18.03.2011

Deutsche Borniertheit im Angesicht der japanischen Tragödie

Kommentar von Heinz Horeis

Heinz Horeis versucht die Naturkatastrophe und die Ereignisse in Fukushima historisch einzuordnen. Die japanische Gesellschaft wird am Risiko realer Naturkatastrophen und möglicher atomarer Katastrophen nicht zerbrechen. Beschämend und borniert sind hingegen deutsche Reaktionen

DDR-Bürger sahen Westfernsehen, wenn sie verlässliche und ideologiefreie Informationen suchten. Heute, angesichts der Erdbebenkatastrophe in Japan, muss man schon online zu BBC, New York Times oder Neue Zürcher Zeitung wechseln, wenn man einigermaßen sachlich, unaufgeregt und vor allem mit Empathie für die Menschen des von Erdbeben, Tsunami und havarierten Reaktoren heimgesuchten Landes informiert werden möchte. Spiegel online habe ich schon sehr bald von der Startseite meines Internetbrowsers gestrichen – zu viel schludriger, hektischer Kampagnenjournalismus, immer fokussiert auf die “atomare Katastrophe”, Forumsdiskussionen, in denen Kernkraftgegner mit ihrer klammheimlichen bis unverhohlenen Freude (“Wer Wale fängt, hat es nicht besser verdient”) über die havarierten japanischen Reaktoren nicht hinter dem Berg hielten.

Nicht besser die vielen Talkrunden im Fernsehen. Hier, man muss es schon so nennen, “suhlten” sich Vertreter von Greenpeace ebenso wie Politiker der Grünen und der SPD in der Katastrophe, die so schön weit weg und so schön für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren ist. Bis auf wenige Ausnahmen (etwa Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar) wurde auf beklagenswert niedrigem Niveau geschwätzt. Ein Tiefpunkt die rothaarige Wohlstandsrentnerin, die bei Anne Will dem japanischen Botschafter vorhielt, dass sein Land doch auf Wind und Sonne hätte setzen können und die mit eitler Bräsigkeit betonte, dass bei ihr nur “grüner Strom” ins Haus komme. (1)

Natürlich wurde in der deutschen Debatte sofort und vor allem Tschernobyl als Vergleich zum Kraftwerk Fukushima 1 herangezogen. Katastrophenmäßig gibt das Ereignis von 1986 am meisten her. Sehr selten der Vergleich mit dem amerikanischen Reaktorunfall von Three-Mile-Island (TMI) aus dem Jahre 1979. Fukushima wird zwischen TMI und Tschernobyl liegen; wo genau, wird man in den kommenden Tagen wissen. Je näher an TMI, umso besser. Denn TMI demonstrierte, dass die Reaktortechnik einen GAU bewältigen kann. Im amerikanischen Reaktor, einem Siedewasserreaktor wie die Reaktoren von Fukushima, kam es, aufgrund von Bedienungsfehlern, zu einer partiellen Kernschmelze; relativ kleine Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt. Der Reaktor war anschließend Schrott, aber es gab keinen Toten.

Die EPA, die amerikanische Umweltbehörde, stellte abschließend fest: “The accident did not raise radioactivity far enough above background levels to cause even one additional cancer death among the people in the area. The EPA found no contamination in water, soil, sediment or plant samples.”

Anders der Tschernobyl-Reaktor, der im Gegensatz zu den Reaktoren in TMI und in Fukushima keine Sicherheitshülle besaß. Hier explodierte der Reaktor, ebenfalls aufgrund von Bedienungsfehlern, in vollem Betrieb und setzte immense Mengen an radioaktiver Strahlung und Material frei. Über die Zahl der Opfer wurde viel spekuliert. Von zehn-, ja hunderttausend Toten war die Rede, und solche Zahlen kursieren immer noch. Die verlässlichsten Angaben liefert ein von der UNO im September 2005 veröffentlichter Bericht. Danach sind etwa fünfzig der Reaktorarbeiter (der “Liquidatoren”) kurz nach ihrem Einsatz gestorben, ebenfalls neun (von 4000) an Schilddrüsenkrebs erkrankte Kinder. Die Zahl der Opfer unter den Arbeitern und in der Bevölkerung, die nachträglich an den Folgen des Reaktorunglücks sterben könnten, schätzen die Wissenschaftler auf bis zu 4000. Sie weisen auch darauf hin, dass in der Region Armut, “Lifestyle”-Erkrankungen (wohl vor allem Alkoholismus) und psychische Probleme ein größeres Lebensrisiko darstellten als die Strahlenbelastung.

