27.07.2012

Warum ich wieder Milch verschütten will

Analyse von Monika Bittl

Wie die echten „Typen“ und Charaktere langsam aus der Welt verschwinden und am Ende nur noch Feiglinge übrig bleiben. Die zunehmende Durchpsychologisierung unseres Alltags trägt maßgeblich zu dieser Entwicklung bei

Ich bin in einem kleinen bayerischen Dorf mit 500 Einwohnern aufgewachsen. Vom Bauern gegenüber holte ich morgens die Milch, nach der Schule trieb ich mich mit den anderen Dorfkindern draußen herum, sonntags ging man im feschen Gewand in die Messe, im Sommer badeten wir im Weiher, und an Weihnachten flog ein weißes Christkind mit Gaben am Fenster vorbei. Im Beichtstuhl roch es immer modrig, im Wirtshaus nach Zigarettenrauch, in den Ställen nach Mist und draußen im Frühling nach frisch gemähten Gras und im Herbst nach Heu.

Im Laufe meiner Kindheit habe ich mehrmals beim Überqueren der Straße die Milch verschüttet und bekam dafür von meiner Mutter geschimpft, mehr noch aber von der Bäuerin, die als Geizhals bekannt war und für einen verlorenen Pfennig noch einmal zehn Kilometer zurück zum Feld ging. Einmal war der Pfarrer während der Messe betrunken und bezog sich ausgerechnet in seiner Predigt darauf, wie Jesus Wasser in Wein verwandelte. Der „Dorfdepp“ brach beim Schlittschuhlaufen im Winter im Weiher ein und ertrank. Das Christkind hatte einmal meinen Wunsch vergessen und brachte statt der Puppe nur ein Spielzeugholzbesteck. Und ein Maurer aus dem Dorf erschlug eines Tages seine Frau, weil sie mindestens zehn Verhältnisse mit anderen Männern hatte.

40 Jahre später habe ich mein Dorf längst verlassen, bin selbst Mutter geworden und blicke von der Großstadtwohnung aus über die Häuserdächer auf die Alpen. 40 Jahre später stelle ich mir die Frage, wo die Wesen, Charaktere und Phantasiefiguren wie das Christkind meiner Kindheit geblieben sind. Nein, ich lehne Kulturpessimismus ab und halte die frühere Zeit nicht für besser. Nein, ich trauere meiner Kindheit nicht nach. Nein, ich idealisiere das Landleben nicht. Ich stelle nur erstaunt fest, dass sie aus meinem und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind, die „Typen“, die Charaktere, die Menschen.

Die Geschichte, so scheint es, hat die Charaktere verschluckt und aufgesogen. Sie wurden nach und nach von den Straßen gefegt, so dass wir heute im öffentlichen Leben nur noch „Saubermännern“ begegnen. Den Säufer von nebenan, den Behinderten (der damals noch Depp hieß und von uns Kindern gehänselt wurde), den dem weltlichen Genüssen zugeneigten Pfarrer, den aufklärerischen Lehrer, der Kinder unterprivilegierter Schichten auf das Gymnasium schickt – sie alle scheint es nicht mehr zu geben. Die Charaktere wie den Eifersüchtigen, den Neider, den Geizhals, den Wagemutigen, den Draufgänger, den Genießer, den eifrigen „Gschaftlhuber“ – sie alle verschwinden mitsamt ihren Begriffen immer mehr aus den Dörfern und Städten und unserem Bewusstsein. Nur einer jener Typen blieb übrig: Der Feigling.

Es war „gut gemeint“ und wurde sogleich handlungskompetent in eine Praxis übergeführt, was Sigmund Freud vor über hundert Jahren ins Rollen brachte. Beginnend mit der Hysterie, speziell der Weiber, wollte er das Individuum von dem Druck der „Abnormität“ entlasten. Er wollte all den bedauernswerten Wesen, die nicht mehr „richtig tickten“, die Schuld nehmen, sie von der Erbsünde frei sprechen. Denn noch zu jener Zeit wurden Krankheiten, auch psychische, als Strafe Gottes gesehen. Zugleich wurden damals wie heute „Krankheiten“ instrumentalisiert. Frauen, die gegen eine bürgerliche Enge mit Hysterie reagierten, wurden nicht selten vom eigenen Ehemann einfach weggesperrt und landeten im Irrenhaus, dessen Behandlungsmethoden uns heute eher an Folter denn an „Hilfe“ erinnern.

