01.03.2006

Warum wir die Freiheit fürchten

Essay von Frank Furedi

Das erste Opfer der Politik der Angst ist die Meinungsfreiheit.

Politik hat heute wenig gemein mit den Leidenschaften und Gegensätzen, die die Einstellungen der Menschen in den vergangenen 200 Jahren geprägt haben. Weder gibt es Prinzipien, noch Ideale, noch klare politische Ziele.

Die modernen Parteien ähneln Marken, die von Think-Tanks, PR-Agenturen und Werbern entworfen und betreut werden. Ohne Ziele jedoch wird Politik zu einer Karikatur ihrer selbst. Wenn sich die Anhänger der Parteien ausschließlich darauf konzentrieren, Wahlen zu gewinnen, erschöpft sich die Politik, sie wird unglaubhaft und fad.
Die Erschöpfung der Politik offenbart die Orientierungslosigkeit der herrschenden Eliten. Weder haben sie ein Ziel, noch eine Vorstellung davon, worin ein solches bestehen könnte. Politikern gelingt es nicht mehr, ihre Absichten und Handlungen mit politischen, moralischen oder philosophischen Konzepten in Verbindung zu setzen. Den Parteien fehlt sowohl Programm als auch Identität. Auf Parteitagen wird entsprechend krampfhaft um Selbstverständnisse gerungen. Aber anstatt die Interessen oder Überzeugungen der Menschen aufzugreifen, legen die Parteien lieber ein neues „Projekt“ auf oder basteln an einer „Agenda“.
 

„Die Entpolitisierung des öffentlichen Lebens führt zu einer überhöhten Aufmerksamkeit für Alltäglichkeiten, für Nichtigkeiten.“



Wohlfühlsprache und Wichtigphrasen
Die „Respect Agenda“ des britischen Premierministers Tony Blair ist ein typisches Beispiel hierfür. Mit dem Schlagwort „Respekt“ sollen größere soziale Wärme und ein rücksichtsvollerer Umgang miteinander befördert werden. Beim Studieren des Programms fällt auf, dass leere Begriffsblasen das Fehlen von Ideen und Visionen vernebeln sollen. Alle Politiker stehen für Diversität, Transparenz, Nachhaltigkeit, Best-Practice-Modelle, für eine Stakeholder-Gesellschaft, für ergebnisoffene Dialoge und Innovationen. Nach schlüssigen Erklärungen, wofür diese Begriffe stehen, sucht man jedoch vergeblich.
Der Niedergang des politischen Denkens ist die Folge eines tief sitzenden Gefühls der Entfremdung von der Vergangenheit. Dies führt dazu, dass die Zukunft als hoffnungslos erscheint. Ohne klar umrissene Alternativen verliert Politik jede Perspektive und wird zu einem kurzsichtigen Verwalten dessen, was ist.
Politiker meiden die großen Themen. An ihre Stelle treten zahlreiche isolierte Kampagnen, die zueinander in keinerlei Beziehung stehen – im Falle der britischen „Respect Agenda“ sind dies Kampagnen für das Verbot der Fuchsjagd, für die Abschaffung der Sperrstunde oder für die Verbesserung des Essensangebots in Schulen. Hier werden Kleinigkeiten zu Schicksalsfragen des 21. Jahrhunderts erklärt. Die Entpolitisierung des öffentlichen Lebens führt zu einer überhöhten Aufmerksamkeit für Alltäglichkeiten, für Nichtigkeiten. So können die Bürger nicht erreicht werden, denen die Verwaltungssprache der Politik fremd bleibt und die, auch wenn sie es nicht immer benennen können, dennoch merken, dass hier nichts geboten wird, was ihren Interessen entspricht.
 

