13.03.2014
Zeitgeistdiagnose: Die Vereinbarkeitslüge
Essay von Alexander Grau
Wir wollen beruflichen Erfolg, viel Freizeit, Kinder. Doch wir müssen lernen, dass es Dinge gibt, die unvereinbar sind. Lebensentscheidungen haben ihren Preis, und es ist nicht Aufgabe des Staates, hier Ausgleich zu schaffen. Von Alexander Grau.
Vereinbarkeit ist der Fetisch unserer Zeit. Alles muss vereinbar sein: Arbeit und Freizeit, Gelderwerb und Selbstverwirklichung und – natürlich – Beruf und Familie, Kinder und Karriere. Der Mensch der Postmoderne, insbesondere der deutsche Mensch der Postmoderne, hätte am liebsten das komplett folgenlose Leben: Wohlstand ohne Kraftwerke, Mobilität ohne Straßen, Physalis ohne Globalisierung.
Doch leider: So ist das Leben nicht. Wer immer diese Welt geschaffen hat, er hat einen Haken eingebaut: Handlungen haben Konsequenzen. Das ist natürlich ärgerlich. Und das ist nicht einmal zynisch gemeint. Es wäre ja so schön: zu Handeln und die Folgen nicht tragen zu müssen. Freiheit ohne Verantwortung, Autonomie mit Vollkasko, Sünde ohne Reue.
Hinzu kommt, dass dem Wunsch nach Vereinbarkeit des Unvereinbaren zunächst auch eine enorme zivilisatorische und emanzipierende Kraft innewohnt. Nehmen wir die Einführung des Pfluges, die Dreifelderwirtschaft oder die Erfindung der Dampfmaschine: diese Techniken sind Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses, mit weniger oder leichterer Arbeit zugleich mehr ernten oder herstellen zu können. In diesem Sinne ist Zivilisation das Ergebnis des menschlichen Versuchs, das Unmögliche möglich zu machen.
„Der neue, postmoderne Kult um die Vereinbarkeit ist eben nicht Ausdruck mutigen, visionären und optimistischen Denkens. Er ist genau das Gegenteil.“
Es spricht daher auch gar nichts dagegen, weiterhin zu versuchen, Dinge miteinander zu vereinbaren, die uns heute noch unmöglich erscheinen: bezahlbare und umweltfreundliche Energie für Milliarden von Menschen, globalen Wohlstand und intakte Natur, Alter ohne Alterskrankheiten.
Verzagtheit, Fortschrittsskepsis und Technikfeindlichkeit sind das Letzte was wir brauchen. Die Menschheit wird die Probleme vor denen sie steht, nur meistern, wenn es weiterhin Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure gibt, die versuchen, Dinge miteinander zu vereinbaren, die uns heute noch unvereinbar erscheinen.
Doch genau hier liegt das Problem: Der neue, postmoderne Kult um die Vereinbarkeit ist eben nicht Ausdruck mutigen, visionären und optimistischen Denkens. Er ist genau das Gegenteil. Er ist das Ergebnis von Bequemlichkeit, Einfallslosigkeit und Realitätsverweigerung. Die zeitgenössische Sehnsucht nach Vereinbarkeit ist nichts anderes als die postmoderne Variante der Vogel-Strauß-Taktik: Kopf in den Sand, Forderungen stellen und auf das Beste hoffen.
Deutlich wird das schon bei technischen Herausforderungen: Energie wollen wir alle, aber einen Strommast vor der Haustür oder gar ein Kraftwerk, das geht nun wirklich nicht. Und natürlich möchten wir mobil sein und mehrmals im Jahr in Urlaub fahren, doch eine Bahntrasse in der Nähe, einen Flugplatz oder auch nur eine weitere Startbahn, das ist nicht so fein.
„So richtig frei fühlt sich der moderne Deutsche erst, wenn er nicht nur der grenzenlose Herr seiner Biografie ist, sondern die Folgen privater Entscheidungen im Zweifelsfall an die Gesellschaft delegieren kann.“
Noch ärger wird dieser zum Prinzip erhobene Realitätsverlust allerdings bei ganz persönlichen, individuellen Problemen. Denn hier bietet sich scheinbar ein wunderbarer und einfacher Ausweg. Wenn ich nicht bereit bin, die Konsequenzen meines Handelns zu tragen und zu akzeptieren, dass persönliche Entscheidungen auch persönliche Folgen haben, dann wende ich mich einfach an die Gemeinschaft. Die muss dann helfen. Und wenn sie das nicht tut, dann ist sie eben unsolidarisch, unsozial und neoliberal.