Irgendwo zwischen Tschernobyl und TMI dürften die Folgen von Fukushima liegen. Man sollte hoffen, dass dieses “irgendwo” näher an TMI als an Tschernobyl liegt. Einige Gründe sprechen dafür. So haben die japanischen Reaktoren Sicherheitshüllen, und sie sind abgeschaltet, laufen also nicht unter Volllast, wie 1986 der russische Reaktor. Das mindert die Gefahr einer explosiven Freisetzung großer Mengen radioaktiven Materials wie in Tschernobyl. Dafür haben es die japanischen Reaktorarbeiter allerdings mit sechs Reaktoren zu tun, die in unterschiedlichem Maß und auf unterschiedliche Weise defekt sind. Große Probleme bereiten auch abgebrannte Brennelemente, die bei zwei Reaktoren in Abklingbecken lagern. Viel kann passieren und es wird noch etliche unruhige Tage, wenn nicht Wochen, dauern, bis man weiß, was.

Zwei Dinge aber kann man festhalten. Erstens haben wir in Japan derzeit keine “Atomkatastrophe” oder “atomare Apokalypse”. Die Dinge könnten sich dahin entwickeln, müssen sie aber nicht. Wir haben in Fukushima Reaktoren, die zum Teil zerstört und außer Kontrolle geraten sind. Die verbliebenen Beschäftigten versuchen derzeit, die Kontrolle wiederzugewinnen. Sie verdienen die Bezeichnung “Helden” in jeder Beziehung. Aus den Reaktoren treten radioaktive Strahlung und radioaktives Material aus, immer mal wieder auch in einer Intensität, die Gesundheit und Leben der Arbeiter dort akut gefährdet. Diese Freisetzung dürfte das, was bei TMI freigesetzt wurde, übersteigen; sie scheint sich aber auf das Kraftwerk und die unmittelbare Umgebung zu beschränken. Von einer atomaren Verseuchung à la Tschernobyl zu sprechen, ist nicht angemessen.

Zweitens: Fukushima ist der Herd einer möglichen Katastrophe. Die reale Katastrophe ist allerdings schon längst da. Japanische Rettungstrupps haben inzwischen etwa 6500 Tote gefunden. Viele tausend werden noch vermisst. Am Ende werden die Suchtrupps wohl mehr als zehntausend Opfer von Erdbeben und Tsunami geborgen haben, und viele weitere werden für immer vermisst bleiben. Das ist die wirkliche, die große Tragödie, die über Japan hereingebrochen ist und immer noch andauert. Diese Katastrophe lässt sich in der deutschen Politik und Medienwelt nicht so schön instrumentalisieren wie der rauchende Reaktor von Fukushima 1, den der Spiegel auf dem Titelbild hat; Überschrift: “Das Ende der Atomenergie”. Das ist, höflich gesagt, geschmacklos. Die Redakteure sollten sich schämen. Es ist Ausdruck einer bornierten Sichtweise, die deutsche Befindlichkeiten zum Maß aller Dinge macht. Es ist eine blamable Reaktion.

