22.03.2013

Zwischen Albtraum und Zukunftsgestaltung

Analyse von Hartmut Schönherr

Virtualität ist ein Zeichen von Humanität und Teil der Geschichte, in der aktuellen Internetdebatte gerade von Vertretern der alten Medienordnung gerne vergessen wird.

Kein Klischee wird im Hinblick auf das Internet so häufig bemüht wie das der „virtuellen Welten“, die das Internet als „Fluchträume“ oder „Ersatzwelten“ zur Verfügung stelle. Wie gefährlich diese „Fluchträume“ seien, wurde ab 2006 gerne mit dem Verweis auf den jugendlichen Amokläufer von Emsdetten belegt, der laut der Illustrierten Stern Tag und Nacht vor dem PC verbracht habe, mit Internet und Gewaltspielen. Als dann der Amokläufer von Winnenden 2009 weniger durch PC-Konsum als durch einen in der wirklichen Welt mit zahlreichen Waffen hantierenden Vater auffiel, geriet diese Art von Internetschelte etwas in den Hintergrund.

Die Gefährdungsthese blieb jedoch weiter debattenprägend, nun weniger hinsichtlich einer direkten Gefährdung der Gesellschaft als vielmehr einer Gefährdung der Jugendlichen selbst. „Immer mehr Jugendliche fliehen in virtuelle Welten“, klagte die Ärztezeitung 2009. Sie bezog sich dabei auf eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) und erklärte die Flucht zur Sucht. Doch ein Jahr später kommt eine umfangreichere Studie des gleichen Instituts zum Ergebnis: „Auch wenn der Alltag eines Großteils der Jugendlichen durch intensiven Mediengebrauch geprägt ist, sind vergleichsweise wenig Jugendliche als medienabhängig einzustufen.“ [1] Wenn Anfang 2012 Focus online mit Bezug auf die Arbeit des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) in Hamburg nochmals vor der „Flucht in virtuelle Welten“ warnt, geschieht dies schon mit einer relativierenden Einordnung der Problematik in das Spektrum sonstiger Suchterkrankungen.

Ansonsten darf 2012 als das Jahr gelten, in welchem sich ein zum Suchtdiskurs komplementärer Diskurs in den Vordergrund schob. Hervorgehoben werden nun vermehrt die positiven Potentiale virtueller Welten im digitalen Zeitalter, etwa für die Schmerztherapie bei Kindern oder in der medienorientierten Jugendbildung. Und der Trendforscher Peter Wippermann erklärte auf der Social Media Week im Februar 2012 in Hamburg, soziale Medien wie Facebook und Twitter seien wesentlich beteiligt an einem positiven Wertewandel in der Gesellschaft hin zu größerem sozialem Zusammenhalt.

Zurück zu Platon

Einen ähnlichen Debattenverlauf konnten wir in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts schon einmal beobachten, als die Fernsehschelte eines Neil Postman mit der emanzipatorischen Rezeptionsästhetik konfrontiert wurde, die den Fernsehnutzer als autonom ansah, nicht als Opfer seines Mediums. Wir können diesen Grundkonflikt bis zur Polemik gegen die Erfindung der Schrift zurückverfolgen, die Platon im Phaidros ausführte. Immer wenn eine Esoterik, eine geschlossene, informationsbasierte Interessenkonstellation durch ein neues Medium attackiert wird, verläuft ein ähnlicher Prozess von Ablehnung und Verteidigung. War es bei der Schriftausbreitung die aristokratisch-philosophische Esoterik, so bei der Erfindung des Buchdrucks die monastisch-religiöse und bei der Entwicklung des Fernsehens die akademisch-pädagogische, die sich bedroht sahen. Aktuell können wir bei der Ausbreitung des Internets von einer Reaktion der berufsständisch-ökonomischen Esoterik sprechen, die ihre eigentlichen Anliegen in den massiven Auseinandersetzungen um Patent-, Informations-, Zugangs- und Urheberrechte verrät.

Bei der Durchsetzung neuer Medien wurde stets auch der Bereich virtueller Welten thematisiert, in Kritik wie in Zustimmung. Theuth, der Erfinder der Schrift, war bei Platon zugleich Erfinder des Würfel- und Brettspiels und, digitale Welten lassen grüßen, der Zahlenkunst. Als Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern entwickelte, galten seine ersten Bemühungen der Vervielfältigung jener prädigitalen virtuellen Welten, die in den kanonischen Schriften des Christentums tradiert wurden, der Bibel. Im Rückblick auf Platon wird auch verständlich, warum heute Intellektuelle wie Norbert Bolz, denen Shakespeare-Dramen nicht zu grausam und griechische Tragödie keineswegs zu blutschänderisch sind, in Sorge über die „Verwahrlosung“ durch virtuelle Welten geraten: Es geht um den Konflikt zwischen realer Welt und virtueller, „irrealer“ Welt. Wie „irreal“ aber sind die Welten von Facebook und Guild Wars gegenüber einer Welt entfesselter Finanzsysteme und globaler militärisch-wirtschaftlicher Vernetzungen?

Offensichtlich beunruhigt die Ahnung, dass unsere reale Welt so real nicht ist, auf durch und durch virtueller Basis steht – etwa der Virtualität von Geld, die sich aktuell zu einer erheblichen Gefährdung der stofflichen Welt auswächst. Im gleichen Maße, in dem wir einsehen, dass unsere reale Welt durch und durch „virtuell“ strukturiert ist, verlieren virtuelle Welten ihre Bedeutungsschwere und werden zu dem, was sie schon immer sein konnten, sein mussten: Ergänzung, Erprobung und Korrektiv zu Verfestigungen und Immobilismen der realen Welt.

