02.11.2022

Wir dürfen die Ukraine nicht aufgeben

Von Jacob Reynolds

Der Krieg in der Ukraine hat einen weiteren kritischen Punkt erreicht.

Der Krieg in der Ukraine hat einen weiteren kritischen Punkt erreicht. Russlands Raketen- und Drohnenangriffe auf die zivile Infrastruktur des Landes lassen nicht nach. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky wurden bereits bis zum 18. Oktober, innerhalb von nur acht Tagen, 30 Prozent der ukrainischen Kraftwerke zerstört. Die düstere Absicht dieses Angriffs auf das ukrainische Energieversorgungsnetz ist klar. Angesichts des nahenden Winters versucht Putin, Soldaten und Zivilisten gleichermaßen in die Knie zu zwingen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die barbarischen Angriffe auf die ukrainischen Energiesysteme potenziell zu den katastrophalsten Angriffen gehören, die es in diesem Krieg bisher gegeben hat.

Doch die Ukraine bleibt unbeeindruckt. Wie die Geschichte der strategischen Bombardierung von Zivilisten zeigt, ist es unwahrscheinlich, dass Putin einen militärischen Vorteil daraus ziehen wird. Die Ukrainer, die im Widerstand gegen Russland vereint sind, reagieren auf die Bombardierungen mit Wut und nicht mit Traurigkeit oder Kriegsmüdigkeit. Sie setzen ihren Widerstand mit allen verfügbaren Mitteln fort und demonstrieren damit den Geist kollektiven Trotzes, der ihren Kampf bisher geprägt hat. Viele Bürger haben sogar versucht, die Drohnen mit normalen Gewehren abzuschießen – so viele, dass die Regierung ihnen riet, die Luftverteidigung dem Militär zu überlassen.

„Die Ukrainer, die im Widerstand gegen Russland vereint sind, reagieren auf die Bombardierungen mit Wut und nicht mit Traurigkeit oder Kriegsmüdigkeit."

Leider scheint es, als sei der Westen nicht mehr so sehr von dem Durchhaltewillen der Ukrainer inspiriert, wie es in der Anfangsphase des Krieges der Fall war. Putins Entscheidung, den Krieg zu eskalieren, fällt - fast kalkuliert - mit einem Moment zusammen, da die westlichen Führer Müdigkeitserscheinungen zeigen. Das Vereinigte Königreich, der vielleicht wichtigste internationale Verbündete der Ukraine, steckt in einer tiefen Regierungskrise. Boris Johnsons instinktive, vorbehaltlose Unterstützung für die Ukraine - die sicherlich demselben Instinkt für nationale Souveränität entspringt, der ihn den Reiz des Brexits begreifen ließ - ist verschwunden. An ihre Stelle ist eine Regierung getreten, die die Ukraine zwar prinzipiell unterstützt, der aber die Weitsicht und Kraft fehlt, um weiter für sie zu werben.

Auch die USA haben ihren Fokus verloren. Joe Biden nutzt den Moment, um sich mit China anzulegen und die Ausfuhr wichtiger Computerchips zu beschränken. Biden hat die Ukraine immer bestenfalls als Ablenkung von dem größeren Ziel der Isolierung Chinas gesehen. Nachdem die russische Invasion auf den Schlachtfeldern der Ukraine erst einmal zurückgeschlagen wurde, scheint der Präsident zu der Ansicht zu gekommen zu sein, dass die USA ihre Energien nun anderen Bereichen zukommen lassen sollen.

In der EU ist die Stimmung wahrlich düster. In einer bemerkenswerten Rede ließ der Chef der EU-Außenpolitik, Josep Borrell dem Pessimismus und der Angst, die die europäischen Eliten derzeit beherrschen, freien Lauf. Wir Europäer, sagte er, seien mit einer Situation konfrontiert, in der wir unter den Folgen eines seit Jahren andauernden Prozesses leiden. Europa, so seine Einschätzung, habe die Quellen seines Wohlstands von den Quellen seiner Sicherheit abgekoppelt. Es war eine ehrliche, wenn auch hoffnungslose Einschätzung der derzeitigen Malaise der EU.

„Die Ukraine hat den Mut, weiterzumachen, egal wie brutal Putins Versuch auch sein wird, das Volk in die Unterwerfung zu terrorisieren."

Aber der Krieg wird nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil. Wenn der ukrainische Vorsprung der letzten Wochen auf dem Schlachtfeld durch den kommenden Winterschlamm und Schnee schwindet, könnte Russland durchaus die Oberhand gewinnen. Die Schlagzeilen über befreite Städte werden wahrscheinlich häufiger Berichten über russische Angriffe und ukrainische Notlagen weichen. In einer solchen Zeit könnte es westlichen Politikern schwerfallen, die Unterstützung der Bevölkerung für die Ukraine aufzubringen - vor allem, wenn die wirtschaftlichen Kosten dieser Unterstützung immer spürbarer werden.

Eines ist jedoch sicher. Die Ukraine hat den Mut, weiterzumachen, egal wie brutal Putins Versuch auch sein wird, das Volk in die Unterwerfung zu terrorisieren. Wenn der Westen jedoch auf Distanz bleiben will, müssen westliche Politiker viel mehr Mut und viel mehr Weitblick zeigen, als sie es derzeit tun. Die heutigen Staats- und Regierungschefs haben es noch nicht geschafft, zu artikulieren, was in diesem Konflikt wirklich auf dem Spiel steht. Die Ukraine kämpft nicht nur um ihr eigenes nationales Überleben, sondern auch um das universelle Prinzip der nationalen Souveränität. In einer Welt, in der viele regionale Mächte versuchen, die Landkarte neu zu zeichnen, ist dies ein Prinzip, das verteidigt werden muss.

Millionen von einfachen Ukrainern wissen, was auf dem Spiel steht, und sind bereit, dafür zu kämpfen. Es ist an der Zeit, dass auch der Rest von uns aufwacht und dies erkennt.

 

Jacob Reynolds wird am Mittwoch, dem 9. November um 19.00 Uhr bei einer Battle of Ideas Satellite-Veranstaltung im Theaterforum Kreuzberg in Berlin sprechen. Infos und Anmeldung zur Veranstaltung hier: „Ukraine: crisis or rebirth for Europe?" – Battle of Ideas.

Im Anschluss an die Diskussion findet eine Vorführung mit Auszügen aus Vladimir Sorokins „Norma" statt (Schauspieler Grigory Kofman).

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