13.09.2019

Brexit: Eine Frage der Souveränität

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Magnus D via Flickr / CC BY 2.0

Die Verhinderungstaktik der Brexit-Gegner könnte in einem No-Deal Brexit enden. Ein demokratisches Grundprinzip wird ruiniert – die Volkssouveränität.

Das haben die Briten nun davon, dass das Volk entscheiden durfte – Chaos! Und obendrein auch noch einen Premierminister mit unverkennbarem Hang zur Despotie. So oder so ähnlich lauten aktuell viele Kommentare in den deutschen Medien. Der britische Premierminister Boris Johnson attackiere das Parlament und führe sich dabei auf wie ein „Volkstribun“, der vorgebe den Willen des Volkes zu repräsentieren. In Wahrheit strebe er danach, nach „Art der starken Männer in der Türkei, in Russland oder anderswo, ohne die lästige Einmischung der Parlamentarier regieren“ zu können. Er sei ein lächerlicher, unsinniger, skrupelloser und von Machansprüchen getriebener Regierungschef „auf Zerstörungskurs“. Sogar Vergleiche mit dem Untergang der Weimarer Republik scheinen Kommentatoren nicht mehr abwegig. Es gehe nun nicht mehr nur um den Brexit, sondern um die Zukunft der Demokratie in Großbritannien. Und nicht nur das: In London stehe das westliche Verständnis der repräsentativen Demokratie zur Disposition.

Auslöser für diese Angriffe, denen sich Johnson auch in Großbritannien ausgesetzt sieht, ist die von ihm durchgesetzte Beurlaubung des Parlaments. Die Beurlaubung erschien ihm offenbar günstig, um den Brexit gegen den Willen des Parlaments zu erreichen. Am Ende des letzten Sitzungstags vor der Parlamentspause quittierten dies die Parlamentarier, die den Brexit ablehnen, mit „SILENCED“ Plakaten. Sie protestierten, weil Johnson ihnen das Wort verbiete, und riefen den Regierungsmitgliedern bei deren Auszug „schämt euch“ hinterher. Das britische Parlament, Hort der Demokratie und Opfer despotischer Ambitionen?

Nicht ganz, glaubt Brendan O´Neill, Chefredakteur des britischen Online-Magazins spiked. Es sei eine Perversion, dass Mitglieder des Parlaments behaupten, sie seien mundtot gemacht worden. Sie hatten drei Jahre Zeit, um den Brexit umzusetzen und dafür die bei weitem längste Sitzungszeit eines britischen Parlaments seit dem Englischen Bürgerkrieg von 1642 – 1651 abgehalten, schreibt er. Dabei quasselten sie endlos und erfanden, so O´Neill „eine Entschuldigung nach der nächsten für ihr Versagen, den Brexit umzusetzen.“ Diese Ausreden dienten jedoch nur dazu, „die Aufmerksamkeit von ihrem atemberaubenden Versagen abzulenken, den Willen des Volkes zu respektieren.“ Nicht etwa das Parlament, sondern das Volk sei mundtot gemacht worden.

„Das große Problem des Brexits sind nicht etwa technische Umsetzungshürden, sondern politische Probleme.“

Mehr als drei Jahre sind vergangen, seit sich das britische Volk am 23. Juni 2016 entscheiden durfte, ob es weiterhin in der EU verbleiben oder diese verlassen will. Bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent entschieden sich damals 52 Prozent der Wähler für den Austritt aus der EU, immerhin 17,4 Millionen Menschen. Das große Problem des Brexits und damit letztlich verantwortlich für das Chaos, so die Publizistin Sabine Beppler-Spahl in „Brexit - Demokratischer Aufbruch in Großbritannien“, seien nicht etwa technische Umsetzungshürden, sondern politische Probleme. Diese resultieren aus der „Diskrepanz zwischen der EU-Skepsis der Wähler und ihren Vertretern im britischen Unterhaus“, die mit deutlicher Mehrheit den Brexit ablehnen.1 Zum Zeitpunkt des Referendums sprachen sich nur 158 Abgeordnete für den Brexit aus, 479 waren dagegen. An diesem Mehrheitsverhältnissen hat sich bisher nicht viel geändert. Zudem hat das Parlament diese Mehrheitsverhältnisse vorläufig zementiert. Gleich zwei Mal lehnten die Abgeordneten in den letzten Tagen den Antrag des Premierministers auf vorgezogene Neuwahlen ab. Damit verhindern sie, dass neu gewählte Abgeordnete den Willen des Volkes besser repräsentieren könnten, als dies gegenwärtig geschieht. Auch das eilig durchgeboxte Gesetz zur Verhinderung eines No-Deal Brexit zeigt, dass das Parlament darauf abzielt den ungeliebten Brexit möglichst zu vereiteln.