Virtueller Mut

Ich möchte keine Wortklauberei treiben, aber doch daran erinnern, dass „virtuell“ von lateinisch „virtus“ hergeleitet ist, dem Wort für „Kraft“, „Vermögen“, „Fertigkeit“ und „Mut“. Das verträgt sich nicht gut mit negativ konnotierten „Fluchten“, passt aber zur klassischen Vorstellung, dass Kinderspiele auf künftige Berufswelten vorbereiten. Wer sich die Berufswelt anschaut, die jugendliche PC-Nutzer in zehn bis zwanzig Jahren (und teilweise schon heute) erwartet, der erkennt wieder, was diese Gruppe aktuell in Spiel und Freizeit treibt: Sie werden viel Zeit am PC verbringen, sie müssen schnell auf Informationen reagieren, die über ihre Bildschirm huschen, sie werden ihre beruflichen Kontakte und wesentliche Formen der Zusammenarbeit über den PC und das Internet oder Intranets pflegen. Und sie üben dies in virtuellen Welten, was Spielewelten schon immer waren.

Spielewelten sind auch Theaterwelten. Eines der ältesten Konzepte zur Wirksamkeit von Theaterwelten ist das Katharsis-Konzept des Aristoteles. Er entwickelte sein Konzept zur Zeit der makedonischen Kriege. Sein dramatisches Ideal fand er in den Stücken des Euripides, geschrieben zur Zeit des Peloponnesischen Krieges. Krieg, Verletzung, Zerstörung waren die Hintergründe einer These, die besagt, dass Affektkonflikte sich auch „virtuell“, durch schlichten Theaterbesuch lösen ließen, ohne vollzogenes eigenes Handeln. Ganz in diesem Kontext stehend äußert sich Dietrich Dörner in einem Gespräch mit der Welt online 2008 etwas salopp über besonders aktive Nutzer von Gewaltspielen: „Man könnte auch sagen, es ist ja geradezu heilsam, dass sie das im Spiel tun und nicht in der U-Bahn.“ [2]

Damit deutet Dörner, der seine Kompetenz im Umgang mit virtuellen Welten unter anderem in seinem Buch Die Logik des Misslingens hinreichend unter Beweis gestellt hat, etwas an, was die Gewaltspieldebatte gerne umgeht. Aus verständlichen Gründen, denn seit den eher schlichten „Dampfkessel“-Theorien zur Aggression, wie sie in der Verhaltensforschung der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts formuliert wurden, kann es einen akademischen Ruf ruinieren, spielerische Formen aggressiven Verhaltens als potentiell hilfreich zu charakterisieren.

Virtuelle Existenz

Virtuelle Welten, die immer auch Medienwelten waren und sind, erfüllen die zentrale Funktion, kulturelle Veränderung und Entwicklung zu initiieren und zu begleiten. Dabei können sie ebenso als Modelle wie als Warnungen genutzt werden, worauf der Organisationsentwickler und Historiker Ulrich Gehmann unlängst hingewiesen hat: „Besagter Nutzen liegt im indikativen Charakter solcher Welten begründet, den sie als symbolische Welten haben, da sie modellhafte symbolische Repräsentationen des Gewollten und Ungewollten, der Hoffnungen und Ängste einer Zeit verkörpern.“ [3]

Spätestens mit der Ausbildung von Sprache ist Virtualität in diesem Verständnis zu einem Grundzug menschlicher Existenz geworden. Ohne Möglichkeitswelten gibt es keine humane Veränderung der wirklichen Welt. Dass auch Inhumanität mit Möglichkeitswelten operiere, ist ein Irrtum. Inhumanität vernichtet Möglichkeitswelten, schränkt Virtualität auf Fluchträume ein und erlaubt sie nur noch als Bestätigung des Bestehenden.

Heutige virtuelle Welten stehen am Ende einer langen Entwicklung, die unsere Gattung, das „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer), aus den unmittelbaren Abhängigkeiten von Jagdgründen und Klima herausführte. Im Rückblick wird uns möglich, was älteren Kulturen versagt war, die bewusste Simulation aus pragmatischen Gründen, ein Leben im „Als ob“.

Eine der prägnantesten Formulierungen für diesen Aspekt von Virtualität haben Thomas Deichmann, Detlev Ganten und Thilo Spahl in Die Steinzeit steckt uns in den Knochen gefunden. Sie führen aus, wie unser evolutionär ausgebildeter Körper mit den Kulturentwicklungen der technischen Revolution nicht Schritt halten kann und empfehlen, „auf intelligente Art und Weise Bedingungen (zu) imitieren, wie sie früher geherrscht haben und die im Einklang mit unserem geerbten Körper stehen“. [4]

Wie weit diese Virtualitäten zweiter Ordnung, der Ordnung des „als ob“ bereits die der ersten Ordnung durchsetzen, zeigt ein Gespräch zwischen Papstes Benedikt XVI. und der Journalistin Oriana Fallaci am 27. August 2005, als er ihr empfahl, sich so zu verhalten, als gebe es Gott, auch wenn sie nicht an ihn glauben könne.

Digitalisierung und Internet haben die virtuellen Welten nicht erfunden. Sie bieten nur neue Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für solche an. Das ist eigentlich banal, wird aber bei einschlägigen Debatten über der Empörung durch Vertreter der alten Medienordnungen gerne vergessen. Wir sollten virtuelle Welten besser nutzen, als Werkzeuge für Gegenwartsbewältigung und Zukunftsentwicklung. Und als wichtige Diagnosehilfen bei der Beschäftigung mit dem, wohin wir wollen – und auch, wohin wir nicht wollen.

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