19.07.2013

Wissenschaft: Unsere neue Religion?

Von Brendan O’Neill

Die heutige Politik wird zunehmend von Wissenschaftlern und nicht vom Volk gestaltet. Diese Entwicklung lässt keinen Platz für demokratische Debatten im eigentlichen Sinn. Brendan O’Neill, Chefredakteur des Novo-Partnermagazins Spiked kritisiert die neue Wissenschaftsgläubigkeit

Im Laufe der Geschichte ist eines der Hauptargumente gegen Bürgerbeteiligung in der Politik immer wieder die Überzeugung gewesen, dass es gewöhnlichen Menschen an Fachwissen fehle. Diese besäßen nicht die nötige Kompetenz, um sich mit komplizierten Themen und Problemen auseinanderzusetzen. Blickt man also auf die Debatte über das allgemeine Männerwahlrecht im 19. Jahrhundert zurück, fällt auf, dass regelmäßig wiederholt wurde: Ja, Arbeiter sind wirklich tolle und wichtige Menschen – gut im Arbeiten mit ihren Händen, im Bauen von Gebäuden und so weiter. Für das Politikgeschäft jedoch sind sie ungeeignet. Ein Mitglied der konservativen Tories meinte, es mangele ihnen an „Sachkenntnis und Erfahrung“, welche die Staatskunst erfordere. Das Gleiche wurde den Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgesagt. Ja, Frauen sind toll – sie kümmern sich um die Kinder und den Haushalt, manche von ihnen üben sogar einen Beruf aus, womit wir vollkommen einverstanden sind. Aber ihnen fehle der Sachverstand, um wählen oder sich politisch engagieren zu können. Ein Autor fasst die damalige Opposition gegen das Frauenwahlrecht folgendermaßen zusammen: Frauen „ließen in den Bereichen Marine, Militär, Handel, Diplomatie und Gesetzgebung die Fachkompetenz vermissen, die für ein sachkundiges politisches Engagement jedoch unerlässlich ist.“ Einer der wesentlichen Faktoren für die Einführung der zweiten Kammer im Aufbau des politischen Systems, wie z.B. im britischen Oberhaus oder im amerikanischen Senat, war die Auffassung, Expertendiskussionen müssten als Gegengewicht zu den wechselhaften politischen Meinungen des einfachen Volkes berücksichtigt werden. Diese Kammern werden von manchen immer noch als Orte der Besonnenheit geschätzt, wo erfahrene Persönlichkeiten ein wachsames Auge auf die Projekte der schlechter informierten Bürgerlichen und ihre Politiker haben.

Mehr Experten weniger Volk

Die Idee, dass wir mehr Sachkenntnis in der Politik brauchen, ist also nicht neu. Es gibt sie schon lange, und als Argument ist sie meiner Meinung nach von Beginn an auf der falschen Seite der Debatte über Demokratie genutzt worden. Dabei werden die Bürger tendenziell als nicht aufgeklärt genug für eine ernsthafte politische Debatte dargestellt, vor allem im Bereich von wirklich komplizierten Angelegenheiten wie etwa Krieg oder Rechtsfragen. Diese Sichtweise lebt heutzutage im weit verbreiteten Glauben weiter, wir bräuchten mehr Fachwissen und weniger Ideologien, mehr Wissenschaft, weniger Leidenschaft, mehr besonnene, gebildete Menschen und weniger Verrückte aus der Masse der Bevölkerung, die denken, sie wissen alles, aber eigentlich überhaupt nichts wissen. Der einzige Unterschied ist, dass früher dicke, alte Tories und steife, amerikanische Beamten behaupteten, dass die Politik besser durch Experten gestaltet werden sollte. Heute hingegen argumentieren junge Rationalisten und Humanisten, dass die Politik mehr Expertenbeiträge und weniger Effekthascherei in der Öffentlichkeit benötige, weniger Volksnähe, weniger schlecht informierte Leidenschaft und weniger halbgare Ideologien. Womöglich hat der heutige Aufruf nach mehr fachlicher Kompetenz drastischere Konsequenzen als früher, weil er so viel mitreißender ist; der Ruf danach, den Stimmen der Experten in fast jedem Bereich der politischen Entscheidungsfindung immer mehr Gewicht zuzuschreiben und den Wissenschaftlern eine sehr spezielle Position zu verleihen, wird immer lauter. In der aktuellen Situation sind wissenschaftliche Beweisführung und Expertise die wichtigsten Treiber der Politik. Aufgrund vieler komplizierter historischer Gründe sind Politiker nicht länger der Meinung, sie hätten die moralische oder vom Wähler übertragene Legitimation zu urteilen und Entscheidungen zu treffen. Daher überlassen sie ihre Kompetenzen Wissenschaftlern oder anderen Forschern. Die Politiker nehmen diese Berater in Anspruch, damit sie ihnen die Autorität liefern, damit sie ihnen eine gute, starke, von Fachleuten überprüfte Handlungsgrundlage für ein bestimmtes Vorgehen liefern, für das sie sich oft ohnehin schon entschiedene hatten, sich aber moralisch zu ungeschützt gefühlt hatten, um einen Vorstoß zu wagen.

