01.09.2005

Bürokratenterror gegen Wirtschaftswachstum

Kommentar von Walter Krämer

Über die neuen Chemiegesetze der EU.

Die EU-Kommission plant ein neues Gesetz zur Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien (REACH). Dieses Gesetz zwingt Unternehmen, die mehr als eine Tonne einer chemischen Substanz pro Jahr herstellen oder importieren, diesen Stoff in einer zentralen Datenbank zu registrieren sowie einen so genannten Sicherheitsbericht („Chemical Safety Report“) an eine zentrale Überwachungsagentur zu übermitteln. Andernfalls droht ein Verbot des Chemikalieneinsatzes. Das Gesetz wird die Industrie je nach Schätzung zwischen 10 und 20 Milliarden Euro kosten. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little befürchtet sogar einen Rückgang des deutschen Sozialprodukts um einen Prozentpunkt pro Jahr und den Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen.

Alles Unfug, meint EU-Kommissarin Margot Wallström. Der Nutzen übersteige die Kosten des Programms bei weitem, REACH sei ein „bahnbrechender Vorschlag“ („groundbreaking proposal“), welcher der Industrie und den Bürgern langfristig gleichermaßen nutze, er sei ein Meilenstein auf dem Weg in eine bessere Zukunft für alle Europäer.

Nun steht die potenzielle, von chemischen Substanzen für Umwelt und menschliche Gesundheit ausgehende Gefahr tatsächlich außer Zweifel. Chemikalien können Krebs und Allergien, Asthma und sonstige Gesundheitsstörungen erzeugen, von Großdesastern wie Seveso, Bhopal usw. ganz zu schweigen. Das Beseitigen solcher Risiken ist damit ein unbestreitbar verdienstvolles Unterfangen.

Jedoch sollte man dabei den Nutzen und den Grenznutzen von Restriktionen auseinander halten. Auch ohne den gesamten Nutzen eines Regulierungswerkes in Frage zu stellen, kann der zusätzliche Nutzen von zusätzlichen Restriktionen durchaus angezweifelt werden. So sucht man etwa in den einschlägigen Dokumenten der EU-Kommission vergebens nach einer Abschätzung des Nutzens gefährlicher Chemikalien, der bei deren Ersatz durch weniger effiziente Mittel oder gar einem vollständigen Verbot dann ebenfalls entfiele. Ein erstes sich hier sofort aufdrängendes Beispiel ist das weltweite Verbot von Pflanzenschutzmitteln wie DDT. Bekanntlich wurde dieses aufgrund einer weltweiten, durch das Buch Der stille Frühling von Rachel Carson (1962) ausgelösten Medienkampagne vom Markt genommen mit dem Effekt, dass seitdem jährlich hunderttausende Menschen an Infektionskrankheiten sterben, die ansonsten überlebt hätten. Oder um mit Hubert Markl, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu sprechen: „Die Nebenwirkungen des DDT-Verbotes haben mit Sicherheit mehr Menschen das Leben gekostet als die Nebenwirkungen des DDT.“

"Manches Chemikalienverbot hat mehr Nebenwirkungen als die Chemikalie selbst."

Gleiches gilt für verschiedene andere Pestizide. So hat das Verbot des Pflanzenschutzmittels EDB (ethylene dibromide) in den USA ein minimales Krebsrisiko verhindert, zugleich aber der Verbreitung eines weitaus schädlicheren und krebserzeugenden Pilzes Vorschub geleistet, der sich auf den bis dato mit EDB behandelten Lebensmitteln ausbreiten konnte. Oder man nehme andere, durchaus gefährliche Chemikalien wie Fluor, dessen nützliche Effekte für die Zahngesundheit gleichfalls unbestritten sind. Auch Chlor ist ohne jeden Zweifel toxisch, zugleich aber eine der wirksamsten Waffen im weltweiten Kampf gegen diverse Infektionskrankheiten wie etwa die Cholera. So wird die massive Cholera-Epidemie in Südamerika Anfang der 90er-Jahre, die allein in Peru 7000 Menschen das Leben kostete und zu weiteren 800.000 Krankheitsfällen führte, auf die Weigerung der peruanischen Regierung zurückgeführt, Trinkwasser mit Chlor zu desinfizieren. Die Entscheidungsträger hatten sich von amerikanischen Studien zur potenziell krebserzeugenden Wirkung von Chlor verunsichern lassen.

Obwohl in der Folgenabschätzung der EU immer wieder davon die Rede ist, dass man bei der Würdigung von Chemikalien alle Effekte, die positiven und negativen Wirkungen ihres Einsatzes wie auch die positiven und negativen Wirkungen ihres Nicht-Einsatzes berücksichtigen müsse, werden diese unerwünschten Nebenwirkungen eines Chemikalienverbots durchweg ignoriert. Damit befinden sich die EU-Kommission und die Weltbank, auf die die EU-Kommission sich stützt, im Widerspruch zu einer in anderen Weltbank-Dokumenten festgelegten Vorgehensweise, bei allen öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen immer auch eine „Was-wäre-wenn-Analyse“ anzustellen. Was wäre, wenn es die durch das REACH-Programm vom Markt ferngehaltenen Gefahrenstoffe tatsächlich nicht mehr gäbe? Hier ist die EU-Kommission mit ihrer Brutto-Analyse ganz offenbar auf einem Auge blind.

Selbst diese Brutto-Analyse ist aus verschiedenen Gründen angreifbar. Sie berücksichtigt zum Beispiel nur ungenügend die in den letzten Jahren vermehrt an den epidemiologischen und statistischen Grundlagen der Risikozuweisung für Gesundheitsstörungen aller Art vorgebrachte Kritik, einmal an den zwei aus Tierexperimenten nötigen Extrapolationen, von hoher zu niedriger Dosis und von Tier zu Mensch, sowie darüber hinaus an der übertrieben Betonung künstlicher Karzinogene und Umweltgiften im Vergleich zu genetischen und natürlichen Risiken überhaupt, die inzwischen in der seriösen Forschung weltweit unisono als die weitaus gefährlicheren angesehen werden. Die in der Folgenabschätzung der EU-Kommission getroffene Annahme, ein Prozent der gesamten Krankheitslast in der EU ginge auf künstliche Chemikalien zurück, ist daher nicht, wie die Kommission behauptet, „konservativ“, sondern schlichtweg falsch.

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