26.11.2012

Was ist eigentlich so toll am Wohlfahrtsstaat?

Essay von James Panton

Die Ursprünge des Wohlfahrtsstaats waren alles andere als fortschrittlich, und in seiner neuen therapeutischen Form steht er dem Entstehen eines solidarischen Gemeinwesens im Weg. Von der Geschichte und Gegenwart des britischen und europäischen Sozialstaatsmodells

Auch wenn wir gerade einen Überbietungswettbewerb der großen Parteien in der Frage erleben, welche drastischen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben als nächstes vorzunehmen sind, gibt es doch eine Sache, in der sich alle –ob sozialdemokratisch, konservativ oder liberal – ganz schnell einig sind: Der Wohlfahrtsstaat – diese vermeintliche Gipfelleistung des europäischen Nachkriegskonsenses, der den Bürgern für mehr als 60 Jahre von der Wiege bis zur Bahre „Schutz vor Entbehrung“ garantierte – ist sicher.

Es gibt zwar minimale Meinungsverschiedenheiten über die technische Umsetzung, also wie und wann Ausgaben gekürzt werden müssen, aber alle Parteien versichern uns dann doch in etwa das Gleiche: Einsparungen sind zwar unbedingt notwendig, aber sie werden keine schädlichen Auswirkungen auf unsere Gesundheitsversorgung, Bildung oder die Unterstützung für Kinder und Familien haben.

Manche Leute werden erfreut sein, dass der Wohlfahrtsstaat mehr oder weniger intakt bleiben soll – aber es gibt viele Gründe, warum dieser scheinbare Konsens über die nächste Zukunft des Wohlfahrtsstaats uns beunruhigen sollte. Zunächst einmal ist es unaufrichtig zu glauben, dass die Daseinsfürsorge auf dem derzeitigen Niveau beibehalten werden kann, während gleichzeitig deutliche Kürzungen der öffentlichen Ausgaben vorgenommen werden. Es gibt auch die zutiefst konservative Annahme, dass Kürzungen in erster Linie notwendig sind, um unsere Gesellschaft durch Enthaltsamkeit an niedrigeres Wirtschaftswachstum anzupassen.

Aber viel beunruhigender als die bevorstehenden Kürzungen ist, dass die Führer aller Parteien sich weigern, über eine grundlegende Reorganisation der gesellschaftlichen Erwartungen an die staatliche Daseinsfürsorge überhaupt nur nachzudenken.

Die Kombination wirtschaftlicher Stagnation oder Rezession mit der Erschöpfung unserer politischen und staatlichen Institutionen gibt uns Gelegenheit, viele enorm wichtige Fragen zum Wohlfahrtsstaat zu stellen: Welche Arten von sozialer Fürsorge wollen wir? Wie können sie (re-)organisiert werden? Welche Art neuer sozialer Institutionen könnte Individuen vor den unausweichlichen Mängeln der kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts schützen?

Da der Politik heute entsprechende Visionen fehlen, ist es kein Wunder, dass diese Fragen nicht auf der Wahlagenda stehen. Aber es gibt einen tieferen Grund, warum die Rolle des Wohlfahrtsstaats nicht ernsthaft untersucht wird. Kritische Fragen zum Wohlfahrtsstaat aufzuwerfen, würde von der politischen Klasse verlangen, die Rolle infrage zu stellen, die er in der Reorganisation des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern gespielt hat. Und das würde die Annahmen darüber, wozu Bürger in der Lage sind und welche Rolle der Staat in unseren Leben spielen kann und sollte, radikal umformen. Während der letzten Jahrzehnte ist ein neues Verständnis von Wohlfahrt in den Mittelpunkt der Bemühungen der Eliten gerückt, sich mit der Bürgerschaft zu vernetzen, sich auf sie einzulassen und sie umzugestalten. Während es beim alten Wohlfahrtsstaat vor allem darum ging, Bürger mit den Dingen zu versorgen, die sie zum Überleben brauchen, ist der neue Wohlfahrtsstaat eher eine therapeutische Institution, der es darum geht, neu zu definieren, was es heißt, Bürger zu sein und wie Bürger sich zum Staat verhalten sollen.

