06.03.2014

Wir sind die Guten

Kommentar von Stefan Korinth

Die deutsche Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt ist von einseitiger Parteinahme geprägt. So tragen die Medien nicht zur Aufklärung bei. Es dominieren Unwissenheit, Russophobie und Herdentrieb – alternative Deutungen sind Mangelware.

„Auf nach Kiew“, „Der Westen muss Putin Grenzen setzen“, „Appeasement hilft nicht weiter“[1]: In deutschen Zeitungen wird wieder gehetzt. Die großen Medien hierzulande ergreifen Partei – und zwar von seltenen Ausnahmen abgesehen dieselbe. Viele Journalisten scheinen mental unfähig zu professioneller Neutralität. Sie denken in Schemen von Freund und Feind, von Wir und Die, von Schwarz und Weiß. Viele Journalisten glauben selbst so sehr an ihre verzerrten Darstellungen, dass sie wichtige Entwicklungen nicht verstehen. Die Berichte und Kommentare zum Konflikt in der Ukraine zeigen das überdeutlich.


Heute keine Nachfragen! Als der „Presseclub“ zum Konflikt in der Ukraine am 23. Februar endete, durften die Zuschauer nicht wie gewohnt noch eine Viertelstunde telefonisch bei den anwesenden Journalisten nachhaken. „‘Presseclub nachgefragt‘ entfällt“, hieß es auf der ARD-Website knapp. Grund war wohl Olympia in Sotschi. Welche Ironie, dass die öffentliche Meinungsvielfalt in Deutschland ausgerechnet wegen Wladimir Putin beschnitten wird.

Das entscheidende Wort hierbei ist aber nicht Putin, sondern Meinungsvielfalt. Genau das wäre das kritische Nachfragen der „Presseclub“-Zuschauer nämlich gewesen: eine immerhin kurze Debatte unterschiedlicher Sichtweisen. In der Sendung selbst gab es das nicht. Die Aussagen der eingeladenen Journalisten wichen nur selten nennenswert voneinander ab. Eine wirkliche Diskussion, hätte hier nur von außen initiiert werden können. Und auch sonst bewegt sich die Mehrheit deutscher Auslands-Kommentatoren auf einer Linie.

„Die Schere im Kopf verhindert, dass kritische Fragen an „Aktivisten“ auf die journalistische Tagesordnung kommen.“


Seit Jahren verfestigt sich schon der Eindruck, dass die großen deutschen Medien in ihrer Auslandsberichterstattung (aber nicht nur dort) Einheitsbrei produzieren. Afghanistan, Irak, Georgien, Libyen, Ägypten, Syrien – bei ausländischen Konflikten blieben die journalistischen Deutungsmuster oft symmetrisch, ja geradezu austauschbar. Das Vokabular ist das Gleiche, egal ob bei phoenix oder RTL. Die Schlussfolgerungen sind dieselben, egal ob in der taz oder F.A.Z.: Der Westen muss helfen, Russland blockiert, Krieg ist die Ultima Ratio, Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen.

Keine alternativen Sichtweisen

Das Problem ist dabei ausdrücklich nicht, dass Journalisten ihre eigene Meinung äußern – solange sie dies gemäß den Regeln des Journalismus und in den hierfür vorgesehenen Formaten tun. [2] Das Problem ist vielmehr, dass es vor allem die konfrontative Sicht der Dinge zu geben scheint. Das Freund-Feind-Denken hat Konjunktur, alternative Deutungen bleiben Mangelware – obwohl es sie durchaus auch gibt, wie vereinzelte Kommentare in verschiedenen Medien zeigen. [3] Diese Situation schafft viele Nachteile.

Zum einen machen sich Journalisten durch ihre geschlossene Parteinahme in solchen Konflikten zu nützlichen aber einseitigen Unterstützern politischer und ökonomischer Interessen. Bei der Annäherung der Ukraine an die EU geht es ja unter anderem um die vollständige Öffnung des dortigen Marktes für westeuropäische Konzerne. Zum anderen führt Parteilichkeit in der Berichterstattung zu selbst auferlegten Denkverboten. Die Schere im Kopf verhindert, dass kritische Fragen an „Aktivisten“ auf die journalistische Tagesordnung kommen. [4] Das Schlimmste an der kollektiven Parteilichkeit ist aber das verzerrte Bild der ukrainischen Geschehnisse, das hierzulande seit drei Monaten gemalt wird.

