01.11.2005

Wenn Kinder vorm Fernseher „vergammeln“

Analyse von Sabine Beppler-Spahl

Sabine Beppler-Spahl über familienschädliche Familienpolitik.

„Kinder sind der Mittelpunkt, und die Welt dreht sich darum.“ So lautet ein Satz der von den Medien als äußert charismatisch bezeichneten niedersächsischen Sozialministerin und designierten Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Es mag sein, dass es einer siebenfachen Mutter, wie es Frau von der Leyen nun einmal ist, so vorkommt, als drehe sich die ganze Welt um Kinder. Problematisch wird ein solch eindimensionaler, kindzentrierter Blick spätestens dann, wenn er zu einer Art Wettstreit darüber führt, wer in diesem Land am meisten für das Wohl und den Schutz von Kindern tut und diesem Ziel am vehementesten alle anderen Werte unterordnet.
Genau einen solchen Wettstreit erleben wir zurzeit. Kinderschutz ist das Zauberwort, das jedes Mittel, bis hin zum Abbau hart erkämpfter Freiheiten, zu rechtfertigen scheint. Das jüngste Beispiel hierfür liefert die niedersächsische Landesregierung unter Federführung der besagten Ministerin selbst. Gemeinsam mit dem Kriminologen und ehemaligen Justizminister von Niedersachsen, Prof. Dr. Christian Pfeiffer (SPD), plant sie in Hannover einen Modellversuch zur Frühförderung von Kindern aus sozial stark benachteiligten Familien. „Umfassende Hilfe in Form von mehr staatlicher Betreuung“, die bereits vor der Geburt der Kinder einsetzen solle, würde diesen Familien zuteil, so von der Leyen.
An Aufwand und Mühe wird nicht gespart: Hebammen, Familienhelfer, speziell ausgestaltete Krippen- und Kindergartenprogramme oder Tagesmütter sowie Schulungen für die Eltern sind „Perlen in einer langen Kette von Hilfsstrukturen“ (Pfeiffer/von der Leyen). Über die genaue Ausgestaltung des Versuchs, der 2006 beginnen soll, gibt es bisher nur spärliche Informationen. Fest steht jedoch, dass dies kein Programm zur Linderung oder gar Abschaffung von Armut ist. Familien erhalten kein zusätzliches Geld, um sich den gemeinsamen Urlaub, den Sportverein, die größere Wohnung oder einfach nur mehr Abwechslung im Speiseplan leisten zu können. Arbeitslose Mütter und Väter werden nicht in bezahlte Jobs vermittelt – wie sollte dies auch gehen? Ziel des Programms ist auch nicht die Bereitstellung einer staatlich geförderten Ganztagsbetreuung für alle Kinder, obwohl gerade in diesem Bereich großer Bedarf besteht. Nein, wie der Name bereits andeutet, ist es ein Modellversuch, mit dem die Möglichkeit und die Akzeptanz einer staatlichen Lenkung (und Kontrolle) des familiären Privatlebens getestet werden soll.


