27.03.2023

Beklagen wir uns zu viel?

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: via Pexels (CC0)

Einiges wird transformiert, anderes bleibt gleich. Die meisten in Deutschland können den Wandel halbwegs verkraften. Vielen Menschen auf der Welt geht es schlechter als uns. Warum also klagen?

Berlin hat am Sonntag abgestimmt, über einen Klima-Volksentscheid. Ich bin nicht hingegangen und habe mich mit den konkreten Forderungen nicht beschäftigt. Ein Freund sagte, die Initiatoren hätten gar nicht erklärt, wie sie ihr Ziel der „Klimaneutralität bis 2030“ denn überhaupt erreichen wollen. Genauso gut hätten sie ein Pony und ein Haus aus Gold für jeden Berliner fordern können. Die Kampagne erinnere ihn an das magische Denken von Stalins Lieblings-Agrarwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko, der fest davon überzeugt war, die Genetik sei eine bürgerliche Lüge, und die Bananenpflanze könne am Polarkreis gedeihen, wenn man ihr nur den richtigen Klassenstandpunkt vermittle.

Bei rbb24 lese ich, dass „noch nie ein Berliner Volksentscheid so viel Geld zur Verfügung hatte“ wie „Berlin 2030 klimaneutral“. Satte 1,2 Millionen Euro an Spenden hätten die Initiatoren eingetrieben. Mit Abstand größter Geldgeber für die Kampagne sei ein deutsch-amerikanisches Ehepaar, das im US-Bundesstaat New York lebt. Fast eine halbe Million Euro hätten Albert Wenger und Susan Danziger über ihre Familienstiftung „Eutopia“ überwiesen. Wenger sei durch Risikokapital-Geschäfte reich geworden. Das Ehepaar unterstützt auch Projekte für ein bedingungsloses Grundeinkommen in den USA und Deutschland.

Sie meinen es sicher gut. Das sage ich ausnahmsweise mal ganz und gar ohne Sarkasmus.

Im Supermarkt kostet alles etwa ein Viertel mehr als früher. Aber ich hungere nicht. Den Ukrainern geht es viel schlechter als mir. Auch das meine ich ohne Sarkasmus.

„Eine Immobilie zu besitzen ist kein Menschenrecht.“

Ein Freund hatte im Winter 600 Euro Heizkosten im Monat. Faktisch eine zweite Miete für die Gasheizung.

Wir leben alle im Klima, sagen Wissenschaftler. Und das Klima verhandelt nicht.

Der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer, „Haus & Grund“, warnt: Das geplante Verbot von Öl- und Gasheizungen und der damit verbundene Sanierungszwang zerstört die Altersvorsorge vieler Menschen. „Die meisten Eigenheimbesitzer haben über die Jahre hinweg ihr ganzes Vermögen in ihre Immobilie investiert“, so Verbandschef Kai Warnecke gegenüber der Bild. Daneben blieben „keine Ersparnisse, um jetzt solche Sanierungen zu bezahlen. Viele Menschen wären schlimmstenfalls gezwungen, ihr Haus zu verkaufen. Finanzielle Lebensplanungen werden so mutwillig und ohne Rücksichtnahme durchkreuzt.“

Nun, eine Immobilie zu besitzen ist kein Menschenrecht.

Laut der Deutschen Automobil-Treuhand (DAT) kostete ein Neuwagen vergangenes Jahr im Durchschnitt 42.790 Euro, ein Anstieg von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das durchschnittliche Jahresnettogehalt eines deutschen Arbeitnehmers liegt bei 26.868 Euro. Auch die Gebrauchtwagenpreise explodieren. Branchenexperten der Deutschen Bank fürchten, dass der Durchschnittsbürger Gefahr laufe, „sich kein Auto mehr leisten zu können“.

Nun, ein Auto zu haben ist kein Menschenrecht.