Auch andere blamieren sich: Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Westerwelle setzen die Laufzeitverlängerung, die sie gerade beschlossen haben, erst einmal wieder außer Kraft. Ältere Kernkraftwerke sollen vom Netz. In Baden-Württemberg legt Ministerpräsident Mappus Neckarwestheim und Philippsburg erst einmal still. Niemand sonst macht das. Dieser Aktionismus ist genauso intelligent, als würde man nach dem Absturz eines Flugzeuges erst einmal alle anderen Flugzeuge auf dem Boden lassen, um zu schauen, ob man etwas Unsicheres findet. Bei den Gebrüdern Grimm läuft dies unter der Rubrik “Schwabenstreich”. Es ist einfach strohdoof. Vernünftigerweise schaut man zunächst einmal, warum das Flugzeug abgestürzt ist, bevor man an den anderen herumdoktert.

Was im Detail beim Fukushima-Vorfall (2) abgelaufen ist, wird man erst in ein paar Monaten wissen. Aber ein paar Dinge lassen sich schon sagen, auch wenn noch viel Spekulation dabei ist. Im Erdbebengebiet gibt es 14 Reaktoren, die sich bei dem Erdbeben automatisch abgeschaltet haben. Da scheint, inklusive Kühlung, zunächst alles wie geplant funktioniert zu haben, und das bei einem Erdbeben, das mit Stärke 9 für Japan in die Kategorie “Jahrhundertereignis” einzuordnen ist. Auch in Fukushima funktionierten Abschaltung und Notkühlung anfänglich wie vorgesehen. Offenbar sind die japanischen Kernkraftwerke auch für stärkste Erdbeben hinreichend ausgelegt. Das belegt auch das starke Beben (Stärke 6), das am Dienstag den Bezirk Shizuoka südlich von Tokio heimsuchte. Die drei Kernkraftwerke dort funktionieren normal und liefern weiterhin Strom.

Das wäre wohl auch in Fukushima der Fall gewesen, wenn es nicht die Welle gegeben hätte. Eine Stunde nach dem Beben traf der Tsunami mit bis zu zehn Meter hochgetürmten Wassermassen auf die Küste im Nordosten der japanischen Hauptinsel und brachte der Region immense Zerstörungen. Das starke Erdbeben hat das Land bewundernswert gut wegstecken können, nicht aber den Tsunami. Der Tsunami war es auch, der in Fukushima 1 die Generatoren für die Notkühlung außer Gefecht setzte.

Haben denn die Japaner fahrlässigerweise für den Fall eines Tsunami nicht vorgesorgt? Kaum vorstellbar. Fährt man an Japans Küsten entlang, sieht man da, wo Menschen siedeln, überall Vorrichtungen zum Schutz vor Tsunamis. Der Tsunami vom Freitag allerdings war schlicht zu gewaltig. Der britische Seismologe Dr. Roger Musson vom British Geological Survey (BGS) hat ihn für Japan als “Jahrtausendereignis” eingeordnet, vergleichbar mit dem “Jogan”-Tsunami aus dem Jahr 869. Damals, so haben japanische Wissenschaftler gefunden, war die Flut bis zu vier Kilometer weit ins Land vorgedrungen.

Jetzt könnte man natürlich sagen, dass die Planer des Kraftwerks die Anlage gegen zehn Meter hohe Wellen hätten härten müssen, und vielleicht wird man das in Zukunft auch machen. Es ist wohl auch ein psychologisches Problem: Hätten die Planer das seltene Ereignis von zehn Meter hohen Wellen in Betracht gezogen, hätten sie akzeptieren müssen, dass sie einen großer Teil der japanischen Küste und damit die großen Ballungsgebiete eben nicht schützen können. (3) So ist es jetzt ja auch geschehen, auch wenn es zum Glück nicht die wirklich großen Stadtkonglomerate getroffen hat.

Das Restrisiko ist immer abstrakt und nicht vorhersehbar. Im Fall Fukushimas scheint es sich auf ein Jahrtausendereignis zu reduzieren. Eine Gesellschaft wie die japanische, wo viel größere Risiken immer allgegenwärtig waren und sind, wird daran nicht zerbrechen.

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