01.09.1999

Wer will überhaupt schwule und lesbische Paare?

Essay von Katharina Rutschky

Homosexuelle Lebensgemeinschaften werden gleichgestellt, versprach Rot-Grün. Doch bislang verharrt die biedere Koalition im Spießertum. Dabei profitiert die Gesellschaft von schwulen und lesbischen Beziehungen, sagt Katharina Rutschky

Zu den Wahlversprechen von Gerhard Schröders Kanzlerschaft gehört die rechtliche Absicherung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, als Forderung nach der Schwulenehe in vielen Happenings der letzten Jahre bekannt geworden. Im Stadtstaat Hamburg ist kürzlich ihre Registrierung beim Standesamt gestattet worden. Das ist besser als gar nichts, auch wenn die entscheidenden Gesetze nur auf Bundesebene beschlossen werden können. Auch Verfassungsänderungen werden sich auf Dauer wohl kaum vermeiden lassen, weil ja bekanntlich die Verfassung die traditionelle Ehe und Familie privilegiert. Sollte die Koalition daran nicht denken, so werden es gewiß die Kirchen tun. Erst kürzlich hat Bischof Lehmann die ”Schwulenehe” mit dem Verweis auf die Verfassungslage abgelehnt.

Im Koalitionspapier wird der vorhersehbare Konflikt nicht angesprochen, nach der ”gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft” sucht man vergebens. Im Abschnitt über die Familie findet sich allerdings ein sehr deutungsbedürftiges Bekenntnis: ”Für uns haben alle Formen von auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften Anspruch auf Schutz und Rechtssicherheit.” Das klingt zwar großzügig und irgendwie progressiv, weil niemand ausgeschlossen wird, ist es aber nicht. Schon seit langem kann man beobachten, daß Beziehungsformen, welche die Verfassung nicht vorsieht – dazu gehören schwule und heterosexuelle Lebensgemeinschaften ebenso wie die notorische Alleinerziehende, die von vielen Feministinnen favorisiert wird –, von allen möglichen Seiten unter Normalisierungsdruck gesetzt werden. Die Handhabe zur Einpassung solcher nicht vorgesehener Existenzen in das klare Gefüge des Sozialstaates bietet das Kind und seine Rechte. Weil aber seit einiger Zeit nichteheliche Kinder nicht mehr diskriminiert werden dürfen, ist unklar, was das Koalitionspapier mit dem Versprechen meint, die vielfältigen Formen, in denen Familie heute gelebt wird, zu respektieren und für die ”Gleichstellung” aller dieser Formen zu sorgen. Sieht man von schwulen und lesbischen Paaren mit und ohne Kindern ab, stellt sich die Frage, wer das eigentlich überhaupt will und warum.
Schließlich wurde doch gerade im rot-grünen, ”alternativen” Milieu über Jahrzehnte versucht, den Staat am Beziehungsleben via Standesamt so wenig wie irgend möglich zu beteiligen. Auch die Kritik an der bürgerlichen, heute patriarchalischen Familie gehört doch nach wie vor zu den Standardübungen des Fortschritts, auch wenn wir heute weniger über die politische Deformation des Nachwuchses als über seinen Mißbrauch im trauten Heim debattieren.

“Unsere Normalitätserwartungen orientieren sich unvermeidlich am Ideal des Normalen von gestern”

