02.12.2013

Zeitgeist: Schreckgespenst „Sklaverei“

Von Frank Furedi

Für viele ist der Fall des Londoner „Sklavenhauses“ nur die Spitze des Eisberges. „Sklaverei“ sei heutzutage ein echtes Problem in westlichen Gesellschaften. Der Soziologe Frank Furedi widerspricht und fragt, was wirklich hinter der inflationäre Verwendung dieses Begriffs steckt

Ende November schien es so als hätte die britische Gesellschaft jegliche Moral verloren. Auf sämtlichen Nachrichtensendern dominierte die sensationelle Geschichte der dramatischen Rettung von drei Sklaven, die im Süden von London gefangen gehalten wurden. Plötzlich witterte man überall die Unmoral. In wie vielen Haushalten würde man noch Sklaven im Keller finden? Laut Berichterstattung erfolgte die Rettung der drei Sklaven im Rahmen einer komplexen Polizeioperation mit 30 Beamten und in enger Zusammenarbeit mit „Experten für Sklaverei“.

Der Fall des so genannten „Sklavenhauses“ wurde immer mehr dramatisiert. Schnell hieß es, das sei keine einmalige Entgleisung menschlichen Verhaltens sondern vielmehr ein weit verbreitetes Phänomen. Schon bald kursierten in den Medien Schätzungen über 4000 weitere Fälle von Sklaverei. Die Sun berichtete gar, die 30 Jahre lang versklavten Frauen zählten zu den „5000 Gefangenen Großbritanniens.“ Nachdem tagelang über tausende im modernen Großbritannien im wahrsten Sinne des Wortes versklavte Menschen berichtet worden war, waren diese erfundenen Zahlen schließlich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Bei den Boulevardzeitungen sind irreführende Berichte keine Überraschung, aber auch führende Politiker schürten die Sklaverei-Hysterie. Allen voran die ansonsten durchaus besonnene britische Innenministerin Theresa May. „Das ist allgegenwärtig und passiert in den unscheinbarsten Gegenden“, schrieb sie im Telegraph. Wir alle seien von einer für längst überwunden gehaltenen unsichtbaren Bedrohung umgeben: „Sie geht durch unsere Straßen, beliefert Geschäfte und Supermärkte, arbeitet auf den Feldern, in Fabriken oder Bars, gefangen in Bordellen oder versteckt hinter den Vorhängen einer beliebigen Straße: Sklaverei.“

Aufgegriffen wurde die Idee der Sklaverei als einer versteckten oder unsichtbaren Bedrohung dann vom britischen Arbeitsminister Frank Field. Die Entdeckung der drei versklavten Frauen sei nur „die Spitze des Eisbergs“, sagte er. So wird ein lediglich vorstellbares aber keineswegs sichtbares Problem heraufbeschworen. Gesehen haben wir angeblich nur die winzige Spitze einer grenzenlosen Gefahr gigantischen Ausmaßes. Vermutlich deswegen hat Field dann wohl auch die Einführung der Position eines „Anti-Sklaverei Beauftragten“ empfohlen, der eine Kampagne gegen die Sklaverei führen soll.

„Der heutige Gebrauch des Begriffs Sklaverei in den Medien und der auf Medienwirksamkeit setzenden Politik hat mit seiner ursprünglichen Verwendung nichts mehr zu tun.“

Die Beschaffenheit des Eisbergs

Wie auch immer wir das erschreckende Elend in dem Süd-Londoner Haus beurteilen, man muss erkennen, dass der heutige Gebrauch des Begriffs Sklaverei in den Medien und der auf Medienwirksamkeit setzenden Politik mit seiner ursprünglichen Verwendung nichts mehr zu tun hat.

Laut Oxford English Dictionary ist ein Sklave „jemand, der als Eigentum einer Person gilt und ihr gänzlich untersteht, entweder durch Gefangennahme, Kauf oder Geburt – ein aller Freiheiten und persönlicher Rechte beraubter Diener“. Sklaverei ist nicht mit physischer oder mentaler Beherrschung, mit Ausbeutung oder psychologischer Manipulation gleichzusetzen. Diese Formen der Unterwerfung sind natürlich erniedrigend und entmenschlichend, aber Sklaverei ist etwas anderes – es ist ein System der Unterdrückung, in dem ein Individuum unmissverständlich das Eigentum eines anderen ist.

Mit Frank Fields Hinweis, Kriminelle würden „ein Vermögen damit machen“, Menschen nach England zu bringen, die dann „fast umsonst arbeiten“, ist das Dilemma ausgebeuteter Arbeiter beschrieben, aber keineswegs Sklaverei. Leute, die „fast umsonst arbeiten“ nennt man meist „schlecht bezahlt“ oder „billige Arbeitskraft“. Im 19. Jahrhundert benutzten Kapitalismuskritiker, wie Proudhon und Marx, den Begriff „Lohnsklave“, um die Aufmerksamkeit auf die Misere der wirtschaftlich Ausgebeuteten zu lenken. Aber sie unterschieden klar zwischen echter Sklaverei und Lohnsklaven – letztere erklären sich mit den Anforderungen des Arbeitgebers freiwillig einverstanden, erstere nicht.