Der therapeutische „Befähigungsstaat“

Die alte Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat als einem „Sicherheitsnetz“, das Bürgern hilft, Notlagen zu bewältigen, unterstellte, dass Individuen, Familien und Gemeinschaften im Allgemeinen in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu leben. Soziale Hilfestellungen waren folglich so konzipiert, dass die Bürger rasch in eine Situation zurückkehrten, in der sie mit ihrem Leben ohne fremde Hilfe als autonome Menschen weiterkommen konnten. Das Wohlfahrtsmodell, das sich während der letzten zwei Jahrzehnte entwickelt hat, lehnt hingegen die Annahme ab, dass Individuen die Fähigkeit haben, ihre Leben autonom zu bestreiten. Wohlfahrt fußt heute auf der Annahme, dass Individuen und Gemeinschaften ohne ständiges Eingreifen des Staats und seiner Institutionen, die sie informieren, erziehen, beraten und ausbilden oder umschulen, ihre eigene Gesundheit und ihren Lebensstil, ihr Familienleben, die Kindererziehung und die informelle Pflege ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen nicht selbst verwalten können.

Die Veränderung ist so grundlegend, dass es nicht mehr angemessen ist, überhaupt von einem „Wohlfahrts“-Staat zu sprechen. An seiner Stelle ist das entstanden, was der frühere britische Premierminister Tony Blair 2006 als „Befähigungsstaat“ beschrieben hat. Dieser neue „Befähigungsstaat“ wird zwar rhetorisch mit Begriffen wie Verantwortung und Ermächtigung begründet, doch sein Einfluss auf die Menschen bewirkt das genaue Gegenteil. Nahezu jedes Eingreifen des Wohlfahrtsstaats geht nun von der Voraussetzung aus, dass Menschen verletzlich, körperlich und psychologisch anfällig sind und der ständigen therapeutischen Intervention bedürfen.
Die Rolle des Wohlfahrtsstaats infrage zu stellen, ist nie dringender gewesen als heute. Deshalb müssen wir zunächst rekapitulieren, was der Wohlfahrtsstaat in der Vergangenheit wirklich war, und dann die jüngere Umgestaltung seiner Institutionen von Bereitstellern unauffälliger Hilfe und materieller Ressourcen in Instrumente für therapeutische Menschenführung überdenken.

Die Ursprünge des Wohlfahrtsstaats

Natürlich war der Wohlfahrtsstaat immer – sogar in seiner traditionellen Form – mehr als ein bloßes Sicherheitsnetz. Seine Interventionen und Zuwendungen waren oft zutiefst problematisch, und es ging dabei stets um mehr als die bloße Bereitstellung materieller Güter für Menschen in Not.

Der Wohlfahrtsstaat wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend romantisiert und mit dem Selbstverständnis der europäischen Staaten der Nachkriegszeit als fürsorglich und egalitär verbunden. Besonders seitens der Linken betrachteten viele das Wohlfahrtsprojekt als ersten Schritt auf dem Weg zum Sozialismus oder zu einer wie auch immer gearteten besseren Gesellschaft. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass die wirkliche Motivation, den Wohlfahrtsstaat zu errichten, wenig mit moralischen Überlegungen über größere materielle Gerechtigkeit zu tun hatte und sicher nichts mit der Schaffung eines fortschrittlichen Gemeinwesens. In Wirklichkeit entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat als Versuch, die Mängel der Marktgesellschaft abzuschwächen und die Bedrohung durch den Klassenkonflikt einzuhegen – er wurde von den Interessen des Staats – nicht denen der Bürger – bestimmt.

In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigten sich Teile der liberalen Intelligenz intensiv mit den scheinbaren Ungerechtigkeiten des Laissez-faire-Kapitalismus. In Großbritannien appellierte der sozialliberale T.H. Green an den Staat, „alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen“, die der individuellen Entwicklung „sozialer Befähigung“ im Weg stehen, also etwa Mangel an Bildung, Gesundheitspflege und Wohnungsbau (siehe Thomas Hill Green, Lectures on the Principle of Political Obligation, 1885). Die Forschung des britischen Sozialreformers Charles Booth und der jungen Sozialistin Beatrice Webb über Armut und Wohnungsbau sowie Seebohms Studie über Armut in New York, in der er das Argument entwickelt, dass Armut eher das Ergebnis niedriger Löhne als moralischen Versagens der Armen sei, lieferte den statistischen Nachweis und die normativen Argumente für die Entwicklung einer moralischen, wenn auch paternalistischen, Beschäftigung mit dem Problem der Armut.

