07.12.2010
Wikileaks: Dies ist kein Journalismus – es ist Voyeurismus
Von Frank Furedi
Die Wikileaks-Affäre sagt uns viel über die moralischen und kulturellen Normen des heutigen öffentlichen Lebens.
Die wirkliche Story der jüngsten Enthüllungen von Wikileaks ist nicht, was wir von den Hunderttausenden von Dokumenten lernen können, die ins Internet gestellt wurden. Scharfsinnige Beobachter internationaler Beziehungen werden wenig Neues oder Schockierendes in diesen aus dem Zusammenhang gerissenen Informationsfetzen finden. Nein, die wirkliche Story ist die Art und Weise, in der sich die ganze Episode entfaltet hat. Sie sagt uns viel über die moralischen und kulturellen Normen des heutigen öffentlichen Lebens.
Sicher empfindet manch einer gewisse Genugtuung angesichts der Verlegenheit, in die das US-Außenministerium gebracht wurde. Viele meiner Freunde sind der Meinung, eine solche Erniedrigung könne die Bürokratie zurück auf den Boden der Realität holen. Große Teile der Medien spiegeln diese Haltung wider, indem sie darauf bestehen, dass die Veröffentlichung der geheimen Dokumente Rechenschaftspflicht, Transparenz und Demokratie stärken. Manche meinen sogar, dies zeige, welche Macht „normale Leute“ hätten – und übersehen dabei ganz die tatsächliche Macht und das kulturelle Kapital der fünf Nachrichtenorganisationen, die diese Affäre orchestrieren.
Mich erstaunt der unschöne, selbstgefällige Ton der Zeitungen, die der Welt mitteilten, sie hätten die Fetzen aus Aktennotizen und Depeschen, die übers Internet verstreut wurden, gesehen. Die fünf Organisationen, die die „goldene Chance“ erhielten, sich das Beste vom Braten herauszupicken, waren der „Guardian“, die „New York Times“, „Der Spiegel“, „Le Monde“ und „El Pais“. Sie machten ein großes Ding aus ihrer „Sensationsberichterstattung“ und präsentierten ihre Handlung als Produkt bester journalistischer Traditionen.
Es ist ganz und gar richtig, dass Zeitungen über wichtige Dinge berichten. Das ist ein zentraler Bestandteil der Rolle der Medien. Diese Zeitungen haben aber nicht einfach interne Informationen analysiert und aufgedeckt. Sie haben die Veröffentlichung selber als einen Ausdruck der Freiheit dargestellt und behauptet, es sei im besten öffentlichen Interesse zu wissen, was ein kleiner Beamter vom Lebensstil des Außenministers hält. Dies sind die gleichen Journalisten, die üblicherweise jeden Hacker moralisch verurteilen, der von Boulevardzeitungen angeheuert wurde, um private Gespräche zu belauschen.
Die Vorstellung, dass die Veröffentlichung privater Gespräche – ob durch die Boulevardpresse oder durch die scheinheiligen Kandidaten des nächsten Pulitzer-Preises – im öffentlichen Interesse liegt, ist nichts weiter als ein eigennütziger Versuch, Voyeurismus als Bürgerpflicht darzustellen. Sie unterscheidet sich kaum von den Behauptungen der Produzenten von Reality Shows, die meinen, ihre kitschigen Programme stärkten das Bewusstsein und dienten daher dem öffentlichen Interesse.
Wie ist dem öffentlichen Interesse durch diese sinnlose Veröffentlichung von Informationen gedient? Seit wann sind Institutionen gezwungen, ihre privaten Beratungen für jeden im Internet zugänglich zu machen? Hat die Öffentlichkeit irgendetwas Wichtiges hieraus gelernt? Ist hier ein Unrecht wiedergutgemacht worden?
Natürlich gibt es Zeiten, in denen Aktivisten, die sich klar zu einem politischen Ziel bekennen, private diplomatische Korrespondenzen veröffentlichen, um für Unterstützung zu werben. Als zum Beispiel Daniel Ellsberg 1971 Inhalte eines Pentagon-Papiers an die „New York Times“ übermittelte, hatte er ein klares Ziel: die offizielle Version des Vietnamkrieges infrage zu stellen. Er wollte die Öffentlichkeit über Fakten in Kenntnis setzen, ohne die die Welt nicht richtig zu verstehen war.
Die Informationen, die uns Wikileaks zur Verfügung stellt, verfolgen kein solches Ziel. Sie stiften lediglich Verlegenheit und Verwirrung. Die meisten der diplomatischen Depeschen enthalten nichts weiter als momentane, unfertige Meinungen. Die Veröffentlichung informeller Überlegungen zwischen Beamten hat keinen aufklärerischen Wert.
Die Öffentlichkeit hat kein immanentes Recht darauf zu wissen, wie Menschen Informationen erhalten und interpretieren. Natürlich hat sie das Recht, darüber informiert zu werden, warum Regierungen bestimmte Entscheidungen treffen und welche Konsequenzen diese haben können, aber hier werden lediglich kleine Häppchen von Klatsch und Tratsch verbreitet.
Die Vorstellung, die Offenlegung vertraulicher Informationen mache Institutionen transparenter, ist absurd. In jeder Institution müssen Mitarbeiter wissen, wo sie sich im Privaten unterhalten können, wo sie Informationen, Vorbehalte und Ängste austauschen sowie ihre eigenen Meinungen äußern können. Wenn dies nicht möglich ist, werden sie Verhaltensmuster annehmen, die der Integrität der Institution und dem öffentlichen Leben schaden.
Ein Ausweg wäre z.B. die Suche nach „sicheren“, aber irreführenden Gesprächsstrategien. Im höheren Bildungsbereich würde dann beispielsweise nicht mehr aufgeschrieben, was von einem Schüler zu halten ist – aus Angst, die Notizen könnten entdeckt werden. Stattdessen fänden nur noch inoffizielle Gespräche zwischen Tür und Angel statt. Ein anderes Beispiel wären Beamte, die defensive Taktiken entwickeln, nur noch streng nach Regeln vorgehen und Formulare abhaken, statt zu sagen, was sie wirklich denken. In beiden Fällen wird die Institution weniger durchschaubar und weniger ehrlich.
Viele Journalisten gestehen ein, dass das Argument, die Veröffentlichung der Dokumente diene dem öffentlichen Interesse, nicht trägt. Trotzdem, sagen sie, sei es doch nicht schlimm, sich auf Kosten unbeliebter Machthaber zu amüsieren. Vielleicht. Aber gehöre ich wirklich einer Minderheit an, wenn ich meine, dass wir, indem wir Verrat und die Veröffentlichung privater Informationsaustausche bejubeln, nur weiterhin die Idee institutioneller Loyalität untergraben?
Es gab eine Zeit, in der sich tapfere Männer und Frauen großen persönlichen Gefahren aussetzten, um Missbräuche in den eigenen Organisationen aufzudecken. Heute gehört „Aufdeckung“ quasi zur Jobbeschreibung eines jeden, der öffentlichen Zuspruch und Aufmerksamkeit sucht. Noch schlimmer ist, dass es in Zukunft schwerer sein wird, den wirklichen Helden, der korrupten Institutionen die Stirn bietet, von den zahlreichen Wichtigtuern zu unterscheiden, die das moralische Brachland, das Wikileaks hinterlassen hat, bevölkern.