„Diversität an sich hat keine politische oder moralische Bedeutung.“



Von einer „Respect Agenda“ lässt sich kaum jemand mitreißen. Und auch die Behauptung, Großbritannien stünde für Diversität und Verständigung, die Terroristen hingegen für das Böse, wird niemanden, der nach klaren Ziele im Leben sucht, vom Hocker reißen. Die Sprache der heutigen Politik besteht aus Plattitüden, die die vorherrschende inhaltliche Leere nur unzureichend verdecken. Auch in Deutschland ist dies der Fall; daran hat sich auch durch den Regierungswechsel nichts geändert.
„Diversität“ – gemeint ist die gleichwertige Vielfältigkeit sozialen, kulturellen und politischen Lebens – ist einer der populärsten Wohlfühlbegriffe. Betont man die Bedeutung und den hohen Wert der Diversität, sagt man letztlich nichts anderes, als dass die Gesellschaft keine klar umrissenen Werte und nichts mehr hat, auf das man stolz sein kann. Diversität an sich hat keine politische oder moralische Bedeutung. Weder steht sie für eine Sicht der Welt, noch gibt sie der Gesellschaft ein Ziel oder eine Vision. Diversität ist eine Worthülse, die davon ablenken soll, dass man nicht weiß, wofür man steht: „Alles so schön bunt hier!“
Im besten Fall beschreibt Diversität einen Zustand der Ungleichheit und eine Variationsbreite – Menschen unterscheiden sich nach Herkunft, kulturellen Praktiken und Lebensstilen. Was eine solche „diverse“ Gesellschaft jedoch auszeichnet, wohin sie sich bewegt, was sie will und was sie zusammen hält, bleibt unklar. Dass dennoch selbst vergleichsweise intelligente Personen oft und gern von Diversität reden, zeigt, wie sehr sich das öffentliche Leben zerfasert hat.
Das tief sitzende Gefühl dieser Malaise führt dazu, dass viele Regierungen westlicher Staaten rein negativ regieren beziehungsweise reagieren. Dieser Trend zeigt sich auch bei der zunehmenden Einschränkung von Freiheitsrechten. Die Politisierung der Angst hängt eng mit der Unfähigkeit der Regierenden zusammen, Ziele und Visionen zu formulieren.


Die Politisierung der Angst
Gesellschaften, die zuversichtlich in die Zukunft schauen, lassen sich nicht ins Bockshorn jagen. Der amerikanische Präsident Roosevelt sagte in seiner Antrittsrede 1933: „Das Einzige, vor dem wir uns fürchten müssen, ist die Furcht.“ Hierin drückte sich eine Zuversicht aus, die dann in der Politik des „New Deal“ konkrete Formen annahm. Der Unterschied zwischen Roosevelts Haltung und derjenigen heutiger Politiker ist evident: Jede kleinste Verunreinigung von Lebensmitteln, die Vogelgrippe in Asien oder ein einstürzendes Hallendach in Bayern führt heute zu düsteren Prognosen über den Zustand der Gesellschaft und über das, was noch kommen mag.
Nicht wenige sehen in der Angst sogar eine Kraft, die sich produktiv dazu nutzen lässt, das Bewusstsein für Probleme zu schärfen. Im Sommer 2005 erklärte Tony Blair, die Mehrheit müsse geschützt werden vor einer Minderheit verantwortungsloser Eltern, die ihre Kinder nicht unter Kontrolle hätten.
Tony Blairs oder auch Ursula von der Leyens neue Gesetze zu Erziehung und Elternpflichten sind typische Produkte einer Politik, die darauf setzt, Ängste zu institutionalisieren. Zwangsmaßnahmen gegen vermeintlich zu nachlässige Eltern schränken die bürgerlichen Freiheiten ebenso ein wie die Gesetze zur nationalen Sicherheit, die dem Kampf gegen den Terrorismus dienen sollen. Die Bewegungsfreiheit von Eltern wird beschnitten, und unbotmäßige Väter und Mütter werden vom Staat überwacht.
Die Beschneidung von Freiheitsrechten scheint indes nur wenige zu stören. Blair selbst wies darauf hin, als er im September 2005 bemerkte, es gebe zwar noch Menschen, die in solchen Gesetzen einen Eingriff in die Rechte des Einzelnen sähen, die rechtschaffene Mehrheit jedoch zerbreche sich wegen derartiger kleiner Eingriffe nicht den Kopf. Auch in Deutschland ist von einer Opposition gegen die anhaltende Beschneidung von Freiheitsrechten nichts zu spüren. Tatsächlich gibt es kaum Widerstand gegen solche Maßnahmen, solange Politiker nur betonen, sie dienten unserem Schutz.
Ich bin beispielsweise immer wieder überrascht, dass in Großbritannien die routinemäßige polizeiliche Überprüfung aller Erwachsenen, die beruflich mit Kindern zu tun haben, so gut wie nie in Frage gestellt wird. Seit es diese Regelung gibt, werden mehr und mehr Erwachsene staatlich durchleuchtet, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch ein Vater sich einer solchen Überprüfung unterziehen muss, nur weil er die Freunde seines Kindes nach der Schule zum Fußballtraining fährt.
Dass Erwachsene durchleuchtet werden, bevor sie Umgang mit Kindern haben dürfen, zeigt, wie weit die Politik der Angst bereits in private Aspekte unseres Lebens vorgedrungen ist. Über die Anti-Terror-Gesetze lässt sich zumindest sagen, es handle sich um außergewöhnliche Maßnahmen, die der Abwehr einer außergewöhnlichen Gefahr dienten. Die polizeiliche Überprüfung von Erwachsenen, die Umgang mit Kindern haben, wird hingegen als ganz normaler Vorgang dargestellt. Sind wir aber bereit, solche Eingriffe, die uns eine Illusion von Sicherheit geben, fraglos zuzulassen, werden auch andere Einschränkungen unserer Freiheitsrechte wohl kaum auf Gegenwehr stoßen.
 