Diese Sorgen, unter anderen von Quäkern und liberalen Reformern vorgebracht, reichten aber nicht aus, um eine grundlegende Neukonzeptualisierung der Rolle des Staats anzuregen, die darauf hinauslaufen würde, allen Menschen Wohlfahrt und Gesundheit sicherzustellen. Vielmehr entstand der Wohlfahrtsstaat aus deutlich pragmatischeren politischen Überlegungen.

1899 wurden fast 25 Prozent der Freiwilligen (ganz überwiegend Angehörige der Arbeiterklasse) für den Einsatz im Zweiten Burenkrieg ausgemustert. Diese Entwicklung erschütterte die Politik des britischen Empire. Allein in Manchester wurden 8.000 der 10.000 der Männer wegen ihres schlechten Gesundheitszustands und ihrer körperlichen Mängel abgelehnt. Schlimmer noch: Die Schwierigkeiten jener Arbeiter, die den Grundfitnesstest bestanden hatten, die weniger erfahrenen Buren zu schlagen, ließen in Großbritanniens Elite die Sorge wachsen, dass dies der Anfang vom Ende Großbritaniens militärischer Vormacht sein könnte. Wie konnte Großbritannien groß sein, wenn seine kämpfenden Männer körperlich so schwach waren? Innerhalb der britischen Elite entwickelte sich ein Diskus über die Degeneration der britischen Rasse und wie sie umgekehrt werden könne, indem man die Grundbedingungen der arbeitenden Männer verbesserte.

Ebenso wichtig für das Entstehen staatlicher Wohlfahrtskonzepte war die Sorge über die zunehmenden Herausforderungen für Großbritanniens wirtschaftliche Dominanz in der Welt, besonders aus Deutschland. Die wachsende wirtschaftliche Macht der jüngst vereinten Deutschen war, zumindest zum Teil, Folge seines Strebens nach „nationaler Effizienz“. In den 1880ern führte Otto Bismarck, motiviert von dem Versuch, die Bedingungen für maximale Produktivität zu schaffen und dem Wunsch, soziale Konflikte einzudämmen, eine Reihe von staatlichen Maßnahmen ein, mit denen Gesundheits-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherungen für die Arbeiterklasse bereitgestellt wurden. Diese deutschen Wohlfahrtsmaßnahmen waren das Modell für die liberalen Reformen, die von den Regierungen unter Herbert Asquith und David Lloyd George in England umgesetzt wurden: die Einführung einer bedürftigkeitsorientierten Pension 1908, die Einrichtung der Arbeitsvermittlung 1909 und das Sozialversicherungsgesetz 1911, mit dem eine soziale Krankenversicherung und Arbeitslosenunterstützung gegründet wurden.

Wie in Deutschland so auch in Großbritannien war die zunehmende Akzeptanz staatlichen Eingreifens in die Gesellschaft, um die Bedingungen für eine effizientere kapitalistische Wirtschaft zu schaffen, großteils durch die zunehmende Sorge über die wachsende Macht und Radikalisierung der Arbeiterbewegung bedingt. Den wirtschaftlichen und politischen Eliten erschien ein staatliches Sozialversicherungssystem weitaus wünschenswerter als die mögliche Alternative: dass die Arbeiterklasse selbst danach streben könnte, ihre Lebensbedingungen umzugestalten.