Die Erzählung von Behörden und Medien über die Ereignisse in Süd-London ist inkohärent. Zunächst sprach man von körperlicher Gefangennahme, während die Polizei später von „unsichtbaren Handschellen“ sprach. Die Opfer aus Süd-London seien 30 Jahre lang mit diesen unsichtbaren Handschellen festgehalten worden. Physische Gewalt und Misshandlung traten in den Hintergrund und ganz beiläufig wurde der Fall als „Gehirnwäsche“ neu definiert. Bald darauf hieß es dann, das Sklavenhaus sei von einer Sekte betrieben worden, womit in dieser sich ständig wandelnden Geschichte des Bösen dann die religiöse und psychologische Manipulation zum dominanten Thema wurde. Danach wurde behauptet, die Opfer seien durch eine „gemeinsame politische Ideologie“ an die Täter geraten, denn in den 1960er-Jahren seien sie alle Mitglieder einer marxistisch ausgerichteten politischen Gruppe gewesen.

„Jede Kontrolle des Verhaltens anderer scheint mit dem des Plantagenbesitzers gleichgestellt werden zu können, der seine in Ketten liegenden Sklaven auspeitscht.“

An diesem Punkt versuchte man dann, die Sklaverei-Geschichten wissenschaftlich zu legitimieren. Sogenannte „Kult-Experten“ wurden mit der Aussage zitiert, politische und religiöse Ideologien könnten bei den Anhängern eine Gehirnwäsche bewirken. Dr. Suzanne Newcombe, Expertin für Kulte und neue religiöse Bewegungen, ist nach eigenem Bekunden nicht überrascht von der Annahme, die 30 jährige Einkerkerung könne durch kultähnliche Zusammenhänge motiviert sein. Sie sagt, „alle ideologischen Überzeugungen wirken sich sehr stark auf das menschliche Verhalten aus“ und ergänzt: „Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Mann, der mehrere Jahre in einem Raum blieb, ohne ihn zu verlassen, obwohl er wusste, dass die Tür nicht verschlossen war und er physisch in der Lage war hinaus zu gehen. Er betrachtete die Sache sowohl als Bestrafung als auch als spirituelle Prüfung.“

Mittlerweile war in der Diskussion jeglicher Sinn für die begriffliche Unterscheidung zwischen „Sklaverei“, „Kultverhalten“ und „psychologischer Manipulation“ komplett verloren; jede Kontrolle des Verhaltens anderer schien mit dem des Plantagenbesitzers gleichgestellt werden zu können, der seine in Ketten liegenden Sklaven auspeitscht.

Zeit für die Realitätsprüfung

Wirkliche Sklaven auf Plantagen wurden jedoch in Ketten aus Metall gehalten, nicht in unsichtbaren Handschellen. Sie wurden nicht nur kontrolliert und manipuliert; sie wurden in ein Leben der Knechtschaft gezwungen. Ihre Herren verfolgten ihre Interessen nicht insgeheim; echte Sklaverei wurde vielmehr getragen und durchgesetzt von einem brutalen staatlichen Zwangssystem. Jeglicher Vergleich des tragischen Falls in London mit echter Sklaverei trivialisiert die historische Bedeutung des Sklavenhandels.

Laut den widersprüchlichen Berichten über die Vorkommnisse in dem mittlerweile als „Sklavenhaus“ bezeichneten Süd-Londoner Gebäude werden wir angeblich niemals genau wissen können, was zwischen den fünf Menschen dort vorgefallen ist. Tatsächlich sind zwischenmenschliche Beziehungen, die sich über Jahrzehnte entwickeln, meist sehr komplex. In Fällen, wie diesem, wo Menschen von einem dominanten Individuum emotional manipuliert und kontrolliert wurden, sind die zwischenmenschlichen Dynamiken sehr unklar und werden auch durch die melodramatische und historisch ignorante Rhetorik der letzten Tage nicht klarer.

Dominanz ist leider ein wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen. Das ist der Grund, weshalb es immer Menschen gab, die sich in einer Familie oder Beziehung gefangen fühlten und trotzdem zu hilflos waren, um zu gehen und ein neues Leben anzufangen. Manchmal sind sich sadistische und dominante Individuen durchaus bewusst, dass ihre Opfer Schwierigkeiten haben, sich ihrer Kontrolle zu entziehen, und setzen diese Macht dann ein, um ihre Opfer noch weiter auszunutzen und zu entwürdigen. Dabei stellt sich letztlich folgende Frage: Ab welchem Punkt wird dieses Verhalten ein gesellschaftlich relevantes Problem?

In einer demokratischen Gesellschaft, die ihre Bürger als moralisch autonom und für ihr Verhalten verantwortlich betrachtet, ist der Punkt der Legitimität rechtlicher Eingriffe in private Haushalte dann erreicht, wenn ein gestörtes System sozialer Kontrolle dazu führt, dass Menschen unter Umständen leben, denen sie nicht zustimmen. Wenn Individuen die Freiheit versagt wird, am sozialen Leben teilzuhaben oder die Familie zu verlassen, um ein neues Leben zu beginnen, dann ist es legitim diejenigen zu kriminalisieren, die diese Menschen gegen ihren Willen festhalten.

Nutzlose Rhetorik

Die rasante Eskalation der alarmierenden Rhetorik in der Diskussion über das Süd-Londoner „Sklavenhaus“ ist Teil einer momentanen Tendenz, Konflikte und Beziehungen im Lichte einer unterstellten Verdorbenheit und Boshaftigkeit des Menschen sowie seines angeblichen Hangs zum Missbrauch zu interpretieren. Die Diskussion zwischenmenschlicher Beziehungen setzt in den letzten Jahren immer mehr auf effektheischerische Analogien mit der Sklaverei.

Anfang des Monats behauptete die ehemalige Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten, Sarah Palin, wenn Amerika sich Geld von China leiht, dann sei das wie Sklaverei, denn „wir werden einem ausländischen Herrn verpflichtet sein“. Diesen Sommer feuerte der ehemalige Gouverneur von Arkansas, Mike Huckabee, Unterstützer eines Gesetzes gegen Abtreibung mit der Behauptung an, Abtreibung sei wie Sklaverei. Und Englands ehemaliger katholischer Kardinal, Keith O’Brien, verurteilte gleichgeschlechtliche Ehen als „Verirrung“, die mit Sklaverei und Abtreibung vergleichbar sei.

Zahllose amerikanische Republikaner behaupteten, ihr Kampf gegen „Obamacare“ sei die neue Version des Kampfes gegen Sklaverei, wie er schon im 19. Jahrhundert geführt wurde. Auch die Aktivisten zur Bekämpfung des Klimawandels stellen vergleichbare Behauptungen auf, wenn sie meinen, ihre Gegner seien wie die „Sklavenbesitzer im 19. Jahrhundert, die die Abschaffung der Sklaverei ablehnten“. Aber besonders verbreitet ist der falsche Gebrauch des Begriffs Sklaverei in der Diskussion über die Notlage von ausländischen Arbeitskräften, speziell Frauen, die von organisierten Schleppern in wohlhabende Industrienationen gebracht werden.

„Sklaverei funktioniert als öffentliche Fantasie, die die echten Probleme der Welt an die Seite drängt und durch eine Ideologie des Bösen ersetzt.“

Warum sind Politiker jeder Couleur so besessen von der Idee der Sklaverei? Warum bezeichnen viele Aktivisten und Kommentatoren Sexarbeiter, Migranten oder Mitglieder politischer Kollektive oft als „Sklaven“? Mir scheint der Missbrauch des Begriffs Sklaverei symptomatisch für die Erschöpfung des sozialen und politischen Vokabulars zu sein, mit dem moderne Probleme diagnostiziert und diskutiert werden. Sklaverei funktioniert als öffentliche akzeptierte Fantasie, die die echten Probleme der Welt verdrängt und durch eine Ideologie des Bösen ersetzt – wir müssen demzufolge also keine praktischen Lösungen mehr für die Probleme des Niedriglohnsektors oder die Ausbeutung der Einwanderer finden, sondern können stattdessen Front gegen die angeblich hinter diesen Phänomenen steckenden „bösen Sklavenbesitzer“ machen. Wenn die britische Innenministerin etwa öffentlich bekennt, die Bekämpfung der Sklaverei sei ihre „persönliche Priorität“, so tut sie das bemerkenswerterweise angesichts „insgesamt fallender Kriminalitätsraten, wobei die Zahl der Opfer von Sklaverei jedoch um 25% gestiegen“ sei. Eine Woche nachdem sich die Vorstellungen zur Kriminalität als falsch herausgestellt haben, beteuert die Innenministerin also, es sei Priorität die vermeintliche Plage der Sklaverei zu bekämpfen!

Kein Zweifel, diejenigen, die vom Schreckensgespenst der Sklaverei besessen sind, glauben ernsthaft, dieser angebliche Wiedergänger der Geschichte des Verbrechens drohe unsere Gesellschaften zu überrennen. Das ist mit der in den USA und Europa im 19. Jahrhundert entstandenen Panik vor „weißem Sklavenhandel“ vergleichbar, die ebenfalls zu einem kulturellen Mythos wurde, der die Vorstellungen der Öffentlichkeit für Jahrzehnte bestimmte. Aber die Weitergabe von Mythen ist ein trauriger Ersatz für rational geführte öffentliche Diskussionen – etwa über den Unterschied zwischen echtem Zwang und solchen Handlungen, die die Fähigkeit von Individuen schwächen, Entscheidungen für sich selbst zu treffen.

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