eine große Überschneidung.“

Es gibt noch einen weiteren negativen Effekt. Die Vorstellung, dass weibliche Manager besonders dazu geeignet sind, den Dreck aufzuwischen, anstatt in guten Zeiten kühne Träume zu verwirklichen, scheint hinter der sogenannten „gläsernen Klippe“ (Engl.: „glass cliff“) zu stecken. Dieses Phänomen wurde zuerst von der Psychologin Michelle Ryan beschrieben, die entdeckte, dass Frauen überdurchschnittlich oft für unsichere Führungspositionen ausgewählt werden.

Wer heute von wesentlichen Geschlechtsunterschieden spricht, beruft sich meist auf die Neurowissenschaft. Geben diese neurowissenschaftlichen Argumente bloß alten, sexistischen Theorien von der „Rolle der Frau“ einen modernen, wissenschaftlichen Anstrich?

Die Argumente für maßgebliche Geschlechtsunterschiede, die die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen prägen, haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Neben der Tatsache, dass die Befürworter dieser Theorie sich zunehmend auf „die Wissenschaft“ und nicht auf Gott berufen, hat es eine weitere Verschiebung gegeben. Heute geht kaum noch jemand davon aus, dass Frauen nicht in der Lage sind, höhere Positionen in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, den Künsten und so weiter zu erreichen. Stattdessen glaubt man, dass sie dies nicht wollen, weil ihre Interessen und Prioritäten im Bereich des Häuslichen und Familiären liegen. Der Kerngedanke ist jedoch gleich geblieben: Männer sind für das öffentliche Leben gemacht, Frauen für das private.

„Heute geht kaum noch jemand davon aus, dass Frauen nicht in der Lage sind, höhere Positionen zu erreichen. Stattdessen glaubt man, dass sie dies nicht wollen.“

In Ihrem Buch „Die Geschlechterlüge“ schreiben Sie, dass altmodisch anmutende Geschlechterstereotype gerade in hochentwickelten, erklärtermaßen egalitären, Gesellschaften eine Wiedergeburt erleben. Wie erklären Sie sich dieses Paradox?

Diese Frage können wohl Soziologen am besten beantworten. Aus der psychologischen Forschung weiß man allerdings, dass essentialistische Sichtweisen wie „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ oft eine systembegründende Funktion haben.

„Die Geschlechterlüge“ beschreibt die menschliche Psyche nicht als eine abgeschlossene Einheit, sondern als Produkt einer Wechselwirkung zwischen dem individuellen Verstand und der sozialen Welt. Einerseits deuten Sie also an, dass das angeborene Geschlecht eine bedeutende Rolle spielt und unsere Selbstwahrnehmung formt. Andererseits scheinen Sie zu glauben, dass wir eine aktive Rolle in dieser Selbstgestaltung spielen. Inwiefern werden wir aktiv zu einem Geschlecht?

Bei der Recherche für das Buch faszinierten mich Studien an Kindern, die sich mit dieser Frage beschäftigten. Die entwicklungspsychologische Forschung hat sich von Modellen verabschiedet, die einfach davon ausgehen, dass Eltern und andere den Kindern Geschlechterrollen aufzwingen. Man weiß heute, dass Kinder eine aktive Rolle in ihrer Selbstsozialisation spielen – manchmal zur Bestürzung von Eltern, die bei der Erziehung Wert auf Gleichstellung der Geschlechter legen.

Wie sollte es auch anders sein? Kinder werden in eine Welt geboren, die ihnen vermittelt, dass das soziale Geschlecht (im Englischen gender, im Gegensatz sex, dem biologischen Geschlecht) eine wichtige gesellschaftliche Kategorie ist. Täglich zeigt man ihnen, was zu einem männlichen oder weiblichen Verhalten „dazugehört“. Es wäre bemerkenswert, wenn dies Kinder nicht beeinflussen würde. Aber gleichzeitig ist deutlich geworden, dass Kinder recht flexibel sind, was ihre Geschlechter-Schemata betrifft. Verschiedene Kinder schreiben dem sozialen Geschlecht zudem eine unterschiedlich große Bedeutung zu.

„Man weiß heute, dass Kinder eine aktive Rolle in ihrer Selbstsozialisation spielen – manchmal zur Bestürzung ihrer Eltern.“

Besteht die Gefahr, dass durch den Fokus auf soziale und kulturelle Faktoren ein soziokultureller Determinismus entsteht, der genauso fatalistisch wie der naturalistische, biologische Determinismus ist, den Sie in Ihrem Buch so brillant auseinandernehmen?

Ja und nein. Soziale Konstruktionen des Geschlechts haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Eine Fokussierung auf soziokulturelle Faktoren dürfte also zu weniger fatalistischem Händeringen führen als der aktuelle Diskurs über Geschlechtschromosomen, Hormone und neuronale Schaltkreise. Andererseits gibt es einen Grund, warum wir von ‚sozialen Konstruktionen‘ sprechen und nicht von, sagen wir, ‚sozialen Legos‘ – sie sind robust und standhaft, und lassen sich nicht einfach auseinanderbauen und neu anordnen.

Sie haben ein vernichtendes Urteil über die heutige Genderpolitik verfasst oder, wie Sie es nennen, Geschlechtergleichstellung 2.0 – „eine überarbeitete Form von Gleichstellung, in der Männer und Frauen zwar nicht wirklich gleich sind, aber gleich frei, ihre grundverschiedene Natur auszudrücken“. Wie würde Ihre Version einer Geschlechtergleichstellung 3.0 aussehen?

Darauf habe ich keine einfache Antwort. Ich denke aber, dass ein eine Vorstellung von Gleichstellung, in der Männlichkeit und Weiblichkeit einen wirklich gleichen Status haben, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wäre.

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