Die Weiterentwicklung der damals eingeführten ersten sozialen Sicherungssysteme zu den Institutionen staatlicher Wohlfahrt, die wir heute sehen, begann in Großbritannien mit der Veröffentlichung des Beveridge-Reports im Jahre 1942. Die Vision einer Gesellschaft vollständig beschäftigter, gesunder und materiell abgesicherter Bürger, die die „gigantischen Übel des Elends, der Ignoranz, des Müßiggangs, der Not und der Krankheit“ hinter sich lassen würde, wie es der Sozialreformer William Beveridge formulierte, war ausschlaggebend für den ideologischen Elan, mit dem die britischen Truppen im Zweiten Weltkrieg kämpften. Es entwickelte sich das Empfinden, der Krieg gegen den deutschen Faschismus sei auch ein Kampf für eine neue Gesellschaft im eigenen Lande.

Die Prinzipien und Institutionen des Wohlfahrtsstaats wurden schließlich mit dem Schulgesetz von 1944 eingerichtet, das eine kostenlose Sekundarausbildung und die Grundlage für Gesamtschulen schuf, das Kindergeldgesetz von 1945, das Sozialversicherungsgesetz von 1946 und dann den staatlichen Gesundheitsdienst, der 1948 eingerichtet wurde. Die meisten dieser Einrichtungen wurden von der ersten Mehrheitsregierung der Labour Party geschaffen, aber es war der Tory-Reformer R.A. „Rab“ Butler, der die Bildungsreformen einleitete. Butler und seine „One-Nation“-Parteigenossen, die 1951 an die Regierung kamen, hatten kein Problem mit dem Wohlfahrtsmodell. Ganz im Gegenteil: Es war der zentrale Grundpfeiler ihres Projekts der sozialen Einheit und Stabilität.

Ziel des Beveridge-Reports war es, die kapitalistische Wirtschaft zu stärken – also keineswegs sie zu zersetzen – und weiteres Wachstum zu sichern. Dass es allgemeiner Konsens werden konnte, die Gesellschaft in diesem Ausmaß staatlichen Eingriffen zu unterwerfen, wurde zweifellos von der kompletten Beherrschung der Gesellschaft durch den „Kriegsstaat“ während der vorangegangenen sechs Jahre mit bedingt. Zudem konnten die Eliten durch die Vision eines neuen wohlfahrtsorientierten Staates auch die Arbeiterbewegung in eine einheitliche Wahrnehmung der Rolle und Identität Großbritanniens einbinden.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die Prinzipien und Realität des Wohlfahrtsstaats keinen positiven Nutzen gebracht hätten. Der staatliche Gesundheitsdienst in Großbritannien, der auf der Idee des universellen Zugangs zum Gesundheitswesen bei Bedarf beruht, hat erheblich zum Ausmerzen von Krankheiten und zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beigetragen. Und die Einführung eines umfassenden Bildungssystems hat zumindest in der Theorie allen Kindern Zugang zu gründlichem Lernen und Wissen verschafft, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit oder dem Einkommen der Eltern.

Die soziale Versorgung für Menschen, die – nicht durch eigene Fehler – außerstande sind, sich selbst zu versorgen, ist Ausdruck der humanistischen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern in Zeiten der Not. Die Erkenntnis, dass Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit soziale Probleme sind und nicht etwa eine Folge individuellen moralischen Versagens, war implizit eine entscheidende Annahme des Wohlfahrtsmodells, das in Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1970er Jahre prägend war und bleibt eine wichtige Einsicht für jeden, der sich mit sozialer Gerechtigkeit auseinandersetzt.

Trotzdem muss man die positiven Aspekte des Wohlfahrtsstaats dem problematischen gegenüberstellen, dass das immer umfangreichere Eingreifen des Staats in die Gesellschaft eine Abhängigkeitsstruktur hervorbringt, die die Fähigkeit von Individuen und Gemeinschaften schwächt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Indem er einen Puffer gegen Entbehrungen bereitstellt, die durch Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder persönliche Schwierigkeiten verursacht werden, spielt der Wohlfahrtsstaat auch eine wichtige Rolle dabei, Menschen zu ermutigen, sich ihrem Schicksal anzupassen.