Zerrbild eines Konflikts

In großen deutschen Medien setzte sich überall etwa folgende Version der Auseinandersetzung durch: Ein despotischer Diktator lässt sein friedlich protestierendes Volk von brutalen Milizen niederknüppeln. Die Menschen, die sich „Europa“ zuwenden wollen, sind gezwungen, sich selbst zu verteidigen. Der korrupte Herrscher lässt schließlich auf sein Volk schießen und flieht bei Nacht und Nebel, als die Menschen trotz vieler Todesopfer nicht weichen. Der wirkliche Strippenzieher hinter allem ist jedoch der russische Präsident Putin, denn er braucht die Ukraine für sein Imperium.

Aus Leserbriefen und Online-Kommentaren ist jedoch ersichtlich: Die kollektive Vermittlung dieses einseitigen Bildes empfinden zahlreiche Mediennutzer mehr oder weniger als Beleidigung ihres Intellekts. Allein die gezeigten Bilder widersprechen der journalistischen Interpretation schon häufig. [5] Doch die vielen offenen Fragen spielen keine Rolle. Deutsche Korrespondenten, Moderatoren, Publizisten und Kommentatoren haben sich nahezu geschlossen auf die Seite der EU und der ukrainischen Opposition gestellt – von Beginn an. Genauso wie die hierzulande gern kritisierten russischen Staatsmedien kollektiv für Viktor Janukowitsch und die ukrainische Regierung Partei ergriffen haben. Darin gleichen sich Medienschaffende beider Länder. Die Option, sich auf keine Seite zu stellen, scheint es für viele Journalisten überhaupt nicht zu geben.

Vorsicht und Zurückhaltung wären gefragt

Dabei ist es unmöglich, mit Sicherheit zu wissen, was in komplexen und vielschichtigen Konflikten wie derzeit in der Ukraine tatsächlich geschieht. Historische, politische, soziale, religiöse, ethnische und wirtschaftliche Konfliktlinien überlagern sich dort. Zahlreiche Interessengruppen sind aktiv. Zudem sind gewalttätige Auseinandersetzungen auch immer Informationskriege. Schon vor hundert Jahren erkannte dies der US-amerikanische Senator Hiram Johnson. „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ lautet ein geflügeltes Wort, das ihm zugeschrieben wird.

„Nur Stück für Stück, sorgfältig, geduldig und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, können die einzelnen Bestandteile des Konflikts zu einem ganzen Bild zusammengesetzt werden.“

Verantwortlich handelnde Journalisten müssen sich einem Konflikt, über den erstmal wenig bekannt ist, behutsam nähern. Nur Stück für Stück, sorgfältig, geduldig und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, können die einzelnen Bestandteile des Konflikts zu einem ganzen Bild zusammengesetzt werden. Erst dann lässt sich eine profunde Aussage darüber treffen. Alles in allem wäre es also nicht nur professionell, sondern auch schlau, die Lage in der Ukraine vorsichtig und zurückhaltend einzuschätzen. Stattdessen preschen Journalisten vor – und zwar in allen großen Medien und das auch noch in dieselbe Richtung. Warum ist das so?

Gut und Böse

Am 21. Februar machten die beiden Politikkommentatoren Jakob Augstein und Nikolaus Blome die Situation in der Ukraine zum Thema in ihrer wöchentlichen TV-Debatte.  [6] Der Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros, Nikolaus Blome, räumte dabei ein, dass er den ukrainischen Konflikt nach „Gut und Böse“ bewertet. Und er fügte hinzu: „Das ist in diesem Fall gar nicht mal so schwierig.“ Ja, es ist einfach - Blome steht auf der Seite der Guten.

Im 21. Jahrhundert sollte es sich unter aufgeklärten Menschen herumgesprochen haben, dass solch ein Schema zur Bewertung von Konflikten völlig ungeeignet ist. Aber davon ganz abgesehen: Diese Haltung zeigt, auf welchem Niveau und mit welchen Absichten die Oberschicht des deutschen Journalismus agiert. Sozialisiert und politisiert wurden die meisten von ihnen in der Bundesrepublik des Kalten Krieges. Weiter scheint so mancher mental nicht gekommen zu sein. Russen sind von vornherein eine Gefahr, zumindest ein Konkurrent, mithin etwas Schlechtes. Schon unterbewusst ordnen sie so vorliegende Informationen. Blome ist kein Einzelfall. Er spricht es nur offen aus.

