18.08.2014

„Autorität und Freiheit gehen Hand in Hand“

Interview mit Frank Furedi

Westlichen Kulturen fällt es heute sehr schwer, dem Begriff Autorität etwas Positives abzugewinnen, so der britische Soziologe Frank Furedi in seinem aktuellen Buch Authority: A Sociological History. Tim Black, Redakteur des Novo-Partnermagazins Spiked, hat mit ihm gesprochen

Es fällt uns leichter, Autorität, sei es die von Politikern oder öffentlichen Institutionen, in Frage zu stellen, als sie zu akzeptieren. In Authoritiy geht Frank Furedi diesem Phänomen auf den Grund. Er verfolgt die Entwicklung der Autorität bis zu ihrer Entstehung in der Antike zurück und untersucht, wie sie an Form und Bedeutung gewann, und wie sie sich in der Moderne zu rekonstruieren versucht.


Eine simple Frage zu Anfang: Was ist Autorität, und warum ist sie wichtig?

Sehen Sie sich um. Einige der mächtigsten Institutionen der Welt, einige der mächtigsten Länder der Welt, scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Ziele durchzusetzen. Ein gutes Beispiel ist die amerikanische Außenpolitik. Diese Großmacht ist oft rat- und fassungslos über ihre Rückschläge und Niederlagen gegen weitaus schwächere Gegner. Anderswo gibt Bespiele scheinbar vollkommen willkürlicher Machtausübung. Warum hat eine Nation so gehandelt, warum hat sie in diesem Land interveniert, aber nicht in jenem? Der Grund ist, dass hier Macht ohne Sinn und Zweck ausgeübt wird. Das verweist auf die Abwesenheit von Autorität, denn Autorität ist nicht einfach nur Macht: Sie ist die Bedeutung, die der Macht zugeschrieben wird; Autorität verleiht Macht eine Richtung und Klarheit.


Es gibt in der heutigen Zeit ganz offensichtlich zahlreiche Beispiele von Machtausübung ohne Bedeutung. Wann war das anders? Wann wurde Macht bedeutsam ausgeübt?

Ein gutes Beispiel wäre Napoleon. Da gab es ein klares Ziel, bei dem es nicht nur darum ging, einfach in den Krieg zu ziehen, sondern einen Krieg zu führen, der bedeutsam war. Napoleon begeisterte und schaffte Vertrauen in das, was er tat. Es gibt auch Beispiele aus jüngerer Zeit. Beim Kampf gegen den Faschismus während des Zweiten Weltkriegs hatten die Menschen ein klares Ziel vor Augen, deshalb wurde er ungewöhnlich stark unterstützt.

„Ich denke viele sind sich einig, dass die Erosion von Autorität ein Problem ist.“


In der Einleitung zu Authority sticht ein Zitat der Autorin Hannah Arendt hervor, wonach die „Krise der Autorität“ ein wesentliches Merkmal der Moderne – insbesondere des 20. Jahrhunderts - sei. [1] Denken Sie also, wir befinden uns in einer „Krise der Autorität“?

Ich würde nicht zwingend den Begriff „Krise“ verwenden – er wird überbeansprucht – aber ich würde sagen, es gibt ein fundamentales Problem mit der normativen Grundlage gesellschaftlicher Vereinbarungen und Beziehungen, die ja das Rohmaterial der Autorität sind. Ich denke viele sind sich einig, dass die Erosion von Autorität ein Problem ist. Selbst antiautoritäre Denker erkennen das an. Aber sie weichen oft mit dem Argument aus, dass wir auch ohne Autorität auskommen würden. Ob man es als Krise der Autorität bezeichnen will oder nicht, es wird versucht der Tatsache aus dem Weg zu gehen, dass hier gravierendes Problem angegangen werden muss.


Wie Sie schon sagen, scheint die Auffassung verbreitet zu sein, dass Autoritätsausübung heutzutage ein Problem ist. Dennoch gibt es gleichzeitig wenige konkrete Diskussionen zu diesem Thema. Glauben Sie, das Problem der Autorität wird vernachlässigt?