Nicht das Ergebnis, sondern der Prozess zählt
Einzigartig sei der Modellversuch in Deutschland, so Pfeiffer. Er solle durch Forschung begleitet werden, um Erkenntnisse zur Implementierung und Wirkungsweise der Maßnahmen zu gewinnen. Parallel zu dessen Durchführung sei auch eine Kosten-Nutzen-Analyse geplant. Noch bevor Details über den eigentlichen Versuch an die Öffentlichkeit gelangen, wird unser Blick bereits auf dessen angeblich konkret messbare Ergebnisse und Erfolge gelenkt: „Solche Projekte haben sich in den USA als sehr erfolgreich erwiesen. Mit ihnen wurde erreicht, dass diese Kinder später weniger krank, arm, drogenabhängig und kriminell wurden als Kinder aus vergleichbaren Familien, die nicht gefördert wurden“, so Pfeiffer, und weiter: „Bereits bis zum Alter von 20 Jahren hat jeder Dollar, der in die Frühförderung geflossen war, vier Dollar an späteren Folgekosten gespart.“
Wer würde es wagen, angesichts solch positiver Meldungen noch über die Probleme des Versuchs an sich sprechen zu wollen? Doch abgesehen davon, dass der zweite Schritt vor dem ersten erfolgt, biegt man sich hier die Wirklichkeit zurecht. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien hat es vergleichbare Modellversuche mit Familien gegeben. In England wurde 2001 das so genannte „Sure Start Program“ für benachteiligte Familien ins Leben gerufen, dessen Evaluationsergebnisse im September dieses Jahres für Ärger sorgten. Drei Milliarden britische Pfund hatte die Regierung für den Versuch bereitgestellt. Wie auch in Niedersachsen geplant, stellte sie mit dem Geld mehr staatliche Betreuung für Kinder aus besonders benachteiligten Familien bereit, schickte professionelle Familienhelfer in die Haushalte und organisierte spezielle Schulungen für die Eltern. Wissenschaftlich begleitet und evaluiert wurde der Versuch vom Londoner Birkbeck College.
Nach vier Jahren Modellversuch fiel die Bilanz mehr als mager aus: Sure Start konnte nicht dazu beitragen, die geistige Entwicklung von Vorschulkindern zu fördern. Die Sprachfähigkeit, das Urteilsvermögen und das Verhalten der am Projekt teilnehmenden Kinder unterschied sich nicht von dem ihrer Altergenossen in den Kontrollgruppen. In manchen Gegenden schnitten die „geförderten“ Kinder sogar schlechter ab.
Vorbild für das englische Modell war der von Herrn Pfeiffer so gelobte amerikanische Modellversuch. Auch diese Bemühungen, wie z.B. der Head Start Versuch, konnten bestenfalls (wenn überhaupt) nur sehr kurzzeitige Erfolge vermelden. Ab einem bestimmten Alter unterschieden sich auch hier die „Probanden“ nicht von anderen, sozial benachteiligten Personen gleichen Alters (Kontrollgruppe). Wie sollte es auch anders sein, wenn alle Programme an dem ursächlichen Problem dieser Kinder – nämlich ihrer Armut – nichts ändern? Die zweifelhaften Ergebnisse der vergleichbaren Modellversuche wollen die Initiatoren des geplanten niedersächsischen Versuchs offensichtlich nicht wahrhaben.
 

„Der therapeutische Staat will das Verhalten von Eltern lenken und kontrollieren.“



Bei einem Telefonat mit der für den Versuch zuständigen Mitarbeiterin des Kriminologischen Instituts Niedersachsens stellte sich heraus, dass diese von Sure Start noch nie etwas gehört hatte – und dies, obwohl der Versuch in England gerade für viel Aufsehen sorgt. Doch auch wenn die Initiatoren von den wahren Ergebnissen wüssten, würden sie sicher nicht vor ihrem Versuch und dessen Evaluation Halt machen. Die wissenschaftliche Begleitung liefert die Legitimation für einen Modellversuch, der in Deutschland in der Tat bisher einzigartig ist und bei dem der Staat von außen in das Privatleben normaler (wenn auch armer) Familien eingreift. Nicht die Ergebnisse der Evaluation (die ohnehin erst viele Jahre später vorliegen) sind dabei von Bedeutung, sondern der Versuch selber, mit dem ein Präzedenzfall geschaffen wird, der die Basis für ein grundlegend neues Verhältnis zwischen Familie und Staat legt.


Der therapeutische Staat
Die genaue Ausgestaltung des Versuchs ist noch nicht bekannt. Doch die Lektüre der Pressemeldungen gibt Einblicke in das Projekt. Wir haben es weder mit einem rigorosen Law-and-Order-Vorhaben zu tun, noch mit rechtsstaatlichen Maßnahmen gegen Eltern, die ihre Kinder tatsächlich misshandeln oder vernachlässigen. Vielmehr begegnet uns hier ein therapeutischer Staat, der seine Aufgabe darin sieht, das Verhalten von Eltern, denen nichts anderes vorzuwerfen ist, als dass sie sozial schwach sind, zu lenken und zu kontrollieren. „Jungen Familien in schwierigsten Verhältnissen, vor allem auch allein erziehenden Müttern mit niedrigem Einkommen und geringer Schulbildung“, heißt es in einer Meldung des Ministeriums, solle umfassende Hilfe angeboten werden. Nach Einschätzung der Politiker benötigen diese Personen offensichtlich vor allem deshalb Hilfe, weil sie persönlich nicht in der Lage sind, sich ihren Kindern gegenüber korrekt zu verhalten.
Es ist ein altbekannter Topos, dass Eltern im Allgemeinen (und armen Eltern im Besonderen) die Fähigkeit, ihre Kinder zu erziehen, aberkannt wird. In diesem Sinne basiert das Projekt auf einem tiefen Misstrauen gegenüber den beteiligten Müttern und Vätern. Sie sind es, die zu Schulungen geschickt und ab dem vierten Schwangerschaftsmonat von Hebammen bzw. Familienhelfern aufgesucht werden. „Die Hebamme soll frühzeitig auf Risiken wie Alkoholkonsum und Rauchen während der Schwangerschaft aufmerksam machen, weitere Problemsituationen in den Familien erkennen und Familienhelferinnen vermitteln, die den Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, sobald sie zur Welt gekommen sind, zur Seite stehen“, heißt es weiter.
Unzählige Frauen schätzen zwar die Hausbesuche einer Hebamme nach der Geburt ihres Kindes. Würden sie dies jedoch auch tun, wenn sich deren Aufgabe nicht darauf beschränkte, der Frau diskret mit Rat und Tat bei der Babypflege, der Rückbildung oder dem Stillen zur Seite zu stehen, sondern vor allem darin, familiäre Probleme aufzuspüren? Impliziert wird, dass staatlich geförderte Familienhelfer besser als Eltern wissen, was für die eigenen Kinder richtig und gut ist. Die Frage, welche Werte und Erziehungsvorstellungen diese Berater überhaupt vertreten, bleibt, wie zahlreiche andere Fragen (z.B. nach den genauen Auswahlkriterien, der Freiwilligkeit der Teilnahme am Versuch usw.) unbeantwortet. Eltern werden in ihrem Privatleben zur Einhaltung von Verhaltensregeln gedrängt, die der Staat aufstellt – oder, wie die britische Journalistin Melanie Phillips (Daily Mail) in ihrer Kommentierung des „Sure Start Programs“ schrieb: „Die vorwiegend armen Familien sollen so programmiert werden, dass sie die richtige Einstellung zu allen Fragen, von Ernährung und Rauchen bis hin zu Partnerschaft und Kindererziehung haben.“ [1]


