15.06.2012

Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts

Analyse von Frank Furedi

Wenn die Occupier sich so sehr dem „einen Prozent“ entgegenstellen, warum kopieren sie dann dessen deprimierenden Geschäftsstil?Eine Analyse der Unfähigkeit der Protestierer, politische Ziele zu entwickeln.

Seit einiger Zeit schon ist klar, dass der Politik die Worte fehlen. Sowohl die Politiker des Establishments als auch radikale Demonstranten verwenden ein von Grundsätzlichem und sinnvollen Inhalten entleertes politisches Vokabular. Statt mit den Menschen über ihre Überzeugungen zu sprechen, beziehen sich die höchsten Politiker auf ihre „Agenda“ oder ihr „Projekt“. Im Gegenzug machen die Demonstranten, die seit Sommer letzten Jahres den öffentlichen Raum in New York, London, Frankfurt und vielen anderen Städten der westlichen Welt besetzen, großen Wind um ihre Weigerung, überhaupt politische Forderungen und Prinzipien zu formulieren.

Natürlich ist es manchmal schwierig, passende Worte für die gegenwärtig wirklich bedeutsamen politische Grundsätze und Ziele zu finden. Selbst Politiker mit dem größten Weitblick würden sich angesichts der Größenordnung der Probleme, die die weltweite Krise aufgeworfen hat, schwer damit tun. Aber wenigstens würde ihr Verantwortungsbewusstsein solche Politiker anstacheln, eine eigene Sprache zu entwickeln und immerhin so etwas Ähnliches wie einen Weg nach vorn zu formulieren. Aber alles, was wir von der heutigen Politikergeneration bekommen, sind Pro-forma-Kommuniqués und das Versprechen, die Dinge auf einer weiteren internationalen Konferenz ansprechen zu wollen. Tragischerweise ist politische Lähmung ansteckend und erfasst schnell das gesamte öffentliche Leben.

Während die politischen Eliten so tun, als ob sie einen Plan hätten, und es möglichst vermeiden, den Konsequenzen der Tatsache ins Auge zu blicken, dass ihnen schlichtweg die Ideen fehlen, machen ihre Gegner in der Occupy-Bewegung geradezu eine Tugend daraus, dass sie buchstäblich nichts zu sagen haben. Noch verblüffender ist der Beifall, den solch eine Unlust oder Unfähigkeit zur Formulierung politischer Forderungen von den Medien in den vergangenen Monaten erhalten hat. Ein Kommentator nach dem anderen besteht darauf, dass die Demonstranten etwas weitaus Wichtigeres tun, als politische Forderungen aufzustellen. Sie „werfen Fragen auf“, dienen als „Gewissen der Gesellschaft“, „demonstrieren den Idealismus der Jugend“, „beleuchten Probleme“, „schaffen öffentliche Räume“ oder „bieten eine alternative Organisationsform“ an. Es sieht ganz so aus, als ob die Unfähigkeit zur Formulierung jeglicher Lösung für die missliche Situation, mit der die Menschheit konfrontiert ist, ein Kennzeichen für tugendhaftes und moralisches Verhalten wäre.

Jeder, der fragt, was die Demonstranten eigentlich wollen, wird als hoffnungsloser Einfaltspinsel weggeschickt, der nicht begreift, dass Zusammenhanglosigkeit und Undeutlichkeit heutzutage schick sind. Tatsächlich, in Anbetracht dessen, dass die Protestierenden von jedermann, vom politischen Führer bis hin zu Bischöfen, und von jeder Medienform, von The Times bis zum Guardian (in Deutschland von F.A.Z. bis taz) unterstützt werden, dass sie mit „den 99 Prozent“ sogar im Rennen um den Titel „Time’s Person of the Year“ waren (am Ende wurde es dann – unter dem Eindruck des arabischen Frühlings – die ebenso nebulös daherkommende „Person“ des weltweiten Protestierers: „The Protester“), scheint unklares Postulieren superschick zu sein. „Diejenigen, die [den Protest] wegen seines Mangels an konkreten Forderungen verspotten, verstehen einfach nicht seine strategische Funktion“, doziert Gary Younge vom Guardian. Diese lautet: sich der „Aufgabe der Schaffung neuer Möglichkeiten“ zu stellen. Das ist in etwa so, als wenn die schreibende Zunft mal eben entschieden hätte, dass des Kaisers Kleider nicht nur hochmodisch wären, sondern auch noch den Gipfel des guten Geschmacks darstellen würden.