Ja, absolut. Das ist mir beim Schreiben des Buches wirklich aufgefallen. Autorität ist wahrscheinlich der zentrale Begriff der Politischen Theorie des Westens. Seit Jahrhunderten steht er im Mittelpunkt vieler wichtiger Debatten. Sogar die Theoretiker, die Autorität kritisch hinterfragen und ihren Status einschränken wollen, nutzen Autorität dennoch als zentrales Konzept.

Aber seit der Zwischenkriegszeit gibt es eine klare intellektuelle Tendenz, alle möglichen Substitute für Autorität zu entwickeln, um ohne diese wichtige Kategorie auszukommen. In der Soziologie, der Disziplin aus der ich komme, ist das besonders auffällig. Dort gerät das Problem der sozialen Ordnung, also das Grundproblem der Soziologie, mehr und mehr aus dem Blick und wird letztlich ganz gemieden. Eine Reihe Soziologen behaupten, Autorität sei nicht mehr relevant für unsere Zeit, und unternehmen den halbherzigen Versuch, das Autoritätsproblem zu verlagern, entweder durch eine Theorie negativer Autorität oder indem sie es zu einem Problem des Vertrauens umdefinieren. So wird das Autoritätsproblem von einem Problem grundlegender, für die Gesellschaft konstituierender Normen zu einem Problem der Psychologie und Einstellung des Einzelnen umdefiniert.


Könnten Sie näher auf das Problem der sozialen Ordnung eingehen?

Es geht eigentlich darum, wie Gesellschaft möglich ist. Thomas Hobbes behandelt das Thema ausgiebig: Wie kann man Ordnung in einer Gesellschaft herstellen, in der die Menschen verschiedene Interessen haben und die Religion nicht mehr als Weltanschauung oder Konsens dient? Wie bringt man Menschen dazu, zu kooperieren und bestimmte gemeinsame Annahmen zu akzeptieren? Man kann die Ordnungsfrage in den religiösen Konflikten des 18. Jahrhunderts, im Problem des Klassenkonflikts im 19. Jahrhundert und im Konsenszerfall des 20. Jahrhunderts erkennen. Das Problem der sozialen Ordnung – also auf welcher Moral wir die Gesellschaft errichten - war in der Vergangenheit das Thema, mit dem sich viele politische Denker hauptsächlich beschäftigten. Aber mittlerweile wurde es in einem eingeschränkten, technischen Sinne umdefiniert, als ein Problem des sozialen Zusammenhalts zum Beispiel, oder als Problem des Vertrauens. All diese Ausweichmanöver ignorieren die entscheidende Grundlage sozialer Ordnung.

„Die Antwort der Elite bestand darin, die Menschen zu pathologisieren, ihr Urteilsvermögen in Frage zu stellen“


Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie der Bruch mit Tradition und Vergangenheit als Quelle der Staatsgewalt dazu führte, dass politische Denker wie Thomas Hobbes oder John Locke versuchten, Autorität durch den Begriff des öffentlichen Konsenses zu begründen – das scheint ein entscheidender Wendepunkt in der Auffassung von Autorität zu sein. Aber wie Sie auch schreiben, wurde über die letzten 200 Jahre der öffentliche Konsens als Quelle der Autorität zum Problem. Warum das?

In der Antike nahm man an, öffentliche Zustimmung sei notwendig für die Ausübung staatlicher Autorität. Gleichzeitig wurde sie aber als eine unzuverlässige Form der Legitimation gesehen, einfach deshalb, weil man es bei der Konsensbildung mit einer potenziell Unordnung stiftenden Kraft zu tun hat. Wie ich im Buch erwähne, entsteht die anti-demokratische Theorie, von Platon oder Aristoteles, vor der demokratischen Theorie. Die athenische Elite war sich der Bedrohung, die vom öffentlichen Konsens ausging, sehr bewusst. Sie verstand, dass Demagogen oder Leute, die große Versprechungen machen, sehr wohl ihren Einfluss mindern könnten. Und manchmal geschah das auch. Die Antwort der Elite bestand darin, die Menschen zu pathologisieren, ihr Urteilsvermögen in Frage zu stellen. Die negative Darstellung der öffentlichen Meinung und Partizipation hat ihren Ursprung also im antiken Griechenland. In der Moderne ist die demokratische Theorie weitaus positiver besetzt. Aber Beispiele wie Jean-Jacques Rousseau oder sogar Robespierre zeigen, dass selbst hier die Rolle des Volkes immer beschränkt ist – es gibt immer Gewaltenteilung Es gibt nur wenige – Thomas Paine ist sicherlich einer –, die sich ganz klar für den öffentlichen Konsens als einzige Quelle der Autorität aussprechen. Alle anderen gehen auf Nummer sicher.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hofften viele Liberale und Utilitaristen darauf, die Menschen durch Kultur und Bildung zur Demokratie zu befähigen. Aber kaum entdecken Liberale diese Ideen, schon forderten die Menschen Wahlreformen, das Wahlrecht, usw. Deshalb nahmen die Liberalen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Demokratie zunehmend als Bedrohung wahr.