Es soll hier keineswegs hämisch auf einen Gesinnungswandel verwiesen werden, der mit dem Wechsel der Oppositions- zur Regierungsbank einhergeht. Zu beleuchten ist vielmehr eine Familien-, des weiteren auch Frauen-, Kinder- und Jugendpolitik, die auf der Grundlage einer scheinbar großzügigen Vorurteilslosigkeit gegenüber den Erscheinungsformen des Beziehungslebens die eigentlichen Herausforderungen verpaßt. Wenn hier nicht analytisch und konzeptionell entschieden nachgebessert wird, dann gute Nacht! So heißt es etwa im Koalitionspapier wie seit Menschengedenken: ”Wir wollen Deutschland wieder zu einem kinder- und familienfreundlichen Land machen.” Das sei eine Investition in die Zukunft unseres Landes, heißt es außerdem. Diese Vision einer Gesellschaft als eines verkehrsberuhigten Kindergartens (den bekanntlich selbst Kinder oft nicht zu schätzen wissen) nebst der Aussicht auf die Dividenden des Gemüts ist nichts als peinlich. Selbst wenn man die Zwänge der Politprosa mildernd in Rechnung stellt – solche Sätze hat jeder Wahlberechtigte einmal zu oft gehört. Andererseits wagt sich das Koalitionspapier an eine neue Definition von Familie: ”Familie ist, wo Kinder sind.”
Damit können Kirchen aller Denominationen kaum einverstanden sein, aber auch Psychologen und Psychotherapeuten als eigentliche Sachwalter des Seelenheils heute dürften protestieren. Es ist eine Sache, sich der Realität von Scheidungsquoten, Stieffamilien, Alleinerziehenden oder schwulen und lesbischen Paaren mit Kinderwunsch zu stellen; es ist eine andere, so zu tun, als sei das alles, schon weil es oft vorkommt, total normal. Unsere Normalitätserwartungen orientieren sich nämlich unvermeidlich am Ideal des Normalen von gestern. Und da gilt die Regel, unter anderem, daß ”es so was früher nicht gegeben hat”. Und die komplettierende: ”Wundern braucht man sich ja nicht, daß das passiert”.

Die Verständnislücken, die der Ausfall intelligenter Analysen in der Familien-, Frauen- und Kinderpolitik hinterläßt, sind zahlreich. Dabei ist eigentlich jeder betroffen, nicht nur faktisch, sondern auch, weil in den letzten Jahren das Private, das Beziehungsleben, eine enorme öffentliche Aufwertung erfahren hat. Die neue Regierung hat die Arbeitslosigkeit zu einem Schwerpunkt ihres Engagements ernannt. Dagegen ist nichts einzuwenden, Ergänzungen sind aber nötig. Man weiß, daß nicht nur der Pensionsschock, das Alter, Krankheiten und andere Katastrophen, sondern auch die Arbeitslosigkeit von Menschen besser verkraftet werden, die in befriedigenden Beziehungen leben. Während die Konservativen die Herausforderungen der Moderne immer gern mit einem Appell an die ”Werte” beruhigen wollen, hat die Fraktion des Fortschritts immer nur an die Sozialpolitik geglaubt. In Zeiten der Hochkonjunktur und des Ausbaus des Sozialstaats hatten wir hinreichend Gelegenheit, die zweite Option zu testen und herauszufinden, daß man auch mit sorgfältig und überlegt ausgegebenem Geld lebenswichtige Dinge, die in der Biographie von Menschen ausgefallen sind, nicht kompensieren kann. Ein Kind zum Beispiel, das im Heim lebt, kostet den Sozialstaat zwischen 5-6000 DM pro Monat im Normalfall. Es sind Kinder, deren Erzeuger alkoholkrank, straffällig oder gewalttätig sind – oder manchmal alles zusammen; öfter hat man es mit gutwilligen, aber unfähigen Müttern und Vätern zu tun, die an ihrem Versagen an dieser und jener Front schwer leiden. Ein guter Heimpädagoge muß froh sein, wenn so ein Kind schließlich imstande ist, die 5-6000 Mark pro Monat mit einem Schulabschluß, einer Lehre und einer kriminalitäts- und drogenfreien Zeit bis zum 18., 21. oder sogar 27. Lebensjahr zu honorieren. Es ist schwer bis unmöglich, den Ausfall der Beziehungskultur, an der diese Kinder jahrelang laborieren, mit den Methoden der Sozialpolitik – Geld und Gesetze – zu kompensieren.

“Nun erwartet man mehr von der neuen Regierung, als den sattsam bekannten blauen Dunst einer moralischeren Kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft”