Das Kriterium, mit dem jede vergangene, derzeitige oder geplante Wohlfahrtsintervention bewertet werden sollte, ist, ob sie Individuen die Möglichkeit gibt, größere Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen – um das Leben zu leben, das sie führen möchten, und die entsprechenden Ressourcen zu nutzen. Auf dieser Basis wäre es falsch, die Erfolge von Bildung, Gesundheitsfürsorge und materiellen Wohlfahrtsbezügen aufzugeben – wenn Menschen in Not sind, sollte eine anständige Gesellschaft Mechanismen entwickeln, um diesen Nöten zu begegnen. Aber es wäre naiv, die politischen Ursprünge des Wohlfahrtsstaats und seine Rolle in der Entradikalisierung und Steuerung der Bestrebungen der Arbeiterklasse zu übersehen und die zunehmend problematische Rolle unerforscht zu lassen, die der neue therapeutische Wohlfahrtsstaat heute spielt.

Von der Wohlfahrt zur Therapie

Das ursprüngliche Bestreben humanistischer Sozialreformer, soziale Mechanismen bereitzustellen, die Menschen befähigen können, größere Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen, war in der Diskussion und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats während der letzten zwei Jahrzehnte völlig abwesend. Tatsächlich ist der neue „Befähigungsstaat“, wie Blair ihn taufte, die direkte Folge reduzierter Erwartungen an die Fähigkeiten von Individuen und Gemeinschaften.
Während der Wohlfahrtsstaat ursprünglich im Wesentlichen ein Versuch war, radikale Arbeiterpolitik einzuhegen, war die Motivation für die Wandlung des Wohlfahrtsstaats in den letzten Jahrzehnten ein halbbewusster Versuch der Politik, neue Anknüpfungspunkte an die Bürger zu finden, sich enger an sie anzuschließen und sie gleichzeitig in vielfältiger Weise umzugestalten und zu resozialisieren. Schauen wir uns zwei Beispiele an.

Kinder und Familien

Eine der progressivsten Kampagnen der feministischen Bewegung in den 1970ern und 80ern war die für eine bei Bedarf allgemein zugängliche Kinderbetreuung. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als wäre diese Forderung schließlich mit Sure Start erfüllt worden, dem Programm, mit dem New Labour anstrebte, „jedem Kind den besten Start zu liefern, indem frühkindliche Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheits- und Familienfürsorge zusammengebracht werden“. Sure Start stellt Kinderzentren zur Verfügung („Servicepunkte, wo Kinder unter fünf Jahren und ihre Familien integrierte Services und Informationen unter einem Dach erhalten können“), garantiert freie „frühkindliche Bildung“ für Drei- bis Fünfjährige und verspricht Kinderbetreuung für jedes Kind zwischen drei und 14 Jahren, werktags von acht bis 18 Uhr. Die einzige Meinungsverschiedenheit unter den politischen Parteien bezüglich Sure Start betrifft heute die Frage der Finanzierung dieses Systems.

Die Sure-Start-Initiative beruht aber auf zwei mehr als bedenklichen Annahmen. Die erste ist die, dass die meisten Eltern im besten Fall nicht wissen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, und im schlimmsten Fall dazu sozial gänzlich unfähig sind. Die zweite ist die fatalistische Vorstellung von der kindlichen Entwicklung, wonach defizitäre Erwachsene und zerbrochene Gemeinschaften das Ergebnis „schlechter Erziehung“ von den frühesten Monaten des Lebens eines Kindes an sind.
Sure Start strebt an, gesündere Kinder zu schaffen, „indem Eltern dabei unterstützt werden, für Kinder zu sorgen, und zwar sowohl vor als auch nach der Geburt“. Das bedeutet in der Praxis unter anderem, dass der Staat Eltern über die sittlichen Übel des Rauchens und Trinkens während der Schwangerschaft belehrt und sicherstellt, dass Kinder mit den empfohlenen fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag versorgt werden. Sure Start bietet Eltern sogar Anleitungen dazu an, wie sie mit ihren Kindern spielen sollen.