„Der EU-Austrittsvertrag führt zum Gegenteil dessen, wofür die Mehrheit des Volkes gestimmt hat.“

Das politische Problem des Brexits besteht jedoch nicht nur darin, dass das britische Parlament diesem ablehnend gegenübersteht, sondern dass – wie der Wahlkampf rund um die Brexit-Entscheidung vor drei Jahren gezeigt hat - auch das britische Establishment dem Brexit eher ablehnend gegenübersteht. Gleiches gilt für die anderen EU-Staaten sowie die britischen Beamten, die den Brexit-Vertrag in Brüssel vorbereiteten. Der Versuch, es allen Seiten recht zu machen, führte in den Verhandlungen mit der EU in eine Sackgasse. Im Austrittsvertrag ist die Souveränität Großbritanniens so sehr beschnitten, dass der mit dem Brexit verbundene Wunsch, von Brüssel weniger fremdgesteuert zu werden, ad absurdum geführt wird. Solange keine Lösung für die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gefunden ist, verbliebe Großbritannien ohne Gestaltungsrecht in der Zollunion, dürfte deswegen keine eigenen Handelsvereinbarungen mit anderen Ländern treffen und könnte nicht mehr ohne Zustimmung der EU aus diesem Arrangement austreten. Der zurückgetretenen Premierministerin Theresa May konnte es nicht gelingen, die Zustimmung für diesen „weichen Brexit“ zu erhalten. Er hätte im wirtschaftlichen Verhältnis zur EU vieles erhalten, die Souveränität der Briten aber sogar noch weiter beschränkt – kurz gesagt: das Gegenteil dessen, wofür die Mehrheit des Volkes gestimmt hat.

Die Verzögerungs- und Verhinderungstaktik des britischen Parlaments bewirkt eine zunehmende Polarisierung. Dies wurde offensichtlich, als sich im Januar die Brexit-Partei gründete und bei den Europawahlen im Mai aus dem Stand heraus mit 30,5 % der Stimmen stärkste Kraft wurde. Auch hat die Brexit-Partei aus den Erfahrungen der letzten Jahre den Schluss gezogen, dass ein Brexit-Vertrag, der das Papier Wert ist, auf dem er steht, im gegenwärtigen Rahmen nicht möglich ist. Sie sieht in einem No-Deal Brexit die einzige Möglichkeit, die Mitgliedschaft in der EU zu beenden. Ansonsten würde der Brexit weithin vereitelt oder verwässert durch diejenigen, die ihn auf der britischen wie auf der EU-Seite zwar verhandeln, aber selbst nicht wollen. Nigel Farage, der Chef der Brexit-Partei, hat Johnson inzwischen für die nächsten Unterhauswahlen einen Wahlpakt zur Durchsetzung eines No-Deal Brexits angeboten. Falls es tatsächlich dazu käme, wäre nach gegenwärtiger Stimmungslage eine Mehrheit der No-Deal Brexit Befürworter in einem zukünftigen britischen Unterhaus nicht unwahrscheinlich.

Der politische Dissens zwischen den britischen Wählern und der Mehrheit im Parlament stellt die britische Demokratie auf eine harte Probe. In einem Kommentar der FAZ betont Peter Sturm, dass das westliche System der repräsentativen Demokratie die direkte Demokratie nicht vorsieht. Genau diese jedoch habe der ehemalige britische Premierminister David Cameron inszeniert, als er 2015 ein Referendum ausgerufen hat. Er habe damit ungewollt die Systemfrage gestellt: „Wessen Wille soll eigentlich gelten? Ist das Votum von 17 Millionen Frauen und Männern (…) deren Entscheidung auch durch gezielte Falschbehauptungen der Brexit Befürworter beeinflusst wurde, in Stein gemeißelt? Oder hat nicht das Parlament – unter Berücksichtigung des Stimmungsbildes von 2016 – das letzte Wort?“ Der Umgang mit dem Wählervotum ist tatsächlich die Gretchenfrage der Demokratie, die Sturm mit der hier von ihm zum Ausdruck gebrachten Desavouierung des Votums der britischen Brexit-Wähler zu beantworten versucht. Entscheidend ist die Frage, wen man in einer Demokratie als Souverän betrachtet, auf wen letztlich die Staatsgewalt zurückgeht. Im deutschen Grundgesetz steht: „Alle Macht geht vom Volke aus“.