Kaum nachdem die Psychoanalyse mit ihrem revolutionären sexuellen Tabubruch geboren worden war, hatten die Menschen nicht mehr die Zeit, sich näher mit ihr zu beschäftigen. Erst zwei Weltkriege und einige Epidemien wie die Spanische Grippe später (sehr verkürzt gesagt), tauchte die Psychoanalyse wieder auf und wurde zum Shooting-Star. Man verfeinerte sie, variierte sie und baute auf den heimlichen Grundsätzen der Lehre ganz neue Methoden auf. Selbst der Behaviorismus, der sich gegen die Psychoanalyse stellt, fußt doch im Kern auf den von Freud aufgestellten Klassifizierungen der Seele – einer Seele, die es im öffentlichen Sprachgebrauch auch kaum mehr gibt und die heute als „Psyche“ in uns lebt.

Ich erinnere mich an diese Seele mit dem Modergeruch im Beichtstuhl. Ich rieche dazu das frisch gemähte Gras im Herbst rund um mein Dorf. Ich fragte mich eben, was die Nase eigentlich wahrnimmt, wenn man einen Menschen mit dem Beil erschlagen hat, wie damals der Maurer seine Frau. Und ich wünschte mir eben gerade eine gute Fee im weißen Kleid herbei, die mir vielleicht würde verraten können, was Dr. Freud zu uns heute sagen würde. Denn mir hat eben ein Teufel ins Ohr geflüstert: Aus seiner Traumdeutung wurde ein einziger Alptraum.

Hysterie und Angstneurose grassieren nicht nur wie eine Spanische Grippe mit Übertragung von Mensch und zu Mensch. Sie sind zum kollektiven „Normalzustand“ eines Individuums geworden, das sich neurotisch pathologisieren lässt. Was der Schweizer Psychologe Remo Largo für die Kindererziehung feststellte, lässt sich auf unsere ganze westliche Gesellschaft übertragen – wir sind kollektiv hysterisch. Übertrieben? Ich nenne einmal ein paar Beispiele.

Ich kenne kaum mehr ein Kind, dass nicht schon therapiert wurde. ADHS, Legasthenie oder Hochbegabung werden am Fließband diagnostiziert – Ergotherapien, Logotherapien und „Individualtherapien“ werden verordnet. Partner gehen in „Paartherapie“, wenn sie sich streiten, wie es Eheleute immer schon taten, wenn der Alltag die erste Verliebtheit einholte – und ich kenne nicht wenige, die darüber erst ihre „Defizite“ wie „Beziehungsängste“ entdeckten, die es fortan zu therapieren galt. Ratgeber zu jedem möglichen Problem des Alltags haben Hochkonjunktur. Speziell wenn es um den eigenen Körper geht, scheint der Erfindungsreichtum einer Problemsuche unermesslich. Zu jedem Jahresbeginn florieren neue Diät-Bücher, im Frühling stürmen Beziehungsratgeber die Bestsellerlisten, im Sommer lernen wir unser „Erschöpfungssyndrom“ durch Entspannungstechniken abzumildern, und im grauen Herbst nehmen wir gerne jedes gedruckte Wort gegen „Depressionen“ in die Hände. Steigt uns versehentlich der Zigarettenrauch des Nachbars in die Nase, sehen wir uns schon mit Lungenkrebs im Krankenhaus liegen.

Wir pathologisieren andere und uns selbst ständig und überall. Kollektiv und hysterisch. An der Sprache ist es festzumachen. Im Alltag sage ich nicht mehr: „Mei, bin ich heute traurig“, sondern: „Ich hab eine Depression, das kommt davon, weil ich mich so gehen ließ und meinen Jogging-Plan über den Haufen geworfen habe“. Wir machen unser „Unbewusstes“ dafür verantwortlich, wenn wir uns ein Bein brechen: „Vermutlich wollte ich ihn verlassen, aber ich traute mich wohl nicht wirklich, es ist doch kein Zufall, dass ich mir ausgerechnet jetzt das Bein gebrochen habe!“ Wir werfen auch im zarten Alter von 40 Jahren unseren Eltern noch eine Übertreibung unserer analen Phase vor, wenn wir ehrgeizig Pläne verfolgen.