Solche Eingriffe höhlen sowohl die Autorität des Staates als auch die Autonomie der Eltern aus und animieren sie, die Kindererziehung und das Familienleben als eine Tätigkeit zu betrachten, die nur unter sorgfältiger Anleitung staatlich zertifizierter Experten unternommen werden kann. Mehr als alle vorherigen Eingriffe durch staatliche Fürsorge, die traditionell auf eine relativ kleine Gruppe sehr unterprivilegierter Familien ausgerichtet war, strebt Sure Start an, sich mit Familien aller sozialen Schichten zu befassen. Sure Start unterstellt, dass staatliche Intervention unerlässlich ist, um ordentlich sozialisierte Individuen zu produzieren und Familien zusammenzuhalten. Viele reale Probleme in Zusammenhang mit der öffentlichen Kinderbetreuung, dem Zugang zu anständiger Bildung und den finanziellen Belastungen, die für Familien mit dem Großziehen von Kindern verbunden sind, werden gleichzeitig ignoriert. In erster Linie zielt Sure Start darauf ab, die Bevölkerung therapeutisch auf den richtigen Weg des Denkens, Verhaltens und Elternseins zu führen, und weniger auf die Versorgung mit Gütern, die sie brauchen könnten.

Arbeitslosigkeit und Unvermögen

Großbritannien durchlebt seit mehreren Jahren eine tiefe wirtschaftliche Rezession, mit der Folge, dass offiziell fast 2,5 Millionen Menschen arbeitslos sind. Deshalb besteht für viele große materielle Unsicherheit und Not. Doch der Umgang mit dieser Lage unterscheidet sich heute deutlich von dem zur Zeit der großen Arbeitskämpfe, die die Rezession der 1970er begleiteten und stark dazu beitrugen, den traditionellen Wohlfahrtskonsens der Nachkriegszeit zu beenden. Die Arbeitslosigkeit ist heute kein politisches Thema mehr, zu dem gesellschaftliche oder politische Lösungen gesucht werden.

Als Reaktion auf die aktuelle Rezession mobilisiert der Staat nicht die Polizei und das Militär, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Stattdessen bildet er eine Armee von Beratern und Therapeuten aus, um den kürzlich arbeitslos Gewordenen dabei zu helfen, mit ihren veränderten Umständen umzugehen. Die Callcenter-Angestellten des britischen National Health Service (NHS) wurden angehalten, bei Anrufern, die ihre Jobs verloren haben, auf Zeichen von Depression zu achten, während die Arbeitsämter ermächtigt wurden, Arbeitssuchende an eine kognitive Verhaltenstherapie weiterzuleiten, mit der Zusage, dass solche Therapien bald vor Ort in den Arbeitsämtern selbst angeboten würden.

Diese Initiativen sind nur eine Erweiterung der – schon vor der Rezession – erklärten Absicht der Regierung, Arbeitslosen psychologische Behandlungen zur Verfügung zu stellen, nicht nur, um ihnen im Umgang mit der Arbeitslosigkeit behilflich zu sein, sondern um ihnen zu helfen, „das Selbstbewusstsein zu entwickeln“, mit dem sie ins Arbeitsleben zurückkehren können. Arbeitslosigkeit wird heute also als ein Problem der individuellen Psychologie betrachtet, nicht der sozialen und wirtschaftlichen Organisation. Das sich wandelnde Bild der Arbeitslosigkeit von einem Zeichen politischer oder wirtschaftlicher zu einem individueller Unzulänglichkeit spiegelt sich darin wider, dass von den fünf Millionen Menschen, die in Großbritannien derzeit nicht in Arbeit sind und Unterstützung beanspruchen, mehr als 50 Prozent Invaliditätsrenten beziehen. Sie wurden als arbeitsunfähig deklariert, ohne dass erwiesen wäre, dass sie keinen Job hätten bekommen können.

Während die britischen Parteien Bedenken über die steigenden Kosten der Expansion der Wohlfahrt äußern, spricht so gut wie niemand darüber, wie sich die Autonomie oder Unabhängigkeit der Menschen besser fördern ließen. Die Mechanismen, mit denen man Arbeitslosen zurück in Arbeit „helfen“ möchte, sind vielmehr in Großbritannien wie anderswo in Europa ein anhaltender Prozess von Umschulungen, Betreuungsmaßnahmen und finanzieller Unterstützung, der sich sogar fortsetzt, wenn Arbeit gefunden worden ist. Letztlich wird also unterstellt, dass staatliche Eingriffe und Unterstützung gebraucht werden, um die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen zu erhalten.