Prozessfixierte Politik

Das deutlichste Zeichen für die Sinnentleerung des politischen Vokabulars ist der Aufstieg der Prozessfixiertheit im öffentlichen Leben. Tatsächlich ist in den letzten Jahren das politische Handeln zur Politik des Handlungsprozesses mutiert. Die Sprache des öffentlichen Lebens wird dabei von der Rhetorik der Prozessgestaltung dominiert. Begriffe wie „Übertragung von Verantwortung“, „Unterstützung“, „Inklusion“, „Exklusion“, „Transparenz“, „Rechenschaft“, „bewährte Vorgehensweise“ beziehen sich alle auf institutionelle und organisatorische Dinge. Der stärkste Ausdruck für den Übergang von einem politischen zu einem auf Managementdenke basierenden Stil von Autoritätsausübung ist der Fetisch der prozessorientierten Governance (zu dt. etwa Organisations-, Unternehmens- oder Regierungsführung). Vor langer Zeit einmal kümmerte sich Governance noch um das Leiten und Regieren. Heutzutage beschäftigt sie sich mit dem Management von Regeln und Prozessen. Laut einer Definition umfasst Governance „die Systeme und Prozesse, denen die übergreifende Leitung, Effektivität, Beaufsichtigung und Rechenschaft einer Organisation obliegen“.

Die Verarmung der politischen Sprache, oder wie es der australische Gesellschaftskritiker Don Watson beschreibt, der „Verfall der öffentlichen Sprache“, reflektiert die Erosion eines normativen Regelwerks zur Leitung des öffentlichen Lebens. Wenn die Vorstellungen von Richtig und Falsch und die Antwort auf die Frage, was unsere Werte sind, unklar werden, verselbständigt sich der Prozess. Das ausufernde Reglementieren in Institutionen und allen Bereichen des menschlichen Lebens ist eine unerbittliche Konsequenz der Aushöhlung des politischen und moralischen Vokabulars. Vom Standpunkt der Governance gibt es keinen normativen Ausdruck von Richtig und Falsch; es zählt nur das korrekte Vorgehen.

Die Überhöhung des korrekten Vorgehens enthebt Menschen davon, zu beurteilen, was gut oder schlecht ist, richtig oder falsch, moralisches oder unmoralisches Handeln. Ebenso trennt sie das Handeln der Menschen von seinen Folgen. Anstelle von politischen Führern haben wir nun die Institutionalisierung der Betreuung. Neuzeitliche politische Mentoren, überall in der politischen Sphäre, führen nicht – sie „erleichtern“ und „befähigen“.

Die Governance des Protests

Demonstranten haben ebenfalls die Fähigkeit verloren, sich moralisch oder politisch auszudrücken. Auch über die Ziele ihrer Aktionen herrscht Sprachlosigkeit. Der Idealismus und die Leidenschaft junger Aktivisten wurden umgelenkt in eine Beschäftigung mit der eigenen Organisation. Ein Statement von Occupy Melbourne lautet: „Wir visieren eine Politik der Selbstbestimmung und der direkten Demokratie an, ohne das Bedürfnis der Repräsentation.“ Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat Radikalismus mehr mit den Regeln der Organisation zu tun als mit dem Kampf für bestimmte Ziele.

Diese Obsession mit Reglementierungen und Handlungsprozessen wird nun als Kennzeichen eines neuen Radikalismus diskutiert. Eine Website von Occupy-Unterstützern verkündet, dass „die nicht-hierarchische, dezentralisierte Struktur, die Inklusion und Kooperation die Stützpfeiler der Occupy-Bewegungen sind.“ Von Zeit zu Zeit betonen die Mitglieder, dass sie führungslos und ohne Hierarchie sind. Tatsächlich haben sie Regeln erfunden, mit denen sie einen Konsens erreichen, ohne die Notwendigkeit einer politischen Debatte oder altmodischen Handhebens. Stattdessen werden Zustimmung oder Ablehnung durch stille Gesten ausgedrückt, wie etwa nach oben winken für Einverständnis oder nach unten winken für Widerspruch.