„Die Rolle der Meinungen des einfachen Volkes bei der Entscheidungsfindung wird geschmälert“

In meinen Augen leidet sowohl die Politik als auch die wissenschaftliche Forschung unter dieser Vermischung von Kompetenzen. Das führt uns letztendlich zu keinem guten Ergebnis, da die Politik von “wissenschaftlicher Evidenz” dominiert wird und Wissenschaft wiederum von der Politik beherrscht wird. Die Politik leidet, weil sie unvermeidlich steifer wird. Es ist schwierig, eine ernsthafte politische Debatte über eine Vorgehensweise zu führen, wenn diese als das wissenschaftlich richtige Handeln beschrieben wird. Jeder, der zweifelt, wird als wissenschaftsfeindlich, als Abweichler, als Leugner abgeschrieben. Die moralische Debatte liegt im Sterben oder leidet zumindest stark, wenn die Autorität zunehmend wissenschaftlich und von Experten geleitet wird. Und die Forschung leidet, weil sie unausweichlich verunreinigt wird. Je öfter die Politiker Wissenschaftler um Beweise und Statistiken bemühen, desto stärker werden sich die Forscher gezwungen fühlen, das Richtige zu tun, nämlich den Politikern die Art von Information zu liefern, die deren Pläne legitimieren. Die Menschen beschweren sich oft über von Unternehmen finanzierte, wissenschaftliche Forschung und deren potenzielle Einfluss auf die Ergebnisse. Aber was ist, wenn sich der konservative britische Arbeits- und Rentenminister, Iain Duncan Smith, auf die Suche nach Bestätigungen für seine antiliberale, ins Familienleben eindringende Politik begibt oder der Innenminister eine Rechtfertigung für ein öffentliches Rauchverbot braucht? Korrumpiert das auf Dauer nicht auch die wissenschaftliche Forschung? Das Schlimmste ist, dass der zunehmende Rückgriff der Politiker auf die Wissenschaft und die Bereitschaft mancher Wissenschaftler, der Entwicklung widerstandslos zu folgen, die Rolle der Öffentlichkeit und damit des Engagements der Masse bei der politischen Entscheidungsfindung schmälert. Je mehr Politik zu einem Projekt der Experten wird, desto kleiner wird der Raum für die ideologischen, leidenschaftlichen oder schädlichen Ansichten der Bevölkerung – diese sind unwissenschaftlich und ihnen Beachtung zu schenken, sei laut vielen Experten letztlich nichts anderes als vorgetäuschte Volksnähe. Aber bei den diskutierten Themen handelt es sich weder ursprünglich noch ausschließlich um wissenschaftliche Problematiken. Ob bestimmte Drogen verboten werden sollten, ist eine moralische Frage. Ob die Regierung das Recht haben sollte, zu bestimmen, wie Eltern ihre Kinder erziehen sollten, ist eine politische Frage. Einfache Männer und Frauen haben über Jahrhunderte hinweg für das Recht gekämpft, Moral zu definieren, Politik zu gestalten, ihre eigenen Schicksale und das ihrer Nation selbst zu bestimmen und zu leiten. Und auch wenn sie nicht so schlau sein mögen, wie manche Menschen in diesem Raum, haben sie Wünsche, Überzeugungen und eine Sehnsucht nach Eigenständigkeit, und das ist wirklich alles, was man braucht, um Politik anständig gestalten zu können.

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