Das gilt hier wie anderswo. Man wünschte sich bloß, daß die rot-grüne Regierungskoalition das sozialwissenschaftliche und therapeutische Basiswissen, über das ihre Teilnehmer und Wähler in überdurchschnittlichem Maß verfügen, auch einmal zum Zuge kommen lassen. Mögen andere immer wieder den Versuch machen, die Gesellschaft auf ”Werte” einzuschwören – so eine Art Werteerneuerung stand am Anfang der Ära Kohl –, so könnte man doch auch einmal riskieren, an die Stelle von unverbrüchlichen Normen und Gesetzen mit Bleigewicht die eigentlich wichtigen Beziehungen zu setzen, die zwischen Menschen bestehen. Film und Fernsehen, die ganze Popkultur, an der unser Nachwuchs so leidenschaftlich partizipiert, handeln von der umstürzenden, aber auch nachhaltigen Kraft der Liebe. Nicht bloß im Koalitionspapier vermißt man jeden Hinweis auf diese Lebensmacht.
Gerade weil SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Frauen eine Stimme verliehen haben, versteht man nicht, warum im Regierungsprogramm von weiblicher Weisheit nichts zu lesen ist. Die Beziehungskultur, um die es hier geht, ist schließlich eine Spezialität der Frauen, wenn auch eine unfreiwillig erworbene und praktizierte. Aber vermutlich haben wir es hier mit derselben Ambivalenz zu tun, die auch die Einstellung zur Familie, zu Partnerschaft und Kindern kennzeichnet. Man will sich vorurteilslos und praktisch verhalten und ist bloß spießig und uninformiert.

Vielfach wurde im Umfeld der Bundestagswahl auch das Ehegattensplitting kritisiert und seine Abschaffung als sozialpolitische Innovation annonciert. Man wolle doch Familien und Kinderaufzucht fördern, aber doch keinesfalls schlichte Ehen begünstigen, hieß es immer wieder. Was vordergründig einleuchtet, ist aber hintergründig schlicht blöde. Mit einer Eheschließung geht jeder der Partner enorme Verpflichtungen ein, die spätestens dann sichtbar werden, wenn die Scheidung ansteht. Man müßte ausrechnen, was der Sozialstaat einspart, in diesem Fall, um zu ahnen, was eine Beziehung in Geld umgerechnet wert ist – noch viel mehr natürlich, wenn sie funktioniert, als wenn sie geschieden wird. Das betrifft, funktionalistisch gesehen, Kinder, Enkel, Nachbarn und Vereine aller Art samt sogenanntem Ehrenamt, aber auch das Glück, die Gesundheit und die Lebenserwartung des einzelnen.
Sollte eine auf Dauer angelegte, rechtlich besiegelte Lebensgemeinschaft mit vielen Verpflichtungen nicht steuerlich begünstigt werden? Ob mit oder ohne Kinder? Das sollte eigentlich gar keine Frage sein; denn der gesellschaftliche Nutzen, den Beziehungen abwerfen, ist so bedeutend, daß ihre weitergehende Förderung eigentlich anstünde…

Aus diesem Grund sollten Lesben und Schwule mit allen Rechten und Pflichten ausgestattet werden, die mit einer konventionellen Heirat verbunden sind. Es wäre unverantwortlich, es irgend jemandem zu verwehren, diesen Schritt zu tun, der mit Liebe und Leidenschaft ebensoviel zu tun hat wie mit der ganz konventionellen Moral der Mehrheit. Auf der anderen Seite wäre es dumm, jene Lebensgemeinschaften zu normalisieren, die keineswegs danach verlangt haben. Rot-Grün hat uns in den vergangenen Jahren mit Diskussionen wegen des Privaten, das auch politisch ist (und umgekehrt), nicht gerade kurzgehalten. Deshalb erwartet man mehr von der neuen Regierung als die zwischen Spießigkeit und Konservatismus schillernde Option, welche das Koalitionspapier offenbart. Es haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Beziehungsgespräche zwischen Liebespartnern, aber auch zwischen Kollegen und echten Feinden stattgefunden. Viel Papier wurde mit Erörterungen wegen dieser Fragen auch von seriösen Forschern bedeckt. Nun erwartet man mehr von der neuen Regierung als den sattsam bekannten blauen Dunst einer moralischeren kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft. In der nächsten Zeit müssen wir nachfragen, ob die da oben überhaupt wissen, was so läuft. Sollen wir abwarten, bis zum Beispiel Bayern in Karlsruhe gegen die Schwulenehe klagt, oder könnte man schon vorher den sozialen Reichtum, der immer schon gratis erbracht wurde, ins rechte Licht rücken? Auf dem neuartigen und von ihr auch entfalteten Gebiet der Beziehungspolitik ist Rot-grün sträflich bieder.

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