Prozessorientierten Protest kann man in seiner besten Karikaturform in der spanischen Indignados-Bewegung finden. Deren Handbuch mit dem Titel How to Cook a Non-Violent Revolution enthält einen organisatorischen Teil, der so aufwändig ist, dass er den bürokratischsten Bürokraten mit Stolz erfüllen würde. Er beschreibt die Wichtigkeit des Vorhandenseins einer Kommission für Kommunikation zur Interaktion mit den Medien und einer Außenkommission für die Verbindung mit anderen Vereinigungen und Einrichtungen. Die Kommission für Gruppendynamik ist eine schwerfällige Körperschaft mit der Verantwortung für das Erträumen neuer Regeln, die zur „Festigung eines Gruppenbewusstseins“ beitragen. Sie „bereitet die Versammlungsordnung vor“ und stellt „Anordnungen für die Moderation auf, Redezeiten und Systeme zur Wortergreifung“. Die Respektkommission ist mit „dem Befördern einer respektvollen Zeltplatzatmosphäre“ beauftragt. Es gibt buchstäblich mehr als ein Dutzend weitere Kommissionen und Arbeitsgruppen, um die Leitung des Occupy-Camps in Spanien zu managen.

Wirklich traurig bei dieser Protestbewegung ist die fast spontane Art und Weise, in der die „best practices“ des prozessfixierten Managerismus verinnerlicht wurden. Wenn Occupy London auf ein Ereignis reagieren muss, greifen ganz ähnliche Praktiken, wie man sie von Betriebsausflügen privater oder öffentlicher Unternehmen kennt. Um den Anschein von Teilnahme und Engagement aufrechtzuerhalten, wird die Gruppe zersplittert. So teilt sich die „Generalversammlung“ der Londoner Occupy-Camper etwa in Gruppen zu je 10 Personen auf, wenn sie was auch immer gerade diskutieren will. In beiden Instanzen steht die Art und Weise, wie eine Diskussion geführt wird, über der Debatte um Inhalte.

Am erstaunlichsten an den von den Protestierenden übernommenen Organisationsformen ist wahrscheinlich, wie viel vom Denken des von ihnen eigentlich so verachteten „einen Prozent“ sich darin widerfindet. Betrachten wir nur das ständige Bejubeln der nicht-hierarchischen Organisationsform. Ein regelmäßiger Leser der Harvard Business Review würde einem solchen Anwalt der Hierarchielosigkeit beifällig zustimmen. Zahlreiche Artikel in der Review mit Titeln wie „Gib Autorität auf, um ein besserer Chef zu werden“ drücken ganz klar die Meinung aus, dass gute Geschäftspraktiken eine hierarchielose Kultur erfordern. Heutzutage werben Firmen mit ihren hierarchielosen Geschäftsstrukturen und hierarchiefreien Teams.

Obwohl sie sich nach außen hin radikal gibt, hat die gegenwärtige Protestkultur tatsächlich das prozessorientierte Herangehen des Establishments übernommen, gegen das zu protestieren es behauptet. Paradoxerweise huldigt sie dabei ausgerechnet einem der am wenigstens attraktiven Trends im öffentlichen Leben der westlichen Welt: nämlich der Tendenz nach organisatorischen Lösungen für politische und moralische Probleme zu suchen. Am meisten beunruhigt bei dieser neuen Religion der richtigen Organisationsführung die obsessive Neigung, Regeln zu erlassen. Die Institutionalisierung des Handelns führt unausweichlich zu immer mehr Regeln. Sie erschafft einen Bedarf an Gutachtern und neuen Prozessen, um sicherzustellen, dass der eigentliche Prozess vorschriftsmäßig abläuft.

Wenn aus bloßen Handlungsabläufen Ideologie wird, ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie zu einem Instrument der Täuschung und Unehrlichkeit werden. Im öffentlichen Dienst kann an jeder Ecke gespart werden, solange wenigstens die Daten immer auf dem neuesten Stand sind. Und in den neuen Protestcamps ermöglicht es die Durchführung von nicht-hierarchischen Ritualen einer Gruppe von nicht gewählten und nicht repräsentativen „Führern“, die politische Agenda festzulegen. Paradoxerweise existiert der Protest-Schick der Straße in symbiotischer Beziehung mit dem Prozess-Schick der Vorstandsetage.

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