25.03.2021

Alternativlosigkeit und Landwirtschaft (1/3)

Von Rainer Maurer

Titelbild

Foto: Kasia Koziatek via Freestock / CC0

Die Stellungnahme der Deutschen Akademien der Wissenschaften zur Agrarpolitik ist sehr einseitig ausgerichtet. Das zeigt sich u.a. beim Thema Artenvielfalt.

Die deutschen Akademien der Wissenschaften (DAW) haben kürzlich eine „Stellungnahme“ zum Thema „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften“ herausgegeben. Finanziert wurde die Studie aus Mitteln der Leopoldina, die als Nationale Akademie der Wissenschaften ihre Grundfinanzierung durch den Bund und das Land Sachsen-Anhalt erhält. Am Beginn der Stellungnahme steht die empirische Einschätzung, dass die „Agrarlandschaft […] seit geraumer Zeit in besonderem Maße von einem dramatischen Rückgang von Tier- und Pflanzenarten betroffen“ ist. Nach eigenem Bekunden fasst die Stellungahme „den aktuellen Stand des Wissens zum Biodiversitätsverlust und seinen Ursachen und Folgen zusammen“. Aus diesem Befund leiten die Akademien Handlungsempfehlungen ab, die sowohl auf eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft als auch auf einen „grundlegenden gesellschaftlichen Wandel“ abzielen.

Die Stellungnahme beginnt mit einer Bestandsaufnahme der Biodiversitätsverluste in der Agrarlandschaft. Dabei folgen die Akademien der üblichen Definition, wonach eine Agrarlandschaft eine wesentlich vom Menschen gestaltete, hauptsächlich landwirtschaftlich genutzte Landschaft ist. Mangels umfassender Langzeitbeobachtungsstudien für ein breiteres Spektrum von Tier- und Pflanzenarten fokussiert die Bestandsaufnahme auf die Entwicklung der Vogel- und Insektenbestände, sowie einige Regionalstudien zu Pflanzenbeständen. Die Entwicklung der Vogelbestände wird auf EU-Ebene durch das Fauna-Flora-Habitat Monitoring (EU-Verordnung 1992) der Mitgliedsstaaten regelmäßig erfasst. Die Daten werden vom European Bird Census Council (EBCC) gesammelt und veröffentlicht. Der Rückgang der Vögel der Agrarlandschaft beträgt seit 1990 demnach 31,5 Prozentpunkte.

 Abb. 1:  Bestände von 167 Vogelarten in 26 Europäischen Ländern: 1990-2015, Quelle: DAW

Durch die Verkürzung der Ordinate auf das Intervall 50  bis 100% wird die Entwicklung in Abbildung 1 etwas „dramatisiert“. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Bestände auf Basis der EBCC-Zahlen seit 1980. Wie man erkennen kann, fand der stärkste Rückgang des Bestandes der Vögel in der Agrarlandschaft mit 36,2 Prozentpunkten (auf jährlicher Basis 4,4%) in den 1980er Jahren statt. Seitdem hat sich der jährliche Rückgang deutlich verlangsamt. In den letzten 10 Jahren des Betrachtungszeitraums (2008-2018) betrug er noch 3,2 Prozentpunkte (auf jährlicher Basis 0,7%) mit weiter abnehmender Tendenz.


Abb. 2: Bestände von 167 Vogelarten in 26 Europäischen Ländern: 1980-2018, Quelle: European Bird Census Council (EBCC)

Schaut man auf die Zahlen für Deutschland (Abbildung 3), die vom Umweltbundesamt dem EBCC zur Verfügung gestellt werden, so zeigt sich, dass der Bestand der Vögel der Agrarlandschaft gegen Ende des Betrachtungszeitraums kaum noch sinkt. Die stärksten Rückgänge fanden auch in Deutschland in den 1970er und 80er Jahren statt. Der Bestand an Vögeln des Waldes, der Binnengewässer und der Siedlungen ist in den letzten zehn Jahren gestiegen. Der Bestand an Waldvögeln liegt mittlerweile wieder über dem Wert von 1970.