An diesem Punkt findet was Sie als „Pathologisierung der Massen“ bezeichnen statt, und es kommen Theorien über die grundlegende Irrationalität des Menschen, seine unbewussten Triebe, usw. auf.

Ja. Tatsächlich gibt es im 18. Jahrhundert schon Anzeichen dafür. Der Philosoph David Hume äußerte sich 1741 in Of the Liberty of the Press sehr positiv über die Pressefreiheit. Aber als dieser Essay 1770 nach zwei Jahrzehnten fortlaufender sozialer Unruhen, darunter die besonders besorgniserregenden Wilkes Aufstände für die Pressefreiheit, erneut veröffentlicht wurde, bezeichnete Hume die Pressefreiheit nur noch als ein notwendiges „Übel“. Gegen Ende des Jahrhunderts fand natürlich die Französische Revolution statt, die aus der Sicht vieler Intellektueller und Beobachter in Europa von einem zutiefst neidischen und selbstsüchtigen Mob ausgelöst wurde. Sie wurde als unbändige Kraft, als Bedrohung und Gefahr aufgefasst. In England war man zuversichtlicher, dass der Status quo die Massen unter Kontrolle halten könnte– wie man bei James Mill und anderen utilitaristischen Autoren lesen kann. Aber sehr bald fingen prominente Denker und Politiker an zu argumentieren, nur der gebildete Teil der Gesellschaft sei vertrauenswürdig, also Menschen, die sich verantwortungsbewusst verhalten. Man wollte ein politisches System kultivieren, das stetig die verlässlicheren Teile der unteren Gesellschaftsschichten integriert und gleichzeitig den Einfluss der Linken eindämmt. Genau zu dieser Zeit kommen Theorien über Massenpsychologie auf, die das Verhalten von Gruppen als irrational darstellen.

„Was die Kritiker letztendlich sagten ist, dass die Massen selbst schon fast instinktiv autoritär seien.“


Was geschah im 20. Jahrhundert mit dem Autoritätsgedanken? Warum wurde Autorität nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch zum Schimpfwort?

Leute, die glauben, dass Autorität die individuelle Autonomie einschränkt, haben sie schon immer kritisiert. Aber das Interessante ist, dass ab dem späten 19. Jahrhundert ein neuer Begriff auftauchte: „Autoritarismus“. Zuvor war das Wort „autoritär“, wenn es überhaupt verwendet wurde weitestgehend neutral, manchmal auch positiv besetzt. Aber im 20. Jahrhundert begann man den Ausdruck im abwertenden Sinne zu verwenden und Autorität selbst wird zu einem Synonym für „Autoritarismus“. Der Hauptgrund dafür ist die nach Kriegsende weitverbreite Auffassung – unter Linken wie auch Konservativen –  wonach das Volk eine leichte Beute für autoritäre Diktatoren wie Hitler oder Mussolini sei. Die Theorien dazu sind natürlich etwas subtiler, aber die zugrunde liegende Annahme ist, dass die Massen von autoritären Führern mittels Propaganda leicht verführt werden können. Gegen solche Tricks haben die armen alten Demokraten mit ihren verkopften Argumenten natürlich keine Chance. Was die Kritiker letztendlich sagten ist, dass die Massen selbst schon fast instinktiv autoritär seien.


Eine Gesellschaft braucht aber immer noch eine wesentliche Grundlage - eine Quelle der Legitimität, ein Fundament. Wie kann es sie noch geben, wenn Autorität quasi zum Unwort geworden ist?

