11.07.2023

Wogegen Israel kämpft

Von Daniel Ben-Ami

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Foto: 31774 via Pixabay / CC0

Die Islamisten in Dschenin stellen eine existenzielle Bedrohung für Israelis dar. Aber auch die palästinensische Sache nimmt durch den zunehmenden islamistischen Einfluss Schaden.

Vorletzte Woche marschierte Israel in einer groß angelegten Aktion in Dschenin im nördlichen Westjordanland ein. Zwischenzeitlich wurden die Truppen wieder zurückgezogen. Der Einmarsch rief breite internationale Verurteilung hervor. Vor allem, weil die israelischen Streitkräfte (IDF) mit mehr als 1000 Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen, militärischen Bulldozern, Drohnen und Kampfhubschraubern in ein Flüchtlingslager vordrangen. Es handelte sich um die größte Operation Israels im Westjordanland seit über 20 Jahren.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die Organisation, die offiziell die palästinensischen Gebiete im Westjordanland kontrolliert, kritisierte die Aktion scharf. Ein Sprecher des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas bezeichnete sie als „ein neues Kriegsverbrechen gegen unser wehrloses Volk". Dieser Lesart zufolge sind die mächtigen IDF an einem weiteren brutalen und sinnlosen Angriff auf die Palästinenser beteiligt. Soweit bisher bekannt, hat das israelische Militär mindestens 12 Palästinenser in Dschenin getötet und über 100 verwundet, von denen sich 20 in kritischem Zustand befinden. Ein weiterer Palästinenser wurde jüngst bei einem israelischen Militärangriff in der Stadt Ramallah im Westjordanland getötet. Etwa 3000 palästinensische Zivilisten sind angesichts des Angriffs aus Dschenin geflohen.

Israel hingegen argumentiert, dass sich seine Operation mit dem inoffiziellen Namen Bayit Vagan (Haus und Garten) auf das konzentriert, was es als „terroristische Infrastruktur" bezeichnet. Das israelische Außenministerium erklärte: „In den letzten zwei Jahren hat sich Dschenin zu einem wichtigen Zentrum des Terrorismus und zu einer iranischen Hochburg in der Nähe israelischer Bevölkerungszentren entwickelt. Die meisten Terroranschläge gegen Israelis gingen von Dschenin aus". Zu den Zielen der IDF gehört es, Bewaffnete ins Visier zu nehmen, Gesuchte zu verhaften sowie Waffenlabors und Kommandozentralen zu zerstören. Israel tut nach einer Aussage sein Bestes, um die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren.

Konflikt mit Opfern

Der jüngste israelische Vorstoß stellt eine Verschärfung eines Konflikts dar, der schon seit einiger Zeit eskaliert. In diesem Jahr wurden auf israelischer Seite bisher etwa 29 Menschen (einschließlich Ausländer) von palästinensischen Militärs getötet und 270 verwundet. Israel behauptet, die Zahl wäre noch viel höher, wenn es nicht präventiv militärische Angriffe auf islamistische Terrororganisationen durchgeführt hätte. Es verweist auch auf sein Raketenabwehrsystem Iron Dome, das die Bevölkerung vor Raketenangriffen schützt.

Die Zahl der palästinensischen Opfer ist wesentlich höher und liegt in diesem Jahr bisher bei etwa 200 Personen. Ein erheblicher Teil von ihnen, wenn auch bei weitem nicht alle, waren jedoch Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl dieser Todesopfer ist auch auf palästinensischen Beschuss zurückzuführen, da die auf Israel gerichteten Raketen nicht planmäßig einschlugen, sondern palästinensische Wohngebiete trafen.

„Der Einmarsch in Dschenin ist Teil eines sich zuspitzenden Konflikts, der bereits seit über einem Jahr andauert.“

Die Palästinenser haben auch unter der so genannten Siedlergewalt gelitten. In letzter Zeit randalieren viele bewaffnete jüdische Siedler in palästinensischen Gebieten im Westjordanland. Die Siedler behaupten, sie seien auf der Suche nach Terroristen. Bei solchen Razzien werden routinemäßig Häuser, Autos und Felder zerstört. Offiziell ist Israel dagegen, dass die Siedler das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Doch in der Praxis lässt das israelische Militär sie oft ungestraft handeln.