Zersetzende Auswirkung auf Familien
Die Entmündigung erwachsener Menschen ist das größte Problem des geplanten Versuchs. Abgesehen von den gesellschaftspolitischen Implikationen ist auch eine zersetzende Auswirkung auf die betroffenen Familien zu befürchten. In einer Erklärung zum geplanten Versuch beschreibt von der Leyen, wie wichtig es sei, dass Kinder verlässliche Bezugspersonen hätten. Diese Bezugspersonen müssten aber nicht unbedingt Mutter oder Vater sein. „Es könne unterstützend, wenn Eltern überfordert sind, durchaus eine Erzieherin, Familienhelferin, ein Lehrer oder die Großeltern sein“, so die Mitteilung.
Aussagen dieser Art verkennen, wie destabilisierend sich eine äußere Einmischung durch so genannte professionelle Helfer zwangsläufig auf die innere Dynamik des Familienlebens auswirkt. Der familiäre Zusammenhalt und ein intaktes Eltern-Kind-Verhältnis basieren auf emotionalen Bindungen und dem Vorhandensein gemeinsamer, familiärer Werte. Was bedeutet es für die elterliche Autorität, wenn die Kinder erleben, dass ihre Eltern belehrt und gelenkt werden oder wenn wichtige, sie betreffende Entscheidungen, nicht von ihren Erziehungsberechtigten, sondern von Fremden getroffen werden? In einigen wenigen Fällen muss der Staat zum Schutz von Kindern eingreifen und sie gegebenenfalls in seine Obhut nehmen. In allen anderen Fällen, bei denen Kinder keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt sind, muss der Schutz der Privatsphäre und der Familie Vorrang haben.
Die große Bedeutung, die dem Schutz der Familie vor dem Staat zukommt, hat der Verfassungrechtler Paul Kirchhof in einem Interview hervorragend verdeutlicht: „Die Erziehung der Kinder ist nach dem Grundgesetz grundsätzlich Recht der Eltern“, sagt er. Damit beantwortet er die Frage, ob der Staat bei Überforderung der Eltern einspringen müsse, dahingehend, dass die Regelnorm nie vom Missbrauch und der Fehlleitung her definiert werden dürfe. „Wir müssen ein Grundvertrauen in die Menschen haben – sonst enden wir beim Überwachungsstaat.“ [2]
Die Aussagen der Ministerin von der Leyen weisen in eine ganz andere Richtung. Das Klischee von den Christdemokraten, die unter keinen Umständen die staatliche Hand an die heilige Familie zu legen wagten, sei veraltet, sagt sie und möchte bei einer vermuteten Überforderung der Eltern schon sehr viel früher eingreifen. Es gehe darum, Kinder zu stärken, ihre Persönlichkeit zu festigen, indem sie Selbstbewusstsein entwickeln, um Gefahren und Bedrohungen besser entgegentreten zu können. [3]
Es ist absurd, wenn der Staat glaubt, Kindern von außen Selbstvertrauen und Persönlichkeitsstärke einflößen zu können. Mag sein, dass ein Familienhelfer es schafft, eine Mutter vom Rauchen abzuhalten. Die „Nebenwirkungen“ solcher Maßnahmen, wie z.B. die Schwächung des elterlichen Selbstvertrauens, die Abwendung von Erziehungsverantwortung (hin zu externen, bezahlten „Professionellen“), die Aushöhlung der familiären Intimsphäre und die damit verbundene Abwertung der Familie als Ganzes sind aber womöglich für Kinder langfristig schädlicher als das Passivrauchen.
 

