04.02.2015

Risikokompetenz statt Paternalismus

Kurzrezension von Johannes Richardt

Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft von Gerd Gigerenzer (C. Bertelsmann 2013, S. 400, EUR 9,99)

Über das trübe Menschenbild, mit dem Staaten Eingriffe in die Privatangelegenheiten der Bürger heute rechtfertigen, wurde bei Novo bereits viel geschrieben. Der moderne Paternalismus – das sog. Nudging (engl. Anschubsen) – beruft sich vor allem auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie. In diesem Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft wird der Mensch mit Hilfe der „Evidenz“ unzähliger Studien und Laborversuche als zutiefst irrationales und affektgesteuertes Mängelwesen beschrieben.

Als Vordenker dieser Disziplin gilt der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann. Sein weltweit profiliertester wissenschaftlicher Gegenspieler lebt in Berlin und ist Direktor am hiesigen Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: der Psychologe Gerd Gigerenzer. Sein lesenswertes Buch Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft möchte den Menschen Werkzeuge in die Hand geben, wie sie sich „risikokompetent“ – und möglichst ohne wohlmeinende staatliche Anschubser – in einer modernen Gesellschaft zurechtfinden können.

Trotz zahlreicher Beispiele, wie Menschen in den Bereichen Geldanlage, Menschenführung oder Gesundheitswesen intelligent mit Risiken umgehen können, ist das Buch – wie der Untertitel vielleicht nahelegen könnte – kein bloßer Ratgeber zur Entscheidungsfindung. Gigerenzer zeigt wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam, wie die Psychologie unsere Risikowahrnehmung beeinflusst und wie diese Mechanismen von Angstmachern für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. So erklärt er etwa den Unterschied zwischen der Wahrnehmung relativer und absoluter Risiken anhand der „Pillenpanik“ der 1990er-Jahre in Großbritannien oder zeigt, dass wir gerade beim Versuch, Risiken zu vermeiden, oft noch größere Risiken eingehen. Nach dem 11. September 2001 hielten viele Amerikaner das Fliegen für zu gefährlich und stiegen lieber auf das Auto um – mit dem Ergebnis, dass deutlich mehr Menschen bei Verkehrsunfällen starben, als statistisch betrachtet im gleichen Zeitraum durch das Fliegen gestorben wären.

Der aufklärerische Grundtenor macht das Buch sympathisch. Auch wenn Gigerenzer politische Aspekte weitgehend ausblendet und manche zeitgeistkonforme Überzeugungen der Nudger, etwa hinsichtlich „gesunder Ernährung“, teilt, setzt er dem paternalistischen Zeitgeist dennoch die starke Überzeugung entgegen, dass Menschen mit Hilfe von Bildung mehr Kontrolle über ihre individuellen Lebensumstände gewinnen können. Ein rationaler Umgang mit den Risiken und Ungewissheiten des Lebens ist erlernbar. „Risikointelligenz“, sprich Fertigkeiten im Umgang mit statistischem Denken, Faustregeln (sog. Heuristiken) und der Psychologie des Risikos können bereits kleinen Kindern vermittelt werden. Nicht die mangelnde Denkfähigkeit vieler Menschen, sondern mangelnde Bildung, fehlende oder schlecht aufbereitete Informationen sind die eigentlichen Ursachen für den irrationalen Umgang mit Risiken. (Johannes Richardt)

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