23.09.2011
Rufe in die Nacht
Rezension von Hannelore Schmid
Axel Kleemanns Buch ist ein Parforceritt durch hiesige gesellschaftliche Missstände. Er möchte zeigen, wie man es besser machen könnte. Teilweise ist seine Kritik gerechtfertigt. Aber viele seiner Ideen, z.B. zur Reform des Gesundheitswesens, bleiben oberflächlich und unausgegoren.
Bisher ist Axel Kleemann als Autor von Fachpublikationen in Erscheinung getreten. Der Chemiker, Jahrgang 1940, war in führender Position in der Forschung und im Vorstand eines Pharmaunternehmens, später auch als Hochschullehrer tätig. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen befasste er sich vor allem mit pharmazeutischer Chemie und Fragen des Forschungsmanagements. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, in dem er sich weit über das sichere Terrain seiner beruflichen Aktivitäten hinauswagt. Die Auseinandersetzung mit „deutschen Krankheiten“, die unter dem Titel Wunderheiler gesucht! stattfindet, lässt keines der Themen aus, die Politik und Gesellschaft derzeit beschäftigen.
„Vieles in unserer Gesellschaft liegt im Argen und schreit nach Heilung“, konstatiert Kleemann. Er will Anamnesen und Diagnosen erstellen und Therapievorschläge entwickeln. Allerdings bedürfe es, so der Autor, nicht weniger als eines Wunderheilers, um die Vielzahl von Fehlentwicklungen und Missständen in unserem Land zu beseitigen.
Als Kernproblem sieht Kleemann die Angst der Deutschen vor modernen Techniken, vor gesellschaftlichen Veränderungen und vor politischen Reformen, gekoppelt mit einem ausgeprägten Anspruchsdenken. Diese Bürger träfen auf eine politische Klasse, die den Machterhalt über das Wohlergehen der Gesellschaft stelle und aus populistischen Gründen zukunftsfeste Entscheidungen scheue. Deshalb sei es höchste Zeit, so Kleemann, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken und unser Land mit nachhaltigen, auch unpopulären Entscheidungen zukunftsfest zu machen. An diesem Anspruch ist das Buch zu messen.
Der Parforceritt durch das Gestrüpp deutscher Fehlentwicklungen startet im Gesundheitswesen. Es ist dem Autor in seinen vielen Facetten sowohl aus seiner langjährigen Tätigkeit für die Pharmaindustrie als auch aus persönlicher Erfahrung vertraut. Kernsätze des Buches: Die Deutschen sind Weltmeister im Arztbesuch; das Kassensystem verhindert, dass sie die Kostenlawine, die sie lostreten, schultern. Die Ärzte wiederum versinken in Dokumentationspflichten, die ihnen die Zeit für das Patientengespräch rauben. Ärztemangel auf dem Land korrespondiert mit einem Übermaß an Fachärzten in den Städten. Die Explosion der Gesundheitskosten wird eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen erzwingen, nicht zuletzt wegen der demographischen Entwicklung. Und Patienten werden künftig mehr Eigenverantwortung übernehmen müssen. Kleemann plädiert an dieser Stelle auch dafür, die volkswirtschaftliche Bedeutung der modernen Arzneimitteltherapie in einer unabhängigen Studie herauszuarbeiten, um die Diskussion über die Pharmaindustrie zu versachlichen. Dabei kommt die eigene Klientel nicht kritiklos davon, etwa im Hinblick auf Marketingaufwendungen und -praktiken oder die Preispolitik der Arzneimittelhersteller.
Viel Konfetti, wenig Klarheit
Alles in allem aber geht die Analyse nicht über das hinaus, was schon vielfach zuvor konstatiert wurde. Dass Kleemann den Stein des Weisen für die Reform des Gesundheitswesens nicht präsentieren kann, wird ihm angesichts der komplexen Materie keiner verübeln. Was stört, ist der zum Teil flapsige Ton, mit dem der Autor von einem Thema zum nächsten wandert, hier eine Zeitungsmeldung einstreut, dort ein Umfrageergebnis und oder eine Anekdote aus dem eigenen Erfahrungsschatz, ersatzweise auch umfangreiche Leserbriefe aus seiner Feder, die noch dazu überflüssige Nebenkriegsschauplätze eröffnen. Was man vermisst, ist eine stringente Gedankenführung. Viel berechtigte Kritik und gute Ideen werden so ihres Werts beraubt. Sie schwirren durch die Luft wie Konfetti und bilden kein klares Ganzes.
Das gilt umso mehr für die nachfolgenden Kapitel, ein fröhlicher Rundumschlag zu allem, was die Welt bewegt: von der Kritik am Pharmadoping eilt der Autor zum mentalen Doping, das er am Medenspiel zwischen zwei Tennis-Senioren erläutert. Es folgt ein Kapitelchen über die Freuden und Leiden des Golf-Spielers, im nächsten landet man bereits bei den Klimahysterikern, dem eines über die Fortschrittsängste als typisch deutsches Syndrom folgt, dargestellt an den Themen Kernenergie, Elektrosmog, rote Biotechnologie und Grüne Gentechnik. Greenpeace bekommt seine Kritik ab, die Fernseh- und Rundfunkschaffenden, die Deutsche Lufthansa, der Verkehrsminister und die politischen Parteien sowieso. Afghanistan und Sarrazin werden abgehandelt, außerdem alte Verstocktheiten und neue Sünden der katholischen Kirche. Wer mit „Presse und Journaille“ hadert und sich über die Rolle der Finanzanalysten empört, wer sich schon einmal in den Spinnweben des Europäischen Patentrechts und den Fallen der deutschen Steuergesetzgebung verheddert hat, wird sich in diesem Buch wiederfinden.
Er wird dort einiges erfahren, was er bisher nicht wusste, vieles lesen, was schon oft gesagt wurde, und etliches, was ihn niemals interessiert und auch wenig Relevanz hat. Den Autor wäre ein Lektorat zu wünschen gewesen, das im Text mit eisernem Besen die Spreu vom Weizen getrennt hätte. Denn eigentlich hat Kleemann einiges zu sagen. Weniger, dafür konsequent ausgearbeitet und durchgängig sachlich dargeboten, wäre mehr gewesen.