Welches Ausmaß und welchen Stellenwert die Durchpsychologisierung unseres Alltags mittlerweile erreicht hat, zeigt sich noch mehr in der Sprache. Wir „beichten“ unserer Freundin, wenn wir „Diätsünden“ begangen und Schokolade genascht haben. Wir „büßen“ dafür, wenn wir am Vorabend zu viel Alkohol getrunken haben. Wir erlebten die „Hölle“ mit diesem hochneurotischen Partner, wir „fasten uns rein“ und „beten“ uns gesund.
Die Psychologie wurde – eng verbunden mit dem Gesundheitswahn – unsere neue Ersatzreligion. Durch ihre Brille sehen wir uns nicht mehr als Individuen, die als solche mit all ihren Stärken und Schwächen Teil der Gesellschaft sind, sondern nur noch als „Normabweichler“. Stärker hätte Orwell nicht zuschlagen können, tiefer wäre eine Aufklärung im kantschen Sinn individuell nicht zum Scheitern verurteilt gewesen. Besser könnte keine wie auch immer geartete Religion funktionieren.

Wir unterstellen vor allem gerne den sogenannten „unteren Schichten“ ein mangelndes psychologisches „Bewusstsein“ und erheben uns als vermeintliche Mittelschichtselite darüber. Denn wir alle haben Freud light intus, beten die ganze Psychologie gerne rauf und runter und schämen uns für Neurosen, Phobien und Ängsten, die wir nicht rechtzeitig in Therapien bekämpfen.

Mehr noch: Wir sind uns all dessen ständig bewusst und sehen die Diskrepanz zwischen diesem eigenen Anspruch und unserer Lebenswirklichkeit. Das gibt erst recht einem jedem von uns das Gefühl, das derzeit ganze Generationen prägt. „Ich bin ein Versager“, denkt sich jeder heimlich und versucht dies so gut wie möglich zu vertuschen. „Ich bin ein Versager“ sagen wir uns täglich auf, wenn uns keiner beobachtet. Als Mutter, als Geldverdiener, als Sozialmensch. Die politischen Implikationen dazu liegen auf der Hand, sie führen zu Handlungsunfähigkeit und Stillhalten in Schuldgefühlen – auf diesen Aspekt jetzt hier weiter einzugehen, würde aber zu weit führen, so nahe er liegt.

Ich sehne mich nach den Typen meiner Kindheit, die selbstbewusst, geizig, eifersüchtig oder auch genusssüchtig waren. Die geizige Bäuerin, der eifersüchtige Maurer und die strenge Mutter gaben sich nicht der internalisierten Selbstzerfleischung hin, die aus uns angstbesetzte Schafe statt mündige Bürger macht, die über ihren eigenen „Versager-Tellerrand“ hinaus blickend auch bisweilen über sich und andere lachen können. Menschen, die nicht in der ständigen Auseinandersetzung ihrer Psyche versinken, sondern über sich selbst hinaus auch die Gesellschaft und die Politik noch im Blick haben. Typen, die ihren Charakter hinnehmen und nicht andere und sich selbst ständig verbessern wollen.

Soll mich meine Mutter doch schimpfen, wenn ich die Milch verschütte, ich hatte einfach einen anderen Weg ausprobiert, und der war holprig. Soll der Pfarrer bei der Predigt doch wieder betrunken sein, endlich hab ich den Meinen etwas zu erzählen. Soll es doch endlich im Wirtshaus wieder nach Rauch riechen – da treffen sich noch Charaktere und nicht bloß Funktionsträger eines Systems. Sollen die Kinder doch vergebens etwas vom Christkind erwarten – Hauptsache es gibt sie noch, dieses Phantasiewesen, und vor allem diese realen Charaktere, ohne die sich ein Leben nicht lohnen würde. Denn ohne Neider, Geizige, Liebende, Rachsüchtige, Eiferer, Angeber, Zauderer, Wagemutige und die Feen unserer Phantasie hätten wir uns keine Geschichten mehr zu erzählen, sondern nur noch Regierungserklärungen, Börsenberichte und Diagnosen mitzuteilen.

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