Ja, auch in der Nachkriegszeit musste eine Gesellschaft noch immer irgendwie organisiert und ihre Institutionen legitimiert sein. Der öffentliche Konsens als Grundlage von Autorität ist eine Option, die aber in der Realität nie wirklich zu finden ist ( Die Demokratietheorie hat sich in der Nachkriegszeit überhaupt nicht weiterentwickelt. Theorien, die Demokratie eingeschränkt sehen wollen, dominieren stattdessen).

Die Alternative ist die Autorität der Wissenschaft und der Experten, die sich entwickelt hat und auch systematisch zum Einsatz kommt. Aber Wissenschaft und Expertentum sind eine sehr begrenzte und unbeständige Form der Autorität. Sie kann zwar eine wichtige Rolle in der Legitimierung von Regierungsmaßnahmen spielen,  aber sie taugt nicht wirklich als stabile Grundlage von Autorität. Auch das Gesetz dient mehr und mehr als Ersatz für tatsächliche Autorität. Zugegebenermaßen basieren Gesetze zuweilen auf einem starken normativen Fundament. Das römische Recht beispielsweise war sehr eng mit dem vorherrschenden Verständnis der Welt verknüpft und wurde deshalb als legitimes Instrument der Alltagsstrukturierung angesehen. Aber wenn das Recht immer komplexer und anspruchsvoller wird, entwickelt es sich entsprechend seiner Binnenlogik. Was durchaus sehr nützlich sein kann und den Menschen Sicherheit bietet – ich bin also nicht gegen das Gesetz. Aber das Recht alleine verfügt nicht über ausreichende normative Tiefe, um von den Menschen umfassend als Autorität anerkannt zu werden. Sie mögen das Gesetz zwar akzeptieren, aber werden nicht unbedingt davon inspiriert; die Arbeit der Justiz wird sie nicht für sich einnehmen. Der Rechtsweg ist sicherlich verlässlicher als Willkür, aber er liefert keine normative Grundlage für Autorität.

„Generell haben wir eine sehr ambivalente Beziehung zur Freiheit.“


Wir haben über modernen Ersatz für Autorität gesprochen. Was denken Sie, sollte heute die Grundlage für Autorität sein?

Ich denke, es sollte eine demokratische Form des Mehrheitsentscheids sein, der mittels gründlicher und ausführlicher Debatten und Diskussionen ermittelt und in das öffentliche Leben integriert wird. Und genau dieser Versuch, eine zeitgenössische Form der Bürgerbeteiligung zu schaffen, fehlt im Moment.

Ich bin dennoch nicht pessimistisch, denn wir leben in einer Zeit, in der es undenkbar ist, eine politische Ordnung zu haben, die nicht auf öffentlichem Konsens beruht – eine solche würde nicht langfristig von Bestand sein. Da wir die Notwendigkeit der Zustimmung der Öffentlichkeit erkennen, sind wir nur noch ein Stück weit davon entfernt, sie nicht nur zu dulden, sondern zur Tugend zu erklären.


Dabei besteht natürlich ein Paradox. Während man Autorität als problematisch ansieht, gibt es gleichzeitig nur wenig Rückhalt für Freiheit.

Dieses Paradox wurde mir im Zuge der Arbeit an meinem Buch sehr bewusst. Im 19. Jahrhundert wurde die Autorität vor allem im Namen der Freiheit abgelehnt. Heute gibt es sehr wenige Freiheitsbestrebungen. Es gibt keine ernsthaften Forderungen nach mehr Redefreiheit oder mehr freier Meinungsäußerung. Generell haben wir eine sehr ambivalente Beziehung zur Freiheit. Gleichzeitig gibt es auch wenig Rufe nach mehr Autorität, mit Ausnahme von besonders autoritären oder religiösen Gruppen. Wir befinden uns also in einer interessanten Situation, mit einer unterentwickelten Kultur der Freiheit auf der einen und dem wenig ausgeprägten Verlangen nach autoritärer Führung auf der anderen Seite. Ich glaube, dass beide Ansätze Hand in Hand gehen. Es muss möglich sein, sowohl autoritatives Verhalten – autoritative Aussagen und Eingriffe – als auch Freiheit, die die Voraussetzung für autoritatives Verhaltens ist, zu bewahren. Dies sind keine Gegensätze; beide sind miteinander verbunden.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 - I/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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