„Der Modellversuch zur Frühförderung von Kindern aus sozial stark benachteiligten Familien ist ein Experiment, mit dem die Grenzen staatlichen Handelns langsam aber stetig ausgeweitet werden.“



Ein „Abgleiten“ der ganzen Gesellschaft?
Es sind die schwächsten und daher auch wehrlosesten Mitglieder unserer Gesellschaft, die bei dem geplanten Projekt als Versuchskaninchen fungieren müssen. Es ist ein Experiment, bei dem der Staat jedoch ganz bewusst die Option einer Ausweitung auch auf andere Familien anstrebt. Die überwiegende Zahl der Eltern erziehe ihre Kinder besser, als der Staat es jemals könnte, erfährt man zwar von Frau von der Leyen, aber auch, dass „fünf bis sieben Prozent der Kinder in sozial benachteiligten Familien“ aufwüchsen. Kurzerhand wird somit die Zahl der potenziell zu „betreuenden Familien“ von 200 im Raum Hannover auf über eine Million erhöht – und das mit weiterhin steigender Tendenz (zumindest in der Fantasie der Ministerin und ihres Verbündeten vom kriminologischen Forschungsinstitut). Der Kriminologe Pfeiffer war bereits in der Vergangenheit wegen seines überwiegend negativen Menschenbildes aufgefallen. Im Jahre 2000 trug er im so genannten „Joseph-Fall“, bei dem es um einen tödlichen Badeunfall eines achtjährigen Jungen ging, maßgeblich dazu bei, dass die Kleinstadt Sebnitz im Osten Deutschlands voreilig als Nazihochburg verurteilt wurde. Pfeiffers grundlegend skeptische bis verachtende Meinung über normale Menschen (im Zweifel gegen den Angeklagten) spiegelt sich auch in seiner These der „Medienverwahrlosung“ wider. Es bestünde, so Pfeiffer, ein Zusammenhang zwischen Medienkonsum und schulischer und krimineller Laufbahn. Diese sehr fragwürdige These ermöglicht es ihm, Millionen von Familien mit Fernseher und Playstations als Brutstätten von Delinquenten zu diffamieren. 50 Prozent der Grundschüler habe eine Spielkonsole, 52 Prozent (der Jungen) gar einen Fernseher, konstatierte er bei einem Vortrag im Februar 2005 in einem Bad Harzburger Gymnasium. Eine Playstation produziere zwar noch keine Hauptschüler, so Pfeiffer, aber sie sorge für Verwahrlosung. In einem Spiegel-Interview anlässlich des zweiten Jahrestags des Schulmassakers von Erfurt behauptete er gar, jeder dritte Junge drohe „in die Falle von Fernsehen, Internet und Videospielen“ abzurutschen (und implizierte damit, es gäbe unzählige potenzielle Amokläufer unter uns).
Es fällt nicht schwer, durch die direkte Verbindung zwischen Fernsehen, Playstation und Verwahrlosung, gekoppelt mit einer Gefahr des kriminellen Abgleitens, eine Brücke vom Modellprojekt hin zu einer plötzlich unüberschaubar großen Zahl „hilfsbedürftiger Kinder“ zu schlagen. Auch Frau von der Leyen möchte mit ihrem Modellversuch erreichen, dass „Kinder nicht Stunden des Tages vor dem Fernseher vergammeln“. Der Modellversuch zur Frühförderung von Kindern aus sozial stark benachteiligten Familien ist ein Experiment, mit dem die Grenzen staatlichen Handelns langsam aber stetig ausgeweitet werden – bis tief hinein in Bereiche, deren Schutz bisher als wichtiger Prüfstein liberaler Bürgerrechte galt. Es ist das Bild des unschuldigen Kindes, das geschützt werden muss, welches dazu dient, jegliche Bedenken gegen eine solche Politik von vornherein auszuschließen.
Es ist an der Zeit, dass sich auch in Deutschland, ähnlich wie in den USA und England, Stimmen erheben, die sich gegen eine schleichende, aber stetige Aushöhlung von Freiheitsrechten, wie das Recht der Eltern, ihre Kinder selber zu erziehen, wenden. Dabei geht es um mehr als nur Erziehungsfragen. Es geht darum, der Entmündigung normaler Bürger sowie dem Verlust des Grundvertrauens in die Menschen entgegenzutreten.

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