Um zu verstehen, was vor sich geht, muss man jedoch über die schrecklichen Opferzahlen hinausgehen und die jüngsten Entwicklungen genauer untersuchen. Kritiker Israels neigen dazu, den Überfall auf Dschenin dem Einfluss weit rechts stehender Figuren in der israelischen Regierung zuzuschreiben. Die bekanntesten dieser israelischen Hardliner sind Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit, und Bezalel Smotrich, der Finanzminister. Der Einfluss dieser Personen wird jedoch überbewertet. Tatsächlich begann die jüngste Eskalation der israelischen Militärangriffe im Westjordanland schon lange vor den letzten Wahlen im November 2022, als diese Rechtsaußen-Minister in die Regierung gewählt wurden.

Der Einmarsch in Dschenin ist Teil eines sich zuspitzenden Konflikts, der bereits seit über einem Jahr andauert. Bereits im März 2022 startete das israelische Militär die so genannte Operation Breaking the Wave (Die Welle brechen), um der wachsenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus zu begegnen. Seitdem hat es häufig Razzien in Dschenin durchgeführt, das es als Stützpunkt für Terroristen betrachtet – auch wenn diese Razzien weniger umfangreich waren als jetzt.

Islamisten statt Nationalisten

Um die Dynamik des gegenwärtigen Konflikts zu verstehen, muss man erkennen, dass nicht nur zwei, sondern drei Gruppen von Akteuren beteiligt sind. Es handelt sich nicht um einen einfachen Kampf zwischen Israel und den Palästinensern. Stattdessen gibt es Israel, die zunehmend schwächer werdende Kraft des palästinensischen Nationalismus und die wachsende Kraft des Islamismus.

Der Hintergrund des seit zwei Jahren eskalierenden Konflikts ist der sich schrittweise vollziehende Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die PA wird von palästinensischen nationalistischen Gruppen kontrolliert. Diese waren einst unter den Palästinensern populär, sind jetzt aber weitgehend diskreditiert. Der Niedergang der PA hat ein Vakuum hinterlassen, das es islamistischen Gruppen ermöglicht, zunehmend die Kontrolle über Städte im nördlichen Westjordanland, wie Dschenin und Nablus, zu übernehmen.

„Das Ziel islamistischer Gruppen ist keinesfalls die nationale Selbstbestimmung der Palästinenser.“

Es gibt gute Gründe, warum die PA ihren Einfluss verloren hat. In einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage unter Palästinensern im Westjordanland gaben 86 Prozent an, die PA sei korrupt. Ihr 87-jähriger Führer, Mahmoud Abbas (auch bekannt als Abu Mazen), wurde 2005 für eine vierjährige Amtszeit gewählt und ist seitdem nicht mehr rechtmäßig wiedergewählt worden. Seit langem wird erwartet, dass sein Tod den völligen Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde und die Übernahme des Gebiets durch die Islamisten zur Folge haben wird. In Wahrheit ist dieser Prozess jedoch schon bereits in vollem Gange.

Dadurch befinden sich sowohl Israel als auch die Palästinenser in einer ungünstigen Lage. Für Israel bedeutet diese Situation, dass die Verteidigung seiner Bürger nun oft in einen direkten Konflikt mit bewaffneten islamistischen Gruppen in den palästinensischen Bevölkerungszentren mündet. PA-Truppen, die für Recht und Ordnung sorgen, gibt es dort nicht mehr.

Für die Palästinenser bedeutet diese Situation nicht nur, dass sie in einen direkten Konflikt mit Israel geraten. Sondern auch, dass niemand mehr für ihre nationale Sache kämpft. Das Ziel islamistischer Gruppen ist keinesfalls die nationale Selbstbestimmung der Palästinenser. Ganz im Gegenteil: Sie stehen allen Nationalstaaten feindselig gegenüber. Ihr Ziel ist eine internationale islamische Ordnung, die über die Staaten hinausgeht. Für die Islamisten ist der Kampf gegen Israel – oder der Kampf gegen das kosmisch-satanische Böse der Juden, wie sie es sehen – nur ein Schritt zur Verwirklichung dieser neuen Weltordnung.