Die verbreitete Klage, dass viele Arbeitslose und Erwerbsunfähige das Wohlfahrtssystem zynisch ausbeuten, verfehlt das Ausmaß, in dem der Wohlfahrtsstaat Menschen ermutigt hat, sich selbst als physisch beeinträchtigt und psychisch nicht belastbar zu verstehen. Dass Arbeitslosigkeit heute als Ausdruck individuellen Unvermögens und kollektiver Mentalitäten statt als Folge wirtschaftlicher Stagnation betrachtet wird, drückt sich in der Diagnose der Konservativen Partei aus, dass „in vielen Teilen des Landes Arbeitslosigkeit von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird“. Hier werden die Kinder arbeitsloser Familien als von einer degenerierten Kultur sozialisiert betrachtet, und von solchen Kindern heißt es, dass sie es in der Schule eher nicht zu etwas bringen, sondern wahrscheinlich selbst arbeitslos enden werden. Wie die Unterstellung, dass das missbrauchte Kind später der erwachsene Täter ist, wird Arbeitslosigkeit als ein psychisches Problem betrachtet, das durch Mängel in der Kindererziehung und Sozialisation verursacht wird. In gewisser Weise führt uns das zurück zur alten Idee der Armut als moralischer Schwäche – der neue therapeutische Staat lässt die Vergangenheit aufleben.

Einer neuen Zukunft entgegen

Der Gedanke, dass die Gesellschaft Menschen, die gelegentlich Hilfe benötigen, materielle Zuwendungen bereitstellen kann und soll, ist richtig. Aber ein Wohlfahrtsmodell, das auf den Prinzipien der therapeutischen Intervention aufbaut, bewirkt keine individuelle Ermöglichung und Autonomie, sondern die zunehmende Individualisierung sozialer Probleme. Diesem Modell liegt die Vorstellung zugrunde, dass Menschen generell nicht in der Lage sind, ihr Leben zu organisieren. Und diese kann dann zu einer sich selbst erfüllende Prophezeiung werden, da Menschen tatsächlich zunehmend davon abhängig werden, dass sie der Staat bei den einfachsten und alltäglichsten Tätigkeiten betreut, reguliert und berät. Die Förderung einer Gesellschaft in einem Zustand solcher Abhängigkeit ist eine demoralisierende Verschwendung des Lebens und der Potenziale der Menschen.

Wir brauchen eine ernsthafte politische Debatte über den Abbau großer Bereiche des Wohlfahrtsstaats. Das bedeutet nicht, Wohlfahrt aus Kostengründen zu reduzieren, sondern zu fragen, wie der Wohlfahrtsstaat dazu gekommen ist, zersetzenden Einfluss auf die Menschen auszuüben, die von ihm abhängig sind. Weit von dem „Befähigungsstaat“ entfernt, den Blair sich vorstellte, ist der, den wir jetzt haben, ein behindernder Staat.

Die Wohlfahrtsdebatte, die wir dringend brauchen, muss die beschränkte politische Fantasie des Links und Rechts überwinden. Der Staat ist weder die einzige Einrichtung, die das Wohlergehen der Bürger garantieren kann, noch können wir uns auf den Markt als stetigen Versorger der Menschen verlassen. Wir sollten die positive Herausforderung annehmen, dass die Zurückweisung staatlicher Eingriffe uns dazu führen könnte, selbst neue öffentliche Institutionen einzurichten, die zusammen als Bürger handeln. Wir könnten beginnen zu entscheiden, welche Art Sozialleistungen wir tatsächlich brauchen können und in welcher Art Gesellschaft wir wirklich leben möchten.

Diejenigen unter uns, die sich für eine bessere Zukunft interessieren, müssen den Mut aufbringen, die ideologischen Fundamente des therapeutischen Staatsinterventionismus in Frage zu stellen. Die aktuellen Leistungen der staatlichen Wohlfahrt sind den großen sozialen Aufwand nicht wert, der heute dazu dient, uns als Individuen umzudefinieren, die beschränkt, verletzlich und allgemein unfähig sind, ihr Leben zu bewältigen.

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