10.09.2018

Alles fließt nachhaltig

Von Stefan Laurin

Titelbild

Foto: alex.ch via Flickr / CC BY-SA 2.0

Die Emscher trug einst entscheidend zum Wachstum des Ruhrgebiets bei. Seit 1992 wird sie im Sinne der Nachhaltigkeit umgebaut. Als Abwasserkanal war sie nützlicher.

Über 100 Jahre lang war die Emscher eine fließende Müllkippe: Durch die Industrialisierung wurde der Fluss zu einem großen Abwasserkanal. Für über fünf Milliarden Euro wird das gesamte Flusssystem seit Jahren ökologisch umgebaut. Trotzdem war seine Nutzung für das Ruhrgebiet ein Glücksfall, der heute undenkbar wäre.

Ein kleiner Fluss schlängelt sich zwischen den mondänen Einfamilienhäusern, dem großen See und dem Spazierweg entlang: Im Dortmunder Stadtteil Hörde erinnert nichts mehr daran, dass die Emscher über mehr als ein Jahrhundert der schmutzigste Fluss Deutschlands war. Hier ist der Umbau der Emscher und seiner Nebenbäche und -flüsse, den die Emschergenossenschaft 1992 begann und der 2020 beendet sein soll, längst abgeschlossen. Über 100 Jahre leitete fast das gesamte Ruhrgebiet seine Abwässer in den kleinen Fluss, der seine Quelle in Holzwickede am östlichen Rand des Ruhrgebiets hat und, nach der dritten Verlegung, heute bei Dinslaken in den Rhein mündet.

Nachdem Seuchen hunderte Tote gekostet hatten, erzwang das Land Preußen 1899 die Gründung der Emschergenossenschaft. Sie begann, das Flusssystem der Emscher zu einer großen Abwasserentsorgungsanlage umzubauen, um nun für über fünf Milliarden Euro das Ganze wieder in ein naturnahes Gewässer zu verwandeln. Erst mit dem Ende des Bergbaus konnten Abwasserohre unterirdisch verlegt werden. Die Gefahr, dass sie bei Bodensenkungen undicht werden, war vorüber. Aus den die Landschaft des Ruhrgebiets prägenden, in Beton gefassten Köttelbecken konnten wieder Bäche und Flüsse werden.

100 Jahre lang alles an Dreck in einen Fluss zu kippen, um ihn dann wieder sauber und grün zu bekommen, das ist schon lange nicht mehr möglich. Die Richtlinie 2000/60 der Europäischen Union, die sich dem Schutz der Gewässer annimmt, schreibt vor, dass diese nachhaltig genutzt werden müssen. Und das bedeutet, dass ihre natürliche Regenerationsfähigkeit erhalten bleiben muss. Ein natürlicher Fluss wird die Emscher nie wieder sein, sagt Ilias Abawi, der Pressesprecher der Emschergenossenschaft: „Ursprünglich war die Emscher ein träge dahinfließender Fluss, der im Sommer sehr wenig Wasser führte und nach starken Regenfällen weit über seine Ufer trat.“ Die Industrie-Emscher glich dann mehr einem Kanal, der von in Beton eingefassten Bächen mit Abwasser gefüllt wurde. „Und die neue Emscher ist ein ökologisches Flusssystem, das wir da, wo es geht, der Natur überlassen, das aber von unseren Fachleuten entworfen und gebaut wurde.“ Das Wasser der neuen Emscher hätte zwar keine Trinkwasserqualität, aber die habe auch die alte Emscher nicht gehabt. Dafür gäbe es wieder Forellen im Fluss, seltene blaue Libellen hätte sich angesiedelt und auch Wildpferde wird es bald wieder geben: „Wir planen die Ansiedlung von Emscher-Dickköpfen in Herne. Dann bekommt die Stadt ihr Wappentier zurück.“

„Die Vorstellung, die sich die Menschen heute von einem natürlichen Fluss machen, scheint mehr mit ihren Wünschen als mit der Wirklichkeit zu tun zu haben.“

Ob die neue Emscher ökologisch wertvoller sein wird, als es die ursprüngliche Emscher war, kann auch Abawi nicht genau sagen. Denn was bedeutet schon ursprünglich? Schon Jahrhunderte vor der Industrialisierung nutzten die Menschen die Emscher. Im 16. Jahrhundert häuften sich die Klagen darüber, dass wegen der vielen Wassermühlen in den Nebenflüssen die Emscher oft kaum Wasser erreichte. Die Vorstellung, die sich die Menschen heute von einem natürlichen Fluss machen, scheint mehr mit ihren Wünschen als mit der Wirklichkeit zu tun zu haben.

Klar ist aber auch, dass die Geschichte der Emscher nicht nur die Geschichte einer ökologischen Katastrophe ist, die nun mit sehr viel Geld wieder ausgebügelt werden muss, sagt Abawi: „Hätte man die Emscher und ihre Nebenflüsse damals nicht zur Entsorgung der Abwässer genutzt, hätte es das Ruhrgebiet so wie wir es kennen nie gegeben.“ Fast alle Bäche des Ruhrgebiets fließen zur Emscher. Über sie wurden ganze Städte, aber auch die Zechen, Stahlwerke und Chemieanlagen mit Wasser versorgt. Und in diese Flüsse wurden auch die Abwässer gekippt, die erst nach und nach in den immer besser funktionierenden Klärwerken der Emschergenossenschaft aufbereitet wurden. Das Trinkwasser des Ruhrgebiets wurde aus der Ruhr, Tiefbrunnen und Stauseen wie in Haltern gewonnen.