Bösartig und bewaffnet

Tragischerweise befördert das derzeitige politische Vakuum bewaffnete islamistische Gruppen wie die Hamas und den Palästinensischen Islamischen Dschihad in eine starke Position. Sie können sich als Verteidiger der Palästinenser ausgeben und gewinnen durch ihren Kampf gegen Israel an Legitimität. Leider wird in den internationalen Kommentaren zum Westjordanland-Konflikt der bösartige Charakter dieser Gruppen regelmäßig nicht verstanden oder in einigen Fällen bewusst heruntergespielt. Die Behauptung Israels, es kämpfe gegen Terroristen, wird als Übertreibung abgetan. Die Gefahr, die von diesen Gruppen ausgeht, ist jedoch sehr real.

Die palästinensischen islamistischen Gruppen sind Teil eines schwer bewaffneten Netzwerks islamistischer Kämpfer aus der ganzen Region. Sie genießen auch erhebliche Unterstützung, unter anderem aus dem Iran. Ihr erklärtes Ziel ist der Massenmord an Juden oder zumindest deren Vertreibung aus Israel. Das wissen wir nicht aus der israelischen Propaganda, sondern weil es die Gruppen selbst so sagen. In den westlichen Medien stellen sie sich in der Regel als heldenhafte Freiheitskämpfer dar. Aber in den arabischen Medien ist die Darstellung völlig anders.

Westliche Journalisten verbreiten irreführende Behauptungen über diesen Konflikt. Nehmen wir die oben zitierte Behauptung von Mahmoud Abbas, Dschenin sei „wehrlos". Es stimmt natürlich, dass die palästinensische Zivilbevölkerung unbewaffnet ist. Aber die islamistischen Gruppen dort sind gut mit Waffen ausgestattet. Die Beerdigung islamistischer Kämpfer in Dschenin im Dezember 2022 lieferte ein anschauliches Beispiel. Eine Fernsehsendung der Nachrichtenagentur Alray zeigte Dutzende von palästinensischen Kämpfern, die mit Sturmgewehren bewaffnet waren.

„Was hier geschieht, ist eine Tragödie, aber eine, die nicht annähernd so simpel ist, wie man es uns im Westen glauben machen will.“

Und das ist noch nicht alles, was ihnen an Waffen zur Verfügung steht. Vor wenigen Wochen wurden mehrere israelische Soldaten in einem schwer gepanzerten Fahrzeug durch einen improvisierten Sprengsatz (IED) in Dschenin verwundet. Dies war nicht der erste Einsatz eines Sprengsatzes durch islamistische Kräfte, aber sie werden immer wirkungsvoller. Es ist äußerst unehrlich zu behaupten, dass diese islamistischen Gruppen unbewaffnete, wehrlose Palästinenser vertreten.

Vielmehrt sind diese Gruppen Teil eines beeindruckenden internationalen Militärnetzwerks. Dazu gehören die einflussreichen Hamas-Kräfte in Gaza, die Hisbollah im Libanon und auch islamistische Kräfte in Syrien. Sie alle werden in erheblichem Maße vom Iran unterstützt, der sich nach eigenen Angaben der Zerstörung Israels verschrieben hat.

Die wahren Ziele dieser Gruppen sind überdeutlich. Ziyad al-Nakhalah, der Führer des Palästinensischen Islamischen Dschihad, hat ausdrücklich die Vertreibung der Juden aus der gesamten Region gefordert. In einem Interview mit Al-Alam TV, einem arabischen Nachrichtensender aus dem Iran, sagte er im Juni, seine Organisation wolle „die Juden aus Palästina, Galiläa und überall sonst vertreiben". Hinzu kommen die unzähligen Morddrohungen gegen Juden, die von islamistischen Gruppen in arabischen Sendungen offen ausgesprochen werden. Im Jahr 2021 rief Fathi Hammad, ein hoher Hamas-Funktionär, die Palästinenser in Jerusalem dazu auf, Juden zu enthaupten.

Israels militärischer Einmarsch in Dschenin ist zweifellos eine Tragödie für die palästinensische Zivilbevölkerung, die ins Kreuzfeuer geraten ist. Es wäre jedoch falsch, ihn einfach als Beispiel für den Kampf zwischen dem palästinensischen Guten und dem israelischen Bösen zu betrachten. Vielmehr spiegelt er die schreckliche Sackgasse wider, in die die Lage geraten ist. In dieser Situation verteidigt sich Israel gegen eine tödliche islamistische Bedrohung und die Palästinenser haben niemanden, der für ihre Sache kämpft. Was hier geschieht, ist eine Tragödie, aber eine, die nicht annähernd so simpel ist, wie man es uns im Westen glauben machen will.

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