Abb. 3: Bestand repräsentativer Vogelarten in verschiedenen Landschaftstypen in Deutschland: 1970-2016, Quelle: Umweltbundesamt

Die Zahlen des Umweltbundesamtes beruhen auf Erhebungen des Deutschen Dachverbandes der Avifaunisten (DDA). Sie resultieren aus Schätzungen und Hochrechnungen der Mitglieder dieses Verbandes. In ihrer Stellungnahme verweisen die Akademien darauf, dass nach Angaben des DDA die Zahl der Feldlerchen, Stare und Kiebitze zwischen 1998 und 2009 um jeweils mehr als 36 Prozent zurückgegangen ist. Der DDA schätzt in der von den Akademien zitierten Dokumentation „Vögel in Deutschland“1, dass die Bestände dieser Vögel um jährlich mehr als 3 Prozent gesunken sind. Das wäre also bezogen auf den Zeitraum 1998-2009 ein Rückgang von mehr als 28,5 Prozent. Die genauen Bestandshöhen sind jedoch unbekannt. Der DDA gibt für die Feldlerche eine Bandbreite von 1,3 bis 2,0 Millionen Exemplaren, für den Kiebitz eine Bandbreite von 63 bis 100 Tausend Exemplaren und für den Star eine Bandbreite von 2,95 bis 4,05 Millionen Exemplaren an.

Bei der Analyse der Entwicklung der Insektenbestände verweisen die Akademien vor allem auf die bekannte Studie auf Basis der Daten des Entomologischen Vereins Krefeld. Danach sind die Bestände von Fluginsekten gemessen anhand der Biomasse in deutschen Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg von 1989 bis 2016 im Mittel um 76 Prozent gesunken. Das entspricht einer jährlichen Veränderung von -5,1 Prozent. Die Analyse schließt Habitat- und Klimaveränderungen als Erklärung aus, weil sie nicht stark genug seien, um einen solch starken Rückgang zu erklären. Stattdessen wird folgende Vermutung geäußert „Landwirtschaftliche Intensivierung (z.B. Pestizideinsatz, ganzjähriger Ackerbau, zunehmender Einsatz von Düngemitteln und zunehmende Häufigkeit agronomischer Maßnahmen), die nicht wir nicht [Hervorhebung d. Verf.] in unsere Analyse aufnehmen konnten, könnten eine plausible Ursache darstellen.“2

„Der Bestand an Waldvögeln liegt mittlerweile wieder über dem Wert von 1970.“

Die Akademien verteidigen Kritik an der Studie von Hallmann et al. mit dem Hinweis, dass „mithilfe streng standardisierter Erfassungsmethoden auch in anderen Studien gezeigt werden [konnte], dass der Insektenrückgang sowohl im Grünland als auch in Wäldern stattfindet“. Sie verweisen dabei auf eine Studie von Seibold et al., die über die Jahre 2008 bis 2017 auf jährlichen Stichproben an 150 Grünland- und 140 Waldstandorten in Baden-Württemberg, Thüringen und Brandenburg beruht.3 In dieser Studie findet sich für die Grünlandstandorte über den Gesamtzeitraum ein Rückgang der Insektenstände in Höhe von 67% gemessen an der Biomasse. Dies entspricht einem jährlichen Rückgang in Höhe von 11,6%. Übertragen auf den Zeitraum der Studie von Hallmann et al. hätte dann von 1989 bis 2016 ein Rückgang von 96% stattfinden müssen. Seibold et al. weisen selbst darauf hin, dass „Sensibilitätsanalysen, die Jahre entfernt oder anders angeordnet haben, haben gezeigt, dass der Rückgang von einer hohen Anzahlen an Gliederfüßern im Jahre 2008 beeinflusst ist, wenngleich nicht ausschließlich davon abhängt“4 (vgl. Abbildung 4). Ab dem Jahr 2007 zeigt sich in den Biomasse-Zahlen von Hallmann et al. kein rückläufiger Trend mehr. Wie man sieht, finden sich die hohen Werte für 2008 in den Daten von Seibold et al. nicht in den Daten von Hallmann et al.5 Eine detaillierte Analyse dieser und weiterer Datenprobleme beider Studien findet sich bei Novo.

Abb. 4: Trends der Biomasse von Insekten in Grünland- und Waldstandorten in Deutschland, Quelle: Seibold et al. (2019, Figure 1(b))

Seibold et al. haben bei der Schätzung der Trendlinien (Abbildung 4) lokale Wetterbedingungen, Landnutzungsintensitäten und Landschaftsnutzungstypen berücksichtigt. Landnutzungsintensitäten wurden mit einem Index erfasst, in dem Informationen Weide-, Mäh- und Düngeintensität einflossen. Landschaftsnutzungstypen wurden über die Größe von Ackerland, Weideland und Wäldern in einem Umkreis von 0,25 bis 2 Kilometern erfasst. Dabei zeigte sich, dass die Landnutzungsintensität – also auch die Düngeintensität – keinen signifikanten Einfluss auf den gemessenen Trend hatte. Dagegen führte ein höherer Anteil an Ackerland in der Landschaft zu einem stärker abnehmenden Trend der Biomasse.