Kompetenz und Expertise fehlen

Ein Grund für den Gut-und-Böse-Blick: Die Mehrheit der deutschen Journalisten hält den ukrainischen Konflikt gar nicht für kompliziert und unübersichtlich. Das liegt neben der verwässerten Wahrnehmung vor allem an mangelnder Kompetenz und Expertise über dieses Land. Ein Beleg hierfür ist etwa die geringe Zahl an TV-Talkrunden zur Ukraine. Weder bei Illner oder Jauch noch bei Will oder Maischberger gab es bis Ende Februar eine Sendung zum Thema. Das Land ist deutschen Fernsehmachern einfach völlig fremd.

Besonders gut sichtbar werden die fehlenden Ressourcen der Medien beim Blick auf die Auslandsstudios von ARD und ZDF. [7] Beide Sender haben hierbei quasi identische Strukturen aufgebaut. Für Ostmitteleuropa ist das Studio in Warschau zuständig, für die riesige Landmasse östlich davon bis zum Pazifik das Studio Moskau. Zum Vergleich sei angemerkt, in den USA betreibt allein die ARD drei Studios und selbst in der kleinen Schweiz hat sie zwei Sendefilialen.

„Es ist genau diese mediale Geringschätzung der ganzen Region, die fehlendem Wissen und allzu einfachen Interpretationsmustern den Boden bereitet.“


Zusammengenommen haben beide Sender gerademal vier Redakteure in der russischen Hauptstadt, die mit Ausnahme des Baltikums für alle früheren Sowjetrepubliken plus Mongolei zuständig sind. Die Sender-Verantwortlichen reproduzieren damit ironischerweise alte russische Imperialstrukturen: Egal ob etwas in Wladiwostok, Taschkent oder Baku geschieht – kommentiert wird aus Moskau. Die ARD präsentiert die geringe Abdeckung „vom Polarkreis bis nach Mittelasien“ auf ihrer Website sogar noch positiv als Senderevier mit Rekordgröße.

Für den Konflikt in der Ukraine reichte es bei den meisten deutschen Medien nur zu einem Korrespondenten am Maidan. Für Recherchen und Hintergrundberichte aus anderen Landesteilen fehlten Reporter. Und als mit der Winterolympiade in Sotschi dann noch ein weiteres Großereignis in der Region gab, wurde es kritisch. Am 18. Februar als die Auseinandersetzungen in Kiew vollends eskalierten, boten weder ARD noch ZDF eine abendliche Sondersendung zum Thema an. Das ZDF wollte angeblich nicht, die ARD konnte nicht, weil die Korrespondentin nun in Sotschi war. [8] Es zeigte sich ein journalistisches Vakuum, das für Brüssel, London oder New York völlig undenkbar wäre. Es ist genau diese mediale Geringschätzung der ganzen Region, die fehlendem Wissen und allzu einfachen Interpretationsmustern den Boden bereitet.

Transatlantische Denkmuster dominieren

Je weniger Berichterstatter es gibt, desto wichtiger wird die öffentliche Expertise der Verbliebenen. Wer sich mit den Moskau-Korrespondenten befasst, wird jedoch schnell auf eine Merkwürdigkeit stoßen: Viele deutsche Reporter in Osteuropa haben Verbindungen in die USA. Die meisten haben zwar Slawistik oder osteuropäische Geschichte studiert, waren aber auch oft jahrelang Korrespondenten in Washington oder New York, erhielten US-amerikanische Journalistenstipendien und/oder arbeiteten für US-amerikanische Medien. [9] Für den Posten des Moskau- oder Warschau-Korrespondenten bei den Öffentlich-Rechtlichen scheinen vorangegangene US-Erfahrungen ein zentrales Auswahlkriterium zu sein.