Wie das Brexit-Chaos zeigt, gilt dieser Souverän weder in Großbritannien noch in der öffentlichen Meinung in Deutschland besonders viel. Dies zeigt sich daran, dass die britischen Abgeordneten dieses Wählervotum nicht umsetzen, obwohl bei der Brexit-Abstimmung sogar explizit ein Element der direkten Demokratie mit eindeutigem Abstimmungsergebnis genutzt wurde. In der deutschen Öffentlichkeit wird diese Haltung fast überall verteidigt. Barbara Wesel von der Deutschen Welle meint, dass das britische Parlament eine souveräne Entscheidung zu treffen habe: „Die Volksvertreter sind keine reinen Vollstrecker des Mehrheitswillens ihrer jeweiligen Wahlkreise. Sie sind den Bürgern und dem Gemeinwohl nach bestem Wissen und Gewissen verpflichtet.“ Noch deutlicher wird die Neue Züricher Zeitung (NZZ). Peter Rásonyi meint, die „stolze Mutter aller Parlamente“ habe, als es das EU-Referendum zuließ, bereits die „eigene Souveränität beschnitten. Sie ließ zu, dass ein alternatives Entscheidungsorgan, das Volk, direkt über die Zukunft des Vereinigten Königreichs entschied“. Völlig unterschlagen werde, „dass das Parlament nach britischer Rechtstradition der Souverän ist, der frei über die Gesetzgebung entscheidet.“ Dieses Recht, so Rásonyi, müsse sich das britische Parlament zurückerobern. Den ersten Schritt hierzu habe es immerhin getan durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Verhinderung eines No-Deal Brexit und die Zurückweisung von Johnsons Forderung sofortiger Neuwahlen.      

„Auch in Deutschland ist es zu einer Abschottung und Loslösung des demokratischen Willensbildungsprozesses vom Souverän – dem Volk gekommen.“

Das heute vorherrschende Demokratieverständnis stützt die von Rásonyi dargelegte Auffassung. Es geht zurück auf die Vorstellungen des geistigen Vaters des Konservatismus, Edmund Burke, der zur Zeit der französischen Revolution im Meinungsstreit mit dem radikalendemokratischen Denker und Revolutionär Thomas Paine lag. Burke argumentierte, dass die herrschende Elite, wenn sie sich schon Wahlen unterziehen musste, über den Massen stehen sollte, um die Gesellschaft in eine Richtung zu führen, die sie selbst am geeignetsten für die Gesellschaft hielt. Wie der britische Publizist Mick Hume argumentiert, prägt der Ausgang dieser Diskussion das Demokratieverständnis bis heute.2 Im Rahmen einer repräsentativen Demokratie, wie in Großbritannien oder in Deutschland, lässt sich daher argumentieren, dass die Parlamentarier nicht nur ihrem eigenen Gewissen, sondern auch dazu verpflichtet sind, zum Besten der Gesellschaft zu handeln und nicht in erster Linie dem Willen des Volkes zu gehorchen.

In dem vom Brexit Votum ausgelösten Demokratie-Chaos zeigt sich dieser elitäre Anspruch der Volksvertreter im britischen Unterhaus. Sie glauben – abweichend vom Wählervotum – besser zu wissen, was das Richtige für die Gesellschaft ist. Wie die Entwicklung der letzten Monate zeigt, regieren sie auf den Druck, den nicht zuletzt die Brexit-Partei aufgebaut hat, nicht etwa mit einer offenen Auseinandersetzung – zum Beispiel Neuwahlen – sondern mit einem Rückzug und geradezu einer Abschottung vom Wähler. Diese Reaktion ist eine auch in Deutschland zu beobachtende Tendenz, wo sich die Politik in „nahezu allen Bereichen von den konkreten, größtenteils materiellen Interessen der Bevölkerungsmehrheit entkoppelt hat“ und es zu einer Abschottung und Loslösung des demokratischen Willensbildungsprozesses und der demokratischen Institutionen vom Souverän – dem Volk gekommen ist, wie einige Novo-Redaktionsmitglieder und ich in dem gerade erschienenen Buch „Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie“ analysieren.3 Im Versuch, die perforierte Bindung zum Wähler zu verbessern und politische Entscheidungen mit mehr Legitimität zu versehen, verschärft sich diese Loslösung sogar. So werden Entscheidung oder deren Vorbereitung wie selbstverständlich zunehmend an unabhängige Expertengremien, politisch unabhängige Institutionen oder supranationale Organisationen delegiert oder übertragen. Es gerät zunehmend aus dem Blick, dass das Parlament seine Autorität vollständig von den Menschen erhält, die es wählen und in seinem Handeln diesen gegenüber rechenschaftspflichtig sein muss.

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