„Warum sollen wir Angst vor Hasspredigern haben?“



Freiheit, nur ein Wort?
In Diskussionen über Meinungsfreiheit gibt es im Wesentlichen zwei Pole. Für die einen ist Meinungsfreiheit mehr als nur ein Recht – sie ist unabdingbar, damit wesentliche Fragen geklärt werden können, damit überhaupt ein zivilisiertes öffentliches Leben möglich ist. Aus Sicht der Autoritäten hingegen ist die Meinungsfreiheit kein besonders hohes Gut. Bestenfalls gilt sie als Quelle der Verwirrung, schlimmstenfalls als Werkzeug der Subversion. Zwischen diesen beiden Positionen bewegen sich die Pragmatiker, die Meinungsfreiheit zwar für nützlich, in schwierigen Zeiten aber für verzichtbar halten.
Die Pragmatiker und die Autoritären, die von sich behaupten, sie sprächen für die gesetzestreue Mehrheit, bestimmen heute die Diskussion. Die Ansicht, dass zuviel Freiheit dem Krieg gegen den Terror schade, ist weit verbreitet. Wenn Politiker dazu aufrufen, unsere freie Gesellschaft gegen den Terrorismus zu verteidigen, dann meinen sie damit nicht die Meinungsfreiheit.
Seit einiger Zeit schon versuchen europäische Regierungen, die Meinungsfreiheit zu beschneiden. So sollte das Recht, Religionen in Frage zu stellen oder zu kritisieren, in Großbritannien durch ein Gesetz eingeschränkt werden, dass „die Aufstachelung zu religiösem Hass“ unter Strafe stellt. Vorgeblich sollte das Gesetz dazu dienen, Moslems zu schützen. Eigentlich ging es aber darum, eine freie und öffentliche Diskussion darüber, welche Rolle die Religion in der Gesellschaft spielen soll und darf, erheblich zu behindern. Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch in der Debatte über die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen. Hier wurde zwar hölzern die Meinungsfreiheit verteidigt, diese dann aber doch mit dem Hinweis auf die mögliche Verletzung religiöser Gefühle in ihre Schranken verwiesen.
Letztlich scheiterte zwar der Versuch der britischen Regierung, ein Gesetz durch das Unterhaus zu peitschen, dass es ihr in Zukunft ermöglicht hätte, „Hassprediger“ auszuweisen. Aber grundsätzlich ist die Frage nicht entschieden. Zweifellos gibt es einige Personen, die der Gesellschaft sehr feindselig gegenüberstehen und das auch klar und drastisch ausdrücken. Nur, warum soll uns ihr Hass so sehr verunsichern? Glauben wir, dass extremistische Ansichten ansteckend sind und jeden infizieren können? Glauben wir, dass junge Menschen so einfältig sind, dass sie eher auf Hassprediger hören als auf vernünftige Argumente? Oder ist es vielmehr so, dass wir gar nicht wissen, wie wir auf Aussagen reagieren sollen, die unsere Lebensweise in Frage stellen, da wir selbst nicht allzu genau wissen, wer wir sind und was wir wollen? Die obligatorische Beschwörung der Diversität, so scheint es, ist nur das Vorspiel dafür, all die wegzusperren, die ein wenig zu divers sind.
Die autoritäre Haltung der europäischen Regierungen in Sachen Meinungsfreiheit belegt ihre Orientierungslosigkeit und ihre Verunsicherung. Es scheint, als glaubten Politiker nicht daran, dass sie über Argumente verfügen, mit denen sie sich gegen ihre Gegner behaupten können. Parteien und Politiker, die an sich selbst glauben, würden ihre Widersacher mit Worten und Ideen angreifen. Die Eliten Europas hingegen haben sich dafür entschieden, Schadensbegrenzung zu betreiben und die Zugbrücke hochzuziehen.
Selbst die Universitäten, Orte des Wissens und der geistigen Auseinandersetzung, sind scheinbar nicht in der Lage, ihre Werte in freier Debatte gegen Extremisten zu behaupten. Im Juli 2005 mussten sich die britischen Hochschulen dem Krieg gegen den Terror anschließen und gegen extremistische Gruppen auf dem Campus vorgehen. Bildungsminister Bill Rammell erklärte, auch die Unis müssten dazu beitragen, die „Ideologie des Bösen“, die sich hinter den Bombenanschlägen von London verberge, zu bekämpfen. Zwar sei, so Rammell, Meinungsfreiheit wichtig, dennoch, fügte er hinzu, „ stehen [wir] auch in der Verantwortung, den Extremismus zu bekämpfen.“ Die Erfahrung lehrt, dass die offizielle Wahl zwischen Meinungsfreiheit und Verantwortung immer zu Ungunsten der Meinungsfreiheit ausgeht: Äußerungen werden verboten – Ende der Debatte.
Nur wenig später enthob die Universität von Middlesex den Vorsitzenden der dortigen Studentenvereinigung seines Amts, da er zu einer Versammlung eingeladen hatte, auf der Vertreter der islamistischen Partei Hizb-ut-Tahrir zu Wort kommen sollten. Für die Universitätsverwaltung war klar: Die Meinungs- und Diskussionsfreiheit einzuschränken ist der richtige Weg, um unsere Kultur zu verteidigen. Was ihr dabei entging, ist die Tatsache, dass solche Verbote vor allem die Angst vor einer Diskussion mit Islamisten zum Ausdruck bringen sowie die Unsicherheit darüber, ob man sich in einer solchen Diskussion werde behaupten könne.
In der Auseinandersetzung mit den Feinden der Demokratie scheint das britische Establishment Freiheitsrechte als Schwäche und nicht als Stärke zu verstehen. Die Chefin des Inlandsgeheimdienstes MI5 erklärte unlängst, dass „eine gewisse Einschränkung von Rechten, die wir schätzen, notwendig sein könnte, um die Chance zu erhöhen, dass unsere Bürger nicht in die Luft gesprengt werden“. Die Art und Weise, mit der hier „unsere Rechte“ gegen ein vages Sicherheitsversprechen eingetauscht werden, zeigt, wie gering das Vertrauen in die Demokratie sowie in die Demokratiefähigkeit der Bürger ist.