Auch hiesige Top-Zeitungsjournalisten wie Christoph von Marschall (Tagesspiegel), Michael Stürmer (Welt), Josef Joffe (Zeit), Klaus-Dieter Frankenberger (F.A.Z.) oder Stefan Kornelius (Süddeutsche), die die Geschehnisse in der Ukraine häufig kommentiert haben, sind stark in euro-atlantische Eliten-Netzwerke eingebunden. Dass es dort eine Art kognitiver Vereinnahmung gibt, hat der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger in seiner Studie „Medienmacht“ herausgefunden. [10] Diese Journalisten übernehmen transatlantische Denkmuster von internationaler Sicherheits- und Interventionspolitik und verbreiten solche Ideen und vermeintliche Argumente dafür in ihren Blättern. Genau wie die politischen Transatlantiker sprechen auch sie sich für eine enge Zusammenarbeit von EU und USA aus und sehen traditionell in Russland ihren Hauptgegner.

Wenn eine gewisse Nähe zu den USA zentrale Voraussetzung für die spätere Tätigkeit als Osteuropa-Korrespondent ist, würde dies auch erklären, warum es bislang kaum Korrespondenten aus Ostdeutschland oder mit russlanddeutschem Wurzeln gibt. [11] Diese sollten, so könnte man annehmen, wegen ihrer kulturellen Vertrautheit, ihrer Sprachkenntnisse, und ihrer Transformationserfahrungen besser für den Job geeignet sein als Journalisten aus Nordrhein-Westfalen. [12] Allerdings scheint es nicht darum zu gehen, sich auf Menschen und Gesellschaften des früheren Ostblocks einzulassen, um deutschen Mediennutzern die dortigen Entwicklungen verstehend zu erläutern. Vielmehr sollen Reporter, die der Landessprache mächtig sind und damit als glaubhafte Kenner der Region gelten, Geschehnisse in Osteuropa wohl aus einer kompromisslos westlichen und ultrakritischen Sicht deuten. Eine verpasste Chance für alternative Perspektiven.

Anti-russischer Konformitätsdruck in den Redaktionen

Der russlandfeindliche Konformitätsdruck in deutschen Redaktionsstuben scheint beachtlich. So wird etwa der penetrante anti-russische Unterton nahezu aller Korrespondenten in der Ukraine plausibel. Je kritischer gegen Putin, desto besser. Selbst wenn sie dabei qualitativ schlechte Arbeit abliefern, stört das ihr berufliches Fortkommen in den Sendern offensichtlich nicht - im Gegenteil. Man denke nur an das viel kritisierte ARD-Interview des Moskau-Korrespondenten Thomas Roth im Jahr 2008 mit Wladimir Putin zum Georgienkrieg. Dieses nachträglich massiv zuungunsten Putins zusammengekürzte Interview schadete Roth nicht. Heute hat er den prestigeträchtigen Job des „Tagesthemen“-Moderators.

„Die mediale Anti-Putin-Hysterie in Deutschland erinnert mittlerweile an Symptome einer kollektiven neurotischen Störung.“

Überhaupt Putin. Immer wieder Putin. Er mag ein aggressiver Autokrat sein und ein autoritärer Machtmensch, der für vieles zu Recht kritisiert werden kann. Der Grad der Dämonisierung des russischen Präsidenten in deutschen Medien hat jedoch ein Ausmaß erreicht, das eher einer düsteren Verschwörungstheorie als realitätsnaher Berichterstattung entspricht. Hinter allem Schlechten, das in der Region geschieht, steckt Wladimir Putin. Medien attestieren ihm finstere Pläne und sehen ihn als berechnenden Strippenzieher im Hintergrund. Ob Umweltverschmutzung in Sotschi, Schwulenhass in der Gesellschaft, „Pussy Riot“ im Knast oder prügelnde Krimbewohner – für alles wird Putin höchstpersönlich verantwortlich gemacht. Deutsche Medienschaffende attestieren ihm eine fast gottgleiche Allmacht und grenzenlose teuflische Bosheit. Die mediale Anti-Putin-Hysterie in Deutschland erinnert mittlerweile an Symptome einer kollektiven neurotischen Störung. 1914 lässt grüßen.