Man kann lange darüber streiten, ob diese Entwicklung das Zeichen einer zunehmenden Infantilisierung ist oder schleichender Wohlstandsdegeneration. Auf jeden Fall macht sich seit Jahrzehnten die Neigung breit, Kosten privater Entscheidungen und Lebensentwürfe zu sozialisieren und auf die Gesellschaft zu übertragen – insofern ist der Bankensektor lediglich einem allgemeinen Trend gefolgt.
In gewisser Hinsicht ist es nur Konsequent: Aus dem Recht, tun und lassen zu dürfen, was man will, wird der Anspruch auf umfassende soziale und finanzielle Unterstützung abgeleitet. Die Übernahme von Verantwortung wird nicht als konsequente Folge individueller Freiheit gesehen, sondern als deren Einschränkung. So richtig frei fühlt sich der moderne Deutsche erst, wenn er nicht nur der grenzenlose Herr seiner Biografie ist, sondern die Folgen privater Entscheidungen im Zweifelsfall an die Gesellschaft delegieren kann. Das leuchtet natürlich sofort ein, ändert aber nichts daran, dass hier der Gesellschaft Lasten aufgebürdet werden, für die diese nicht zuständig ist. Von dem Läppischen dieser Lebenshaltung erst gar nicht zu sprechen.
„Wir sollten wieder lernen, dass es Dinge gibt, die unvereinbar sind. Lebensentscheidungen haben ihren Preis, und es ist nicht Aufgabe der Gesellschaft, diese auszugleichen.“
Die weisen Väter der amerikanischen Verfassung formulierten nicht ohne Grund das Recht des „pursuit of happiness“, also das Recht, nach dem eigenen Glück zu streben. Von einem Recht auf Glück ist dort nicht die Rede. Denn Menschen können scheitern, mit ihrer Berufswahl, ihren Träumen und Visionen. Oder der eigene Lebensentwurf kann sich als schwierig erweisen, als aufwendig und unvereinbar mit anderen Bedürfnissen, Vorlieben und Zielen. Menschen haben in der Regel verschiedene Prioritäten. Sie unter einen Hut zu bringen, ist mitunter unmöglich. Wer Künstler werden will, wird nicht ökonomisch abgesichert sein, semiprofessioneller Hobbysportler, die viel trainieren, müssen beruflich oder privat Abstriche machen, und wer eine Familie gründet – damit wären wir beim Kern des Vereinbarkeitsthemas –, wird in vielerlei Hinsicht zurückstecken müssen, etwa bei der Karriere.
Familie und Karriere sind zunächst einmal aber unvereinbar. Das muss einem klar sein und ergibt sich aus der Logik der Sache. Kinder brauchen Zuwendung. Zuwendung braucht Zeit. Diese Zeit wird woanders fehlen. Deshalb müssen Eltern Abstriche machen: bei ihrem Sport, ihren kulturellen Interessen, ihren Freunden und auch bei ihrer Arbeit. Kinder sind nicht nur unvereinbar mit der Karriere, sie sind generell unvereinbar mit dem Lebensstil bislang Kinderloser. So ist das. Und wer Menschen, die über eine Familiengründung nachdenken, das Gegenteil einredet, handelt grob fahrlässig.
Handlungen haben Folgen. Kinder zum Beispiel benötigen sehr viel Zeit. Deshalb wird der kinderlose Mensch mehr Zeit investieren können: etwa in sein Lauftraining, in seine Bildung, seine sozialen Kontakte – oder in seine Karriere.
Um zwei möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Kinder sind etwas Großartiges! Sie entschädigen für alle Entsagungen, die sie mit sich bringen. Hundertfach. Doch man darf nicht so tun, als gäbe es diese Entsagungen nicht. Und: Nirgendwo steht geschrieben, dass allein die Karriere der Frau unter Kindern zu leiden habe. Im Idealfall werden die Karrieren von Mama und Papa gleichermaßen belastet – beide jeweils ein bisschen. Statt zu suggerieren, es sei nur eine Frage sozialstaatlicher Organisation, Mutterschaft und Karriere zu vereinbaren, wäre es sehr viel ehrlicher zu sagen: Elternschaft schränkt ein, Vater und Mutter – auch in ihren Karrieren.
Wir sollten wieder lernen, dass es Dinge gibt, die unvereinbar sind. Lebensentscheidungen haben ihren Preis, und es ist nicht Aufgabe der Gesellschaft, diese auszugleichen. Wer Künstler werden will, soll das versuchen, wer für den Iron Man trainiert, soll das tun, und wer Kinder bekommen möchte, soll Kinder bekommen – Letzteres empfehle ich sogar ganz ausdrücklich. Nur bitte: Seid erwachsen und tragt die Folgen selbst – das Glück, das aus solchen Entscheidungen entsteht, ist ja auch ein ganz persönliches.