Vor ein paar Jahren zogen Millionen Franzosen gelbe Warnwesten an und protestierten. Sie waren wütend, weil die Regierung das Tanken deutlich teurer machen wollte, und man in der ländlichen Normandie oder im Zentralmassiv nicht einfach in eine Metro steigen kann, wenn man irgendwo hin will. Die Regierung machte einen Rückzieher.

„Ein Auto zu haben ist kein Menschenrecht.“

In meinem Auto haben sich vier dieser grellen Dinger angesammelt, die auch in Deutschland Pflicht sind, zwei in Orange und zwei in Gelb. Zu Demonstrationszwecken im buchstäblichen Sinne werde ich sie wohl nicht brauchen. Die Deutschen sind kein aufmüpfiges Volk. Wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich vorher noch eine Bahnsteigkarte, wusste schon Lenin.

Das Auto gehörte vorher meinem Vater. Er ist demenzkrank und lebt in einer Pflegeeinrichtung, die ganz in Ordnung ist. Die Krankenkasse übernimmt einen Teil der Kosten, es bleibt ein Selbstkostenbeitrag von rund 2300 Euro im Monat. Zum Glück bezieht mein Vater als Professor a.D. ein recht großzügiges Ruhegehalt. Das hat nicht jeder.

„Wie eine fünfköpfige Familie glücklich in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt“, titelt die F.A.Z. Der Artikel ist hinter eine Bezahlschranke, die dazugehörige Fotostrecke nicht. Ich klicke sie halb neugierig, halb gelangweilt durch. „Minimalismus: ‚Mein Besitz passt in zwei Handgepäckstücke‘“, titelt der NDR. Der Artikel ist nicht hinter einer Bezahlschranke, aber ich habe keine Lust, ihn zu lesen.

BASF streicht 2500 Jobs in Ludwigshafen, berichtet der SWR. Das liege vor allem an den „explodierenden Energiekosten“ in Europa. Der Konzern wolle jetzt „vor allem außerhalb von Deutschland und Europa investieren – vor allem in Asien“, so der SWR weiter. Gut, der Unternehmenssitz bleibt in Ludwigshafen. In anderen Ländern gibt es nicht einmal milliardenschwere Technologiekonzerne wie die BASF. Nepal, Bhutan und San Marino haben zum Beispiel keinen einzigen.

„Draußen öffnen sich die Blütenknospen. Es ist wieder Frühling.“

Zahlreiche mittelständische Autozulieferer wollen wegen der gestiegenen Energiekosten je hunderte Stellen in Deutschland abbauen, oder haben das bereits getan. Wen es interessiert, der suche auf Google. Für die Beschäftigten der Marelli Automotive Lightning in Thüringen will die IG Metall nun einen Sozialplan aushandeln, meldet der MDR.

China hat 2022 den Bau neuer Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 106 Gigawatt genehmigt, berichtet tagesschau.de. Das entspreche in etwa zwei großen Kraftwerksblöcken pro Woche.

Frankreichs Treibhausgasemissionen sind um 45 Prozent niedriger als die deutschen, steht in einem Artikel auf der seriös wirkenden Webseite Energy BrainBlog, der nur so vor Fakten, Zahlen und Infografiken strotzt. 443 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente pro Jahr für Frankreich, gegenüber 800 Millionen Tonnen in Deutschland. Ein Franzose produziert demnach durchschnittlich 6,5 Tonnen CO₂-Äquivalente pro Jahr, ein Deutscher 9,6 Tonnen.

Die sehr unterschiedliche Bilanz sei vor allem auf die Kernenergie zurückzuführen, die in Frankreich 43 Prozent des Primärenergieverbrauchs ausmache, gegenüber sechs Prozent in Deutschland, schreibt der Autor. In Frankreich befinden sich derzeit sieben neue Kernkraftwerke im Bau oder in Planung, im Jahr 2050 will der Staat prüfen, ob noch acht weitere dazu kommen.

Eine Gasmangellage ist nicht eingetreten. Draußen öffnen sich die Blütenknospen. Es ist wieder Frühling.

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