Parteilichkeit relativiert Grundprinzipien

Die Parteinahme der Medien hat jedoch weitere problematische Folgen: Zum einen setzt sie Grundprinzipien moderner demokratischer Gesellschaften wie etwa die Achtung der Menschenrechte, den Grundsatz der Gewaltlosigkeit oder die Rechtstaatlichkeit für eine Seite außer Kraft. Verstöße gegen solche Grundprinzipien werden von Journalisten nur noch angeprangert, wenn „pro-russische“ Akteure sie begehen. Handeln „pro-europäische“ Aufständische falsch, wird hingegen verharmlost [13], geschwiegen [14] und zum Teil sogar verherrlicht. [15]

Widerlich und grausam, dass Janukowitsch auf Demonstranten schießen lässt. Dass auch diese auf Polizisten schossen – egal. [16] Diktatorisch, wie der Präsident früher Gesetze durch das Parlament „peitschte“. Nun sorgen Angehörige des Rechten Sektors im Parlamentsgebäude für den subtilen Druck auf verbliebene Abgeordnete. [17] Dass dies keine regulären Abstimmungen sein können – nicht der Rede wert. Besorgniserregend, dass der pro-russische „Mob“ im Osten der Ukraine Rathäuser freiprügelt. Dass dieser sich nur den Westen des Landes zum Vorbild nimmt – schon vergessen. [18] Drei europäische Außenminister unterzeichnen in Kiew ein Abkommen: „Wir werden ein Auge darauf haben, dass aus der Vereinbarung, die hier getroffen wurde, auch Politik wird“, sagte Außenminister Steinmeier danach. Bereits am nächsten Tag war der Vertrag Makulatur. Mediale Kritik an der merkwürdigen Vertragstreue Steinmeiers? Fehlanzeige.

Wenn eine Gruppierung bürgerliche Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erreichen will, dies jedoch mit undemokratischen und (auch in Deutschland) ungesetzlichen Mitteln tut, dann gibt es eigentlich ein Logikproblem – es sei denn man ist parteiisch. Dies alles kaum zu thematisieren, ist ein schweres mediales Versäumnis.

Parteilichkeit verhindert wichtige Erkenntnisse

Zum zweiten vernebelt der feste Glaube parteiischer Journalisten an das selbstentworfene Bild, den Blick auf wichtige aktuelle Entwicklungen und Akteure im Land. Das bedeutsame Phänomen der „Tituschki“ [19], Umfang und Stärke rechtsradikaler Gruppen in der Ukraine sowie Ängste jüdischer Ukrainer [20] werden deshalb bis jetzt völlig unterschätzt. Und auch die Furcht der ethnischen Russen im Osten und Süden des Landes vor nationalistischen Attacken aus dem Westen hat kein deutscher Korrespondent ernstgenommen. Immer noch spielen viele Medien dies als kreml-gemachte Halluzinationen herunter.

Doch es gibt reale Gründe für die Ängste: Quasi als erste Amtshandlung wollte die Übergangsregierung Russisch als Amtssprache verbieten, ein Verbot russischsprachiger TV-Sender war ebenfalls im Gespräch, zuvor wurden in zwei westukrainischen Regionen „pro-russische“ Parteien verboten [21], zudem viele Lenin-Statuen als Symbole für Russland gestürzt [22], Bilder von bedrohten und gedemütigten Gouverneuren in der Westukraine machten die Runde [23], eine zweistellige Zahl von Polizisten starb. Die auch historisch bedingten Sorgen der „Gegenseite“ nehmen parteiische Journalisten vor allem als Propaganda wahr. Entsprechend antizipierte auch kein Reporter die gereizten Gegenreaktionen vieler Ost- und Südukrainer sowie die militärische Reaktion Russlands. [24]

Wollen Journalisten nicht oder können sie nicht anders? Die Antwort kann nur individuell gegeben werden. Doch eines ist klar: Solange Strukturen von Unwissenheit, Russophobie und Herdentrieb die deutschen Medien prägen, wird sich wenig ändern. Hochgefährlich wird die einseitig-konfrontative Parteinahme vor allem in Zeiten internationaler Krisen. Nutzen Journalisten ihre publizistische Macht vereint und geballt, beeinflussen sie nicht nur Haltungen in der Bevölkerung, sondern auch politische Entscheidungen. Über ihre eigene Verantwortung sollten sich im Schwarm agierende Journalisten endlich bewusst werden.

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