Die Emscher wurde zeitweise für die Industrialisierung geopfert. Aber es war ein Opfer, das sich unter dem Strich lohnte: Für den Bochumer Historiker Dietmar Bleidick, der unter anderem das Aral-Archiv in Bochum leitet, ist klar, „dass es keine Industrialisierung des Ruhrgebiets gegeben hätte, wenn die Escher nicht als Abwasserkanal genutzt worden wäre.“ Schon im 19. Jahrhundert hätte es zwar eine Umweltgesetzgebung gegeben, aber die sei fast immer zugunsten der Industrie und des Wachstums der Städte ausgelegt worden. „Nur vereinzelt gelang es gut vernetzen Adeligen, sich gegen die Industrie zu behaupten. Ein einfacher Bauer hatte vor den Gerichten keine Chance.“ Die Gerichte orientierten sich damals an dem Begriff der „ortsüblichen Verschmutzung“. „Und wenn ein Fluss oder Bach schmutzig war, argumentierten die Unternehmen eben, das sei so üblich und die Gerichte folgten ihnen.“

„Die ausgesprochen laxe Haltung der Umwelt gegenüber war die Grundlage eines in Deutschland bislang einzigartigen Wirtschaftswachstums.“

Doch diese ausgesprochen laxe Haltung der Umwelt gegenüber war die Grundlage eines in Deutschland bislang einzigartigen Wirtschaftswachstums: Innerhalb weniger Jahre wurden aus Kleinstädten Großstädte, entstanden auf Äckern Stahlwerke und wurde aus immer tieferen Schächten Kohle gefördert. Im Ruhrgebiet wuchs der Bevölkerung zwischen 1850 und 1925 von 400.000 auf 4,2 Millionen. Das Niemandsland zwischen Köln und Münster wurde zum wichtigsten Industriezentrum Europas. Millionen fanden Arbeit, gründeten Unternehmen vom Stahlkonzern bis zur kleinen Trinkhalle. Das Ruhrgebiet war eine Wohlstandsmaschine. „Man kann nicht ausrechnen, wie viel Geld hier verdient wurde, um wie viel insgesamt die Grundstückspreise stiegen und wie sehr der Wohlstand wuchs“, sagt Bleidick. Aber es werden Billionen Euro gewesen sein. Unterm Strich, in all den Jahrhunderten, seitdem der Kohle- und Stahlrausch im Ruhrgebiet begann. Hat es sich gelohnt? Ja, sagt der Historiker: „Rechnet man das große Wohlstandswachstum gegen die Kosten, die entstanden sind, um das Emschersystem erst zu einem industriegerechten Abwassersystem umzubauen und nun in ein umweltnahes Gewässer zu wandeln, hat es sich gelohnt.“

Hätte sich schon die damalige Politik dem Gedanken der Nachhaltigkeit verschrieben, wäre das alles nicht möglich gewesen. Doch nicht nur das ökologische Bewusstsein der Gegenwart würde eine solche Entwicklung heute nicht mehr möglich machen: „Die Entscheidungen wurden nicht demokratisch gefällt und es gab keinen Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen. Alles wurde dem Ziel des schnellen wirtschaftlichen Wachstums untergeordnet.“ In einem demokratischen Rechtsstaat, wie wir ihn heute in Deutschland haben, würden alle Interessen berücksichtigt: „Und wenn ein Bauer im Recht ist, bekommt er vor einem Gericht Recht. Wenn das bedeutet, dass ein Unternehmen ein Werk nicht bauen kann, dann ist das eben so.“ In Preußen und später im Deutschen Reich hätte es keinerlei Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen gegeben. „Die Unternehmer hatten das Sagen. Bevor der Staat eingriff und dafür sorgte, dass die Abwässer behandelt wurden, starben hunderte Menschen.“ Sie hätten keine Chance gehabt, ihre Interessen durchzusetzen. „Und aus Rücksicht auf die Kosten wurde auch damals nicht alles gemacht, was technisch möglich gewesen wäre, um die Umweltbelastung zu senken.“ Zudem hätten bis in die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein Wasser und Luft als kostenlose Ressourcen gegolten, die man einfach benutzen konnte. Der Gedanke eines modernen Umweltschutzes wäre einfach noch nicht im Bewusstsein der Menschen angekommen.

Bleibt die Frage, ob das Nachhaltigkeitsprinzip einem solchen Ausgleich nicht im Wege steht. Denn es bremst das Wachstum stärker, als es langfristig nötig wäre, wie der fast abgeschlossene Umbau der Emscher zeigt. Natur zu nutzen, bedeutet nicht, sie für immer zu zerstören. Vielleicht gibt es ja einen Mittelweg zwischen radikaler Ökologie und radikalem Wachstum.

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