Die Akademien erwähnen in ihrer Stellungnahme auch, dass in der Metastudie von van Klink et al., in der 166 Einzelstudien (darunter auch Hallmann et al.) an weltweit 1676 Standorten mit einer Median-Zeitspanne von 15 Jahren ausgewertet wurden, ein durchschnittlicher Rückgang der Bestände von Landinsekten von 8,8 % pro Jahrzehnt gemessen wurde. Dies entspricht dann einer jährlichen Veränderung von -0,92% und einer Gesamtveränderung, bezogen auf den Zeitraum 1989 bis 2016, von -22%. Die Akademien erwähnen diese deutlichen quantitativen Unterschiede in den zitierten Studien (Hallmann et al. (2017): -76 %, Seibold et al. (2019): -96%, Klink et al. (2020): -22%) nicht. Sie behaupten: „Am stärksten fallen [nach der Studie von Klink et al., d. Verf.] die Bestandsabnahmen dabei in Nordamerika und Europa aus“. Das trifft nicht zu. Die Rangfolge der Kontinente beginnend mit der stärksten Bestandsabnahme lautet nach Klink et al.:6 1. Nordamerika, 2. Lateinamerika, 3. Ozeanien, 4. Europa, 5. Asien.

„Die Akademien liefern keinerlei empirische Evidenz dafür, dass es einen kritischen Schwellenwert für Insektenbestände gibt, bei dessen Unterschreitung die Agrarökosysteme schlagartig zusammenbrechen.“

Klink et al. untersuchen auch den Einfluss unterschiedlicher Landnutzungsformen auf die Trendwerte. Sie finden dabei heraus, dass über alle 166 Einzelstudien ihrer Metastudie hinweg die Trends umso negativer ausfallen, je stärker eine Nutzung als Siedlungsraum vorliegt. Die Nutzung als Anbaufläche für Nutzpflanzen führt auf der lokalen Ebene jedoch zu weniger negativ ausgeprägten Trends (dazu ausführlicher bei Novo). Die Akademien erwähnen dies nicht. Sie weisen ebenfalls nicht darauf hin, dass Klink et al. in ihrer Metastudie weltweit ein signifikant positives Wachstum der Bestände von Süßwasserinsekten – 1,08 Prozent pro Jahr – gefunden haben, obwohl der Gewässerschutz in der agrarpolitischen Debatte derzeit eine wichtige Rolle spielt.

Insgesamt sprechen diese Studien dafür, dass die Vielfalt und Bestände von Landinsekten und Vögeln in der Agrarlandschaft langfristig betrachtet schrumpfen. Dabei zeigt sich am aktuellen Rand eher eine Stabilisierung als ein weiterer starker Rückgang. Wie stark die Rückgänge aber tatsächlich sind, lässt sich aufgrund der quantitativen Unterschiede der Ergebnisse der einzelnen Studien noch nicht sagen. Um hier zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen, dürfte der Aufbau eines Monitoringsystems mit standardisierten und reproduzierbaren Beobachtungsverfahren notwendig sein.

Dass sich am aktuellen Rand ein derart „dramatischer Rückgang“ der biologischen Vielfalt abzeichnet, „dass in Zukunft ernsthafte Folgen für die Funktionsfähigkeit der Agrarökosysteme und für das Wohlergehen des Menschen zu erwarten sind“7, lässt sich den Daten nicht entnehmen. Nach der Studie von Hallmann et al. sinken die Insektenbestände bereits seit den 1990er Jahren. Wenn dieser Rückgang „ernsthafte Folgen für die Funktionsfähigkeit der Agrarökosysteme" hätte, müsste sich das längst in den landwirtschaftlichen Produktionskennziffern niedergeschlagen haben. Davon kann jedoch keine Rede sein (vgl. Getreideproduktion: 1961-2017). Die Akademien liefern auch keinerlei empirische Evidenz dafür, dass es einen kritischen Schwellenwert für Insektenbestände gibt, bei dessen Unterschreitung die Agrarökosysteme schlagartig zusammenbrechen.

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