Negation von Politik
Der leichtfertige Umgang mit Freiheitsrechten erfolgt nicht aus böser und autoritärer Absicht. Vielmehr ist er die Reaktion einer Elite, der politisches Denken und politische Prinzipien fremd sind. Zwar wird gelegentlich ein offener, öffentlicher Schlagabtausch eingefordert und auch ausgefochten, gewissermaßen als Beweis dafür, dass wir unsere Rechte in guter Tradition wahrnehmen. Doch solche Äußerungen sind in der Regel nicht ernst zu nehmen; sie können es auch gar nicht sein, da so gut wie kein Politiker in der Lage wäre zu sagen, wofür unsere Gesellschaft steht und welche Werte er verteidigen will.
Gerade weil der Politik die Worte fehlen, geht sie Diskussionen aus dem Weg und will sich auf keine Auseinandersetzung einlassen, in der sie selbst Gedanken formulieren müsste. Die Sachzwänge der Sicherheit sind dafür ein bequemes Argument. Das erste Opfer einer Politik der Angst ist die Meinungsfreiheit.
Der Ausdruck „Politik der Angst“ impliziert zunächst, dass Politiker bewusst, um ihre Ziele zu erreichen, die Ängste der Menschen schüren. Zweifellos sehen sie in der Angst einen Faktor, der ihnen dabei hilft, sich Gehör zu verschaffen. Mit Panikkampagnen kann es gelingen, politische Gegner zu diskreditieren und die Wähler auf die eigene Seite zu ziehen. Bei der Politik der Angst geht es aber nicht einfach darum, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die politische Klasse ist selbst verunsichert und orientierungslos. Sehr oft werden deshalb auch die Politikprofis, von denen man meinen könnte, sie würden nur aus bloßem Kalkül Angst schüren, von eben dieser Angst überwältigt.
Die Politik der Angst ist eine Manipulationsstrategie, mit der Widerspruch zum Schweigen gebracht werden soll. Sie ist aber auch ein Pfeifen im Dunkeln, mit dem eine isolierte Elite von ihrer eigenen Verunsicherung abzulenken versucht.
Die Politik der Angst negiert die Politik. Im Unterschied zu einer Politik der Angst, wie sie von autoritären Regimes betrieben wird, verfolgt sie kein klares Ziel. Hinter den vielen kleinen Maßnahmen und Verordnungen, durch die in jüngerer Vergangenheit Freiheitsrechte eingeschränkt wurden, verbirgt sich kein durchdachter Plan. Die Politik der Angst hat für die politische Klasse aber dennoch eine wichtige Funktion: Durch sie entledigt sie sich des lästigen Zwangs, erklären zu müssen, wofür sie eigentlich eintritt. Dass unsere Freiheit nicht absichtsvoll von dunklen Mächten untergraben wird, sondern der allgemeine gesellschaftliche Stillstand sie nach und nach aushöhlt, macht die